- Hier leben die Löwen
Von besonderen Menschen und wilden Tieren, vom Glauben, Denken und Erkennen: Sibylle Lewitscharoff erschließt ihren Lesern auch in ihrem jüngsten Werk "Blumenberg" neue Wirklichkeits-Dimensionen
In Klagenfurt war es im Frühsommer 1998 heiß und schwül. Die Jury, die Autoren und das Publikum der «Tage der deutschsprachigen Literatur» wirkten erhitzt. Dies umso mehr, als die Autorengruppe in diesem Jahr exzellent besetzt war. Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Kathrin Schmidt, John von Düffel oder Michael Lentz traten im Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis gegen eine Riege noch Unbekannter an – ein öffentlicher Schaukampf, der es in sich hat: Wer diesen Preis gewinnt, kehrt nicht nur mit einer Menge Geld zurück, er kann sich der gesteigerten Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit sicher sein.
Am Nachmittag des zweiten Lesungs-Tages dann waren sich plötzlich alle sicher, soeben die Preisträgerin gehört zu haben. Kathrin Schmidt hatte eine phantastisch-sinnliche Episode aus ihrem Jahrhundert-Roman «Die Gunnar-Lennefsen-Expedition» gelesen, der Beifall war stürmisch und einhellig – ein Auftritt, nach dem der Nächste es besonders schwer haben würde. Doch schien die Autorin, die nun am Mikrofon Platz nahm, von stoischem Temperament: Sibylle Lewitscharoff, 44 Jahre alt, studierte Religionswissenschaftlerin, im Zivilberuf Buchhalterin in der Werbeagentur ihres Bruders, daneben Verfasserin von Hörfunk-Features sowie eines in einem winzigen Münsteraner Verlag erschienenen Buches mit dem Titel «36 Gerechte». Sie begann mit dem Satz: «Einem Verrückten gefällt die Welt, wie sie ist, weil er in ihrer Mitte wohnt.» Die Rede war im Folgenden von einem Mann namens Pong, der Kopfgeburt einer Schizophrenen; wie nicht anders zu erwarten, führt Pong ein absonderliches Eigenleben. Zielbewusst, dicht und schnell ging es in dessen Gedankengänge hinein: in Pongs Sorgen («dass man durch seinen Nabel Frost einbläst»), seine ebenfalls zahlreichen Freuden («dass die Welt in allen ihren Einzelheiten eine Botschaft für ihn bereithält») sowie seine selbst auferlegten Pflichten, etwa, «seine Börse verschlossen zu halten. Die lässt er sich nicht nehmen und beantwortet sie mit der Pflicht, sich zur Not eine Frau zu ersparen».
Dies war der letzte Satz, und danach war klar, dass die Entscheidung über den Bachmann-Preis 1998 zwischen Kathrin Schmidts schier überbordendem Erzählen und der extrem genau austarierten, dabei nicht minder poetischen und sinnlichen «Pong»-Geschichte ausgehen würde. Sibylle Lewitscharoff gewann den Bachmann-Preis mit der knappest möglichen Mehrheit – eine der furchtlosesten und zugleich formbesessensten Autorinnen der kommenden Jahrzehnte hatte die literarische Bühne betreten.
Dreizehn Jahre später stehen mit dem 1998 erschienenen «Pong» sechs Romane sowie zehn bedeutende Literaturpreise für Sibylle Lewitscharoff zu Buche – in diesem Herbst könnten es derer elf werden, denn ihr jüngster Roman «Blumenberg» befindet sich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zwischen «Pong» und «Blumenberg» aber liegen literarisch bewegte Zeiten, in denen die Autorin ihren Radius sowohl thematisch als auch formal immer mehr ausgeweitet und mit dem jüngsten Buch nun so etwas wie ihr Meisterstück abgeliefert hat.
Ein Abenteuerroman mit ausgeprägter Lust am Nonsens, versehen mit Illustrationen der Autorin, war 1999 erschienen: «Der höfliche Harald» ließ schon im Titel eher an den «Struwwelpeter» oder einen Cartoon der Satirezeitschrift «Titanic» denken, die Namen der Protagonisten – «Käpt’n Drago» mitsamt dem Mäuse-Trio «Sidonie-Isabell», «Sidonie-Karamell» und «Sidonie-Grisaldine» – forcierten diesen Eindruck. Und zeigten damit schon früh an, dass hier eine Autorin zu Werke ging, die von ihren Lesern in jedem Fall Sinn für Ironie, nicht selten aber auch Lust an einem durchaus schlagkräftigen Humor erwartet. Nach ihrem 2009 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman «Apostoloff» jedenfalls konnte daran endgültig kein Zweifel mehr bestehen. Diese wüste Suada, mit der die bulgarischstämmige Erzählerin des Buches über das Bulgarien der Vor- wie der Nach-Wende-Zeit mit all seinen Eigenarten und Zurückgebliebenheiten hinwegfährt (und den Selbstmörder-Vater, dessen Urne in Bulgarien bestattet werden soll, gleich mit in Grund und Boden karikiert), konnte nur genießen, wer auch an gröberen Humor-Taten Vergnügen hat.
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Die 2003 und 2006 erschienenen Romane «Montgomery» und «Consummatus» wiesen demgegenüber auf eine andere, ernste Besonderheit dieses Erzählens: In seinem Zentrum steht immer der Tod. So kehrt in «Consummatus» die Hauptfigur, ein Stuttgarter Studienrat, aus dem Totenreich zurück und beschwört in einer grandiosen Schnaps-Orgie große Tote wie Andy Warhol, die «Velvet Underground»-Sängerin Nico oder Jim Morrison – Popgeschichte wie griechische Mythologie werden beim Leser als spezifische Interessensgebiete vorausgesetzt und genüsslich bedient. In «Montgomery» wiederum nimmt diesen Platz die Film- und die NS-Geschichte ein, wenn der Held Montgomery Cassini-Stahl, ein in Rom lebender Filmproduzent, «Jud Süß» neu zu verfilmen versucht und neben einem Brudermord allmählich die NS-Verstrickungen seiner Familie aufgedeckt werden.
Die Literaturkritik zeigte sich beiden Romanen gegenüber gespalten. Wo die einen sich vor dem Einfallsreichtum und der unerschrockenen Erzählkraft der Autorin verneigten, bemängelten andere die Neigung zur stilistischen Überdrehtheit sowie einen Drang zu überschießender Wissensmitteilung. Denn dies muss als dritte Komponente in Sibylle Lewitscharoffs Schaffen ebenfalls festgehalten werden: Die Autorin ist bestürzend gebildet, und was sich an Wissen in ihrem Kopf befindet, das mutet sie mit diebischem Vergnügen auch ihren Lesern zu.
Furcht allerdings vor allzu viel Rage oder einem Übermaß an Bildungsgut ist hier dennoch nicht angebracht. Von Buch zu Buch steckt Sibylle Lewitscharoff zwar ihre Ziele höher und erhöht den literarischen Schwierigkeitsgrad – doch scheint das Ergebnis darüber immer leichter, federnder, beschwingter zu werden: Alles gerät hier ins Schweben – biederer Realismus war Sibylle Lewitscharoffs Sache schon von Anfang an nicht. Wer sich jedoch dem Gang der ungewöhnlichen Ereignisse anvertraut, von denen hier erzählt wird, wird mit Blicken auf scheinbar Bekanntes belohnt, die unweigerlich dann auch die eigenen Alltags-Ansichten beeinflussen: Er schaut mit der Autorin in den Hades ebenso wie auf Verhaltensweisen, Charaktere und Gegebenheiten, denen eine gewisse Verrücktheit, zumindest aber Verdrehtheit anhaftet. Deren Komik springt ins Auge – und doch geht von dieser Prosa etwas eigentümlich Tröstliches aus.
Der Grund dafür mag im grundsätzlich ironisch-sympathisierenden Blick liegen, in dem absonderliche Menschen und deren Verhältnisse lebendig werden. Dass allerdings der Trost: das Trost-Bedürfnis wie die verzweifelte Trost-Unfähigkeit des Menschen, selbst einmal das Herz eines Lewitscharoff-Romans bilden würde, hätte man dennoch nicht unbedingt vermutet – zwischen dem bärbeißig auftrumpfenden «Apostoloff» und dem jüngsten Roman «Blumenberg» liegt ein großer qualitativer Sprung.
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Dabei ist natürlich auch dies kein realistischer Roman, keine Roman-Biografie etwa über den Philosophen Hans Blumenberg, der das Denken der Nachkriegszeit neben Heidegger und Wittgenstein, Habermas und Luhmann maßgeblich prägte. Als Romanfigur erscheint der Philosoph, obwohl alle biografischen Daten exakt sind, vielmehr von der ersten Szene an bereits ins leicht Meta-Physische entrückt: Gerade spricht er noch in einer Mainacht des Jahres 1982 wie gewohnt seine Überlegungen ins Diktiergerät, da liegt plötzlich ein Löwe auf dem Buchara-Teppich des Arbeitszimmers. Ein böser Streich? Oder ist die Wahrnehmung morgens um drei möglicherweise nicht mehr ganz auf der Höhe? Oder wird ihm mit dem Erscheinen des Königs der Tiere womöglich eine Auszeichnung zuteil? Gefasst, wie sein Denken es verlangt, macht sich Blumenberg an die Erkundung des Löwen-Phänomens.
Wo frühe Landkarten das noch nicht erforschte, nicht zivilisierte Territorium mit der Aufschrift «Hic sunt leones» – «Hier leben die Löwen» – kennzeichneten, verhält es sich bei diesem Löwen gerade umgekehrt: Seine kreatürliche Würde nebst all seiner kunstgeschichtlich verbürgten Symbolkraft adelt den begrenzten physischen Raum des Gelehrten, Natur und Kultur verbinden sich durch die Anwesenheit des nicht-domestizierten Haustiers zu einem neuen, unvermischten Ganzen. Am folgenden Tag im Hörsaal wird sich dann zeigen, dass der Löwe nur von Blumenberg selbst gesehen werden kann. Nur in der Begegnung mit einer rigorosen alten Nonne trifft er auf noch einen Menschen, der den Löwen als seinen Begleiter erkennt.
Im Zeichen des Löwen steht von der Erscheinungs-Nacht an unversehens alles, was der Philosoph denkt. Sibylle Lewitscharoff lässt Blumenberg die Kunst- und Kulturgeschichte aufblättern, lässt ihn gedanklich zu seinen Leidenserfahrungen als Sohn einer jüdischen Mutter im NS-Reich zurückkehren; er unternimmt eine Studienreise nach Ägypten, dann wieder räsoniert er über seine philosophischen Konkurrenten und bringt neben Bibel-Studien auch seine eigenen Löwen-Ansichten zu Papier (wie sie im Bändchen «Löwen» posthum tatsächlich erschienen sind). Nachdem auch die früh tödlich endenden Lebensgeschichten vierer Studenten Blumenbergs in leuchtenden Farben erzählt sind, finden alle Protagonisten sich schließlich in einer Höhle wieder: einem Zwischenreich, in dem die jüngst Verstorbenen ihren Übergang in einen anderen Zustand bedenken – hier dient der Löwe seinem Philosophen als bequeme Rücken- und Nackenstütze. Ein «Zuversichtsgenerator» war ihm zu Lebzeiten das mächtige Tier: «Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin.» Doch auch den Leser weht je länger, desto deutlicher ein ebenso tröstlicher Gedanke an: Vielleicht ist er der letzte Leser, der alle Erscheinungen in der Literatur für wahr nehmen darf, wenn sie ihm nur so kunstsinnig real vor Augen gestellt werden? Der Roman selbst also gewissermaßen als der Löwe des Lesers?
Dass hier in der phantastischen Lebensgeschichte eines Denkers eine ganze Welt zwischen Münster und Manaus, Kairo und Berlin, zwischen Wittgenstein, der Bibel und Goethe eröffnet wird, ist freilich keine Zauberei. Es ist vielmehr die federleicht erscheinende Arbeit der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Wir sind gewiss, dass sie beim Schreiben einen Löwen neben sich hatte.
Sibylle Lewitscharoff: "Blumenberg"; Suhrkamp, 2011; 220 Seiten, 21,90 Euro
Dieser Artikel ist auch erschienen in der Ausgabe Oktober/November 2011 des Magazins "Literaturen"
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