- Kollaps der Kritik
Man versteht die Literaturkritik nicht mehr: Bernhard Schlinks dumpfes Werk „Die Frau auf der Treppe“ wird hochgejubelt – und erklimmt Platz eins der Bestsellerlisten. Judith Hermann dagegen, die wenigstens schreiben kann, wird verteufelt
Laut wird es an immer mehr Stellen gesungen: das Lied vom mündigen Bürger. Ein kritisches Bewusstsein soll er haben, bei Tag und bei Nacht, damit ihm gierige Konzerne weder in die Taschen greifen noch ihn ausspähen und damit weder dumpfe Politik noch dreistes Ego-Marketing eine Chance haben. Wie aber soll Mündigkeit wachsen, wenn es keine Maßstäbe gibt? Wo soll das kritische Bewusstsein gedeihen, wenn der Kritik die Kriterien fehlen?
Ein erschütterndes Beispiel für den Verlust der Maßstäbe gibt derzeit die Literaturkritik ab. Hier, dürfte man meinen, wird das Gedruckte gewogen, ein jedes nach seiner Art. Auf den Tellern mit den Gewichten liegen Originalität, sprachliches Vermögen, Dramaturgie und Fabel, sodass es letztlich zwar über jedes Buch sehr viele Meinungen, aber nur den einen Korridor geben kann. Schrott bleibt Schrott, da helfen keine Begriffspillen. Weit gefehlt. Das ganze Debakel zeigt sich aktuell an der Aufnahme der beiden vorhersehbaren Bestsellerromane von Judith Hermann und Bernhard Schlink.
Banale Lexik, monotone Syntax
Man greife nur in eines der Bücher hinein und lese: „Dass Frauen immer hören müssen, was man fühlt!“ Oder: „Es ist schlimm genug, dass man, wenn krank, nicht funktioniert.“ Oder aber: „Meine Frau hatte alle Hilfe im Haus, die sie haben wollte, und überdies ein Auto, und was die Kinder für ihre Entwicklung brauchten, bekamen sie, auch wenn sie nur meinten, sie bräuchten es, und dann doch nicht brauchten.“ Welchen Maßstab auch immer man anlegen mag: Das ist keine literarische Sprache. Solche Sätze – allerschlichteste Umgangssprache, banale Lexik, monotone Syntax, passgenau für Diktiergerät oder Tresenschwank, Auslassungen inklusive – sind keine Romansätze. Ergo ist der Roman „Die Frau auf der Treppe“ von Bernhard Schlink kein Roman. Dass er nun den ersten Platz der „Stern“-Bestsellerliste erklommen hat, spricht keinesfalls dagegen.
Was aber säuselt die Kritik? „Die Zeit“ erkennt immerhin „trockene, lakonische Schlichtheit“, „Inhaltsliteratur“, über die sie nicht den Stab bricht. Ein Autor bei sueddeutsche.de erkennt eine spannende, flotte und witzige Geschichte, „das bessere Buch“ sei es als der Welterfolg vom „Vorleser“. Die „Deutsche Welle“ sieht eine „weitere Versuchsanordnung in Sachen Vergangenheitsbewältigung“, deren literarischen Rang sie unbesprochen lässt. Im RBB-Kulturradio heißt es, das Buch sei „gelungen“, Schlink habe „etwas zu sagen“, es sei „perfekte Lektüre für Menschen, die älter werden. Also eigentlich für uns alle.“ Eine andere Rezensentin beim selben Sender diagnostiziert gar Poesie.
Welchen Begriff von Poesie muss man haben, um dieses fast schon unverschämte Schlichtdeutsch für poetisch zu halten? Gar keinen. Die Begriffe werden einem subjektiven Wohlgefühl dienlich gemacht, dem sich alles unterordnet. Eine Sonne versinkt am Meeresstrand? Das muss „romantisch“ sein. Der junge Mann zeigt seinen Körper? Eine „klassische Szene“.
Judith Hermann ist zum Abschuss freigegeben
Umgekehrt fallen die letzten Reserven der Selbstbindung, ohne die Kritik nicht sein kann, im Falle Judith Hermanns. Die für ihre Kurzgeschichten eine Spur zu sehr gelobte Schriftstellerin wird für ihren ersten Roman „Aller Liebe Anfang“ ungespitzt in den Boden gerammt. Er mag ein betuliches, verzopftes Werk sein, Frauenliteratur der unangenehmen Art, doch im Gegensatz zu Schlink ist es ein Roman. Ein mittelmäßiger, vielleicht ein schlechter Roman, aber gewiss ein Roman.
Wo Schlink jedoch Schonung erfährt und schlimmstenfalls Ironie, ist das Büchlein von Hermann zum Abschuss freigegeben. Der „Deutschlandfunk“ erklärt „Aller Liebe Anfang“ zum „Buch der Woche“, um dann mitzuteilen, es bestehe vor allem aus „Bedeutungsscheinschwangerschaften“. Die Sprache sei „plump, kunstlos, aufgeblasen“. In der „FAZ“ hieß es knapp und total: „Judith Hermann hat zwei Probleme: Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen.“ Wie aber lauten dann Schlinks Probleme? Dass er nicht weiß, was Sprache ist und was gesagt werden kann? Dass Deutsch unmöglich seine Muttersprache sein kann?
Hier macht sich subjektivistischer Unernst breit: Der einen wird übel vergolten, woran der andere ungleich drastischer gescheitert ist. Samthandschuhe für Schlink sind objektiv gesehen ebenso falsch wie die Dampframme für Hermann. Woher also soll das Gespür für die Notwendigkeit von Kritik kommen, wenn die Kritik keine Maßstäbe kennt? Heiter spazieren wir der Ignoranz entgegen.
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe, Diogenes, Zürich, 2014, 256 Seiten, 21,90 Euro.
Judith Hermann: Aller Liebe Anfang, Fischer Verlag, 224 Seiten, 19,99 Euro.
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