- Die Welt ist eine Falle
David Albahari erzählt vom Balkan der Gegenwart
Auf einmal ist nichts mehr so, wie es einmal war: Die Vergangenheit erscheint in neuem Licht, die Gegenwart verrätselt sich, und die Zukunft – das ist spätestens am Ende des Buches klar – wird für immer von den Ereignissen dieser Tage überschattet sein. Zunächst ist es nur ein Brief, der einem serbischen Schriftsteller in Belgrad zugestellt wird. Er lebt in einer mit alten Möbeln zugestellten, düsteren Wohnung, in der er sich nach der Trennung von seiner Frau, einer Frauenärztin, vergraben hat. Als Buchautor hat er es mit dem autobiografischen Roman „Das Leben eines Verlierers” zu einigem Ansehen gebracht. Darin schilderte er den frühen Tod seiner Schwester, den Verlust der Eltern, seinen Alkoholismus und seine Einsamkeit. Der Brief ist unterzeichnet mit „Dein Bruder Robert”, doch von einem Bruder hat er bis dahin nichts gewusst. Es sieht so aus, als müsse er seine Autobiografie neu schreiben.
Filip heißt dieser Schriftsteller, der für den 1994 nach Kanada emigrierten jüdischen Serben David Albahari vielleicht so etwas ist wie eine zurückgelassene, aufgegebene Existenzmöglichkeit. Die in sich selbst vergrabene Existenz eines Mannes, der sich nur als einen Gescheiterten wahrnehmen kann, wäre womöglich auch sein Schicksal gewesen, wenn er im Land geblieben wäre. Doch die zunehmende Zwangspolitisierung seiner Arbeit und seines Lebens, die nationalistischen Frontstellungen, die ihm keinen Freiraum mehr ließen, haben ihn gezwungen, Serbien zu verlassen. Dessen Geschichte wie diejenige des Balkan hat ihn dennoch nicht losgelassen. In seinen Büchern setzt der Schriftsteller sich weiterhin mit dem Krieg und dessen Folgen, aber auch mit dem Leben im Exil auseinander. So wird der in Belgrad zurückgebliebene Filip im neuen Roman nun mit einem Bruder konfrontiert, der im Ausland lebt.
David Albahari erzählt die Geschichte dieser Brüder allerdings merkwürdig umwegig und stockend. Filip berichtet sie einem befreundeten und offenbar erfolgreicheren Schriftsteller, und der wiederum ist es, der Filips verstörten Monolog in indirekter Rede wiedergibt, mit allen Abschweifungen, Brüchen und Verzögerungen. Es dauert schon recht lange, bis Filip den Brief des Bruders überhaupt einmal öffnet, bis er die richtige Sitzposition gefunden hat und die wenigen Sätze zu lesen beginnt. Sofort schieben sich Erinnerungen an die Familie dazwischen und damit auch der Schmerz über eigene Versäumnisse. „Wenn er gut überlege, sagte er, habe er die Eltern nach fast nichts gefragt, denn wir lebten so, als würden wir ewig leben und bedächten nicht, dass die Welt eine große Falle ist, die danach trachtet, uns das Leben auf jede erdenkliche Weise zu verkürzen, aber wenn das geschähe, sei es bereits zu spät.”
Wie wahr diese Worte sind, zeigt sich erst im weiteren, dramatischen Verlauf, in dem der Bruder tatsächlich in Erscheinung tritt. Das „Brioni”, in dem die Begegnung stattfindet, war früher eine finstere Absturzkneipe, in der Filip seine Alkoholexzesse durchlebte. Jetzt ist es zu seinem Erstaunen zu einem hell ausgeleuchteten Edelrestaurant geworden. Schubweise, stockend, das eigene Entsetzen mit minutiösen Schilderungen überspielend, setzt Filip seinen Bericht fort. Der Bruder, der zunächst mit dem Hinweis auf eine Arbeit über Phantasie und Fakten bei Jorge Luis Borges sowie weiteren recht dicken Büchern Eindruck schindet, offenbart sich dabei mehr und mehr als ein höchst eigenartiges Wesen, das mit schrillem Gelächter, trommelnden Fäusten, manischen Ausbrüchen und auf die Tischplatte gelegter Stirn die Gäste im Restaurant gegen sich aufbringt. Seine Verstörung resultiert, wie könnte es anders sein, aus der Familiengeschichte, glaubt er doch, als Säugling von den Eltern verkauft worden zu sein. Trotzdem ist es nicht nur für Filip ein Schock, als der Bruder nach längerer Abwesenheit in Frauenkleidern, grell geschminkt, zurückkehrt.
Familienverhältnisse sind bei Albahari immer Spiegelbilder der gesellschaftlichen Zustände. Auch die beiden Brüder, die nicht zueinander finden können, sind Hälften einer zerbrochenen Identität, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Der in der Heimat Gebliebene hat andere Traumatisierungen und Verstrickungen zu verarbeiten als der, der sich in der Fremde behaupten musste. Ins Gespräch können sie noch kommen, doch gegenseitiges Verständnis ist unmöglich. Als Filip seinen Bericht schließlich abgeschlossen und die Wohnung des Ich-Erzählers verlassen hat, notiert dieser als letzte Einsicht: „Erst da erkannte ich, dass er sich wirklich verändert hatte. Solange er sprach, merkte ich das nicht, weil man sich hinter Wörtern verstecken kann wie hinter einer Spanischen Wand, wenn man hingegen schweigt, ist man ohne jeden Schutz.” So ist dieser bittere, unversöhnliche Roman ein Vorhang aus Worten, der zu verhüllen sucht, was sich nicht verbergen lässt.
David Albahari: Der Bruder. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling, Frankfurt am Main 2012. 170 S., 19,95 €
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