- Dilettantismus allüberall
Schamlos und ungebildet, banal, überheblich und ordinär: Das Sprechtheater liegt darnieder. Es ist höchste Zeit, dass es wieder zu einer Kathedrale des Besonderen wird
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.
William Shakespeares „Coriolanus“ ist ein Stück, das nicht oft aufgeführt wird – vielleicht, weil der Titelheld ein ziemlich arroganter Schnösel ist, der zwar alle Schlachten und Kriege gewinnt, aber das Volk, zu dessen Wohle er dies zu machen behauptet, grenzenlos verachtet. Er hält es für dumm, faul und bequem. Wenn man dieses Werk inszeniert, sollte man wissen, warum.
Im Deutschen Theater Berlin kam es vor Weihnachten 2012 heraus, und der Regisseur, dessen Namen zu nennen hier zu viel der Ehre wäre, hatte offenbar weder Lust auf dieses Drama noch Interesse an der Thematik. Er hat es einfach – verspielt (und die bedauernswerten Darsteller in den Untiefen seiner Nicht-Einfälle scheitern lassen).
Nun wollen wir allerdings nicht vergessen, dass von den damaligen Schauspielern ebendieses Deutschen Theaters im Jahr 1989 die große Demonstration organisiert wurde, die am 4. November auf dem Alexanderplatz stattfand und im Zuge derer die Angst der Bürger vor ihrer Regierung endgültig verschwand. Wenige Tage danach fiel die Berliner Mauer.
Sagen wir es so: Im Theater ist – vom gewaltigen Blödsinn bis zur intellektuellen Emphase – alles möglich. Seine gesellschaftliche Relevanz erweist sich, wie in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auch, in der Qualität seiner Hervorbringungen.
Wenn gelangweilte, ungebildete, überhebliche Regisseure mit schlecht gewaschenen Fingern an Texten herumfummeln, die sie gar nicht interessieren und die sie deshalb auf ihr banales geistiges wie emotionales Niveau herunterbrechen, ist das Theater daran nicht schuld. Es kann nichts für einen künstlerischen Horizont, der sich zwischen „Sesamstraße“ und Facebook bewegt – und das nicht als Mangel empfindet, sondern sich damit „voll im Trend“ fühlt.
Es kann auch nichts für Stückfassungen, die mit den Originalen kaum noch etwas zu tun haben, dafür mit Fremdtexten, Filmeinblendungen und Musiktiteln aus der gerade bevorzugten Playlist des jeweiligen Regisseurs zugeknallt sind. Oder wenn diese unsäglichen Spielvögte ihrem Ensemble nichts anderes abverlangen, als baldigst Hemd und Hose auszuziehen, mit blankem Hintern durch den Kartoffelsalat zu robben oder erst mal in irgendeine Ecke zu kotzen, per Videokamera riesig auf die Bühnenrückwand übertragen. Die Ekeldebatte über das Unwesen des „Regietheaters“ ist inzwischen wieder abgeflaut, aber nicht das, was sie ausgelöst hatte: dreiste Eingriffe in Stücke, Verletzungen von Sinnzusammenhängen, kalkulierte Schweinigeleien, um möglichst auffällig in die Feuilletons zu gelangen.
Neben diesem rein äußerlichen Versuch von „Épater le bourgeois“ (ohne mal darüber nachzudenken, wer heute solch ein Bourgeois sein könnte, den man brüskieren will, und ob man nicht froh sein sollte, wenn er seine Eintrittskarte, sein Abonnement bezahlt) gibt es freilich die innere Auszehrung, die man höflicherweise als Blässe des Gedankens, ebenso als Dämlichkeit und Präpotenz bezeichnen könnte – wenn da nämlich Texte zerschlagen werden und das blindwütige Massaker als „Dekonstruktion“ verhübscht wird, um zu verschleiern, dass die Texte in Wahrheit einfach nicht kapiert wurden.
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Was in den Kunstmetropolen wie Berlin, Hamburg, München oder Wien mit viel Aufwand unter speziellen Umständen eventuell irgendwie und dank hervorragender Schauspieler durchrutschen kann, wird auf den kleineren Bühnen normalerweise zum Desaster.
Eine Inszenierung „à la Frank Castorf“, „à la Armin Petras“, „à la Jürgen Gosch“ in der Provinz kann verheerend sein, denn sie senkt maßgeblich nicht nur das Niveau des regionalen Theaters, sondern verdirbt überdies die Perspektive des Publikums: Die einen bleiben weg, weil sie sich nicht für doof verkaufen lassen wollen und unterfordert fühlen, die anderen glauben, es müsste immer und alles so sein – und steigen aus, wenn sie an einem nächsten Theaterabend ein bisschen inhaltlich wie formal gefordert und vielleicht auch im vollen Ernst angesprochen werden.
So treffen sich Produzenten und Rezipienten oft auf dem kleinsten gemeinsamen Niveau: Die einen führen vor, was sie sich – „Geht doch!“ – in Fernsehformaten abgeschaut haben, die anderen, die nicht mehr zu begreifen, zu beobachten, zu dechiffrieren gelernt haben, nehmen das gerne an – „Danke, Anke!“
Und nachdem die Regisseure das anspruchsvolle Publikum aus dem Theater gejagt und mit ihren Eskapaden sämtliche Stücke, Figuren, Konflikte und den Respekt vor einem Text zerstört haben, rennen sie ins Kino, heulen bei einem Hollywood-Schinken, in dem es all das noch gibt – eine Geschichte, Dialoge, Figuren, dazu große Gefühle, kluge Gedanken, berührende Probleme. Ich kriege akute Hassschübe, wenn mir Theaterleute erzählen, um wie viel lieber sie Filme sehen als Theater. Kein Wunder, haben sie es doch selbst in Bausch und Bogen ruiniert!
Bei Inkompetenz werden Politiker durchaus abgewählt, Fußballer kommen auf die Ersatzbank, aber im Theater sind unbegabte Regisseure – ich sage bloß Christoph Schlingensief! – oft blendend im Geschäft. Zu erklären ist das höchstens dadurch, dass sie mit ihren wohlkalkulierten Sujets – „Kühnen ’94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ heißt es einmal bei Schlingensief – und mit ihrem schamlosen Bühnenbohei eine riesige Medienresonanz auslösen und so einerseits soziale Relevanz simulieren, andererseits für nicht minder mediengeile Intendanten zu Quotenbringern werden: Besser ein Verriss als nicht beachtet.
Obwohl sie es gar nicht müssten, da sie ökonomisch im Prinzip unabhängig sind, tun Intendanten oft so, als hätten sie sich der viel beschworenen Quote, die uns das Fernsehen eingebrockt hat, zu unterwerfen. Warum setzen sie auf Quantität statt auf Qualität? Vielleicht, weil sie oft besser rechnen als schauen können und nackte Zahlen sich leichter rechtfertigen lassen als künstlerische Risiken und kreative Herausforderungen – für die sie indes eigentlich ihre Subventionen erhalten. Wo ist ein Intendant mit Mut zum Abenteuer, zur eigenen Meinung, zur intellektuellen Widerspenstigkeit? Wo ist einer mit einem eigenen Kopf und mit eigenen Gedanken? Ich kenne nicht alle, aber ich sehe keinen.
Ja, ja, ja, ich weiß, Intendanten haben es im Allgemeinen schwer und müssen sich mit vernagelten Politikern und diversen finanziellen, innerbetrieblichen und sonstigen lästigen Hindernissen herumschlagen. Allerdings sind sie auch diejenigen, die entscheiden können – und müssen. Und die nicht a priori dazu gezwungen sind, immer das Gleiche zu veranstalten.
Macht uns nicht dümmer, als ihr seid und wir sind! Lasst uns die Theater wieder als Kathedralen des Besonderen erleben! Rettet sie aus den handelsüblichen Komfortzonen! Man müsste die Quoten-Häscher von den Bühnen treiben, die Heimeligkeit aus den Foyers und die Selbstzufriedenheit aus den Sälen: Denn erst wenn wir in einer Aufführung vergessen, dass wir Hunger und Durst haben, unbequem sitzen und den letzten Bus versäumen werden, ist sie gelungen und hat uns mehr geschenkt als all die konsumorientierte Gemütlichkeit.
Das Problem an der Debatte, die schlechtes Theater, dusselige Regisseure und unfähige Intendanten auslösen, ist freilich: Wenn es in einer Saison ein paar schlechte Filme gibt, zweifelt niemand an der Existenzberechtigung des Kinos. Nach einem schlechten Bücherherbst ruft niemand das Ende der Literatur aus. Ja, selbst wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen Schweden 4:4 „verliert“, wird höchstens ein neuer Trainer eingefordert, aber nicht die Abschaffung des Fußballs verlangt.
Als Theaterkritikerin gefragt, ob das Theater eine soziale Relevanz hat, möchte ich am liebsten freiheraus „Warum nicht?“ erwidern. Sage ich jedoch Ja, müsste ich erklären, warum ich mich oft ärgere, wenn eine Aufführung zu Ende ist und wieder rundherum belanglos war. Sage ich Nein, müssten mir ein paar gute Gründe einfallen, warum das Theater trotzdem häufig so tut, als ob: Als ob es der Gesellschaft einen Spiegel vorhielte, als ob es die richtigen Fragen zu stellen wüsste, wie man gerechter, freier, schöner leben könnte, als ob es unter Umständen – die Form ist die Botschaft – sogar ein paar Antworten bereit hätte. Das Theater ist natürlich nicht trefflicher als die Gesellschaft, die es hervorbringt. Warum erwarten wir aber genau das von ihm? Ganz einfach: Weil wir es brauchen.
Irene Bazinger ist Theaterkritikerin
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