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Christian Geisnæs

Nymphomaniac - Porno plus Lars

Blasphemischer Vulva-Kult, Rebellion gegen die Liebe, und trotzdem lachen die Leute. Lars von Triers Skandalfilm „Nymphomaniac“ wurde völlig missverstanden. Berlinale Tagebuch, Teil 4

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Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

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Sie kennen diese Szenen aus Katastrophen- und Apokalypsefilmen, oder? Wenn eine Menschenmenge sich, von irgendeiner Gefahr getrieben, langsam in Bewegung setzt, erst beherrscht, dann zunehmend unruhig, bis irgendwann einer losrennt. Und dann ein Zweiter. Und plötzlich gibt es kein Halten mehr, nackte Panik bricht aus, alles stürmt auf einmal los, ohne Gnade, mit Überholen, Schubsen, Rammen und Rufen. So war das am Sonntag auf der Berlinale, auf dem Weg zur Pressevorführung von „Nymphomaniac“ Teil Eins, dem Aufregerfilm des diesjährigen Festivals.

Die Dimension der Angst davor, einen schlechten, oder gar keinen Platz mehr im Kinosaal zu bekommen, spricht natürlich Bände über das erfolgreiche Vorabmarketing von Lars von Triers neuestem Depressionsepos. Die Trailer hatten einen Film versprochen in dem - nennen wir es beim Namen - wahnsinnig geblasen, gefickt und gepeitscht wird. Das allein erklärt im Prinzip schon die hohe Motivation des journalistischen Fachpublikums. Und Porno plus Lars von Trier heißt natürlich: Man darf, ja muss den Film sogar gucken. Der Regisseur, muss man fairerweise dazu sagen, ist ja tatsächlich noch immer das Synonym für alles was krass, wild, aufregend, groß und ernst im europäischen Kino ist. Darum also, rannten die Menschen. Rannten sie denn zu Recht?

Such nach dem Heiligen, Suche in der Horizontalen


Nymphomaniac ist im Kern die sexuelle Reiserückschau der 50-jährigen Joe (Charlotte Gainsbourg). Wir begegnen ihr ramponiert und blutend in einer verregneten Gosse, wo sie der alte Buchhalter Seligmann (Stellan Skarsgard) findet, und bei einer heißen Tasse Tee in seiner Junggesellenwohnung wieder aufpeppelt, während sie ihm in vorerst fünf Kapiteln ihr Leben schildert. Es ist die Geschichte eines Mädchens (Stacy Martin), deren Suche nach dem Geheimnisvollen und Heiligen frustriert wird, bis sie es schließlich mit wissenschaftlicher Akribie in der Horizontalen zu suchen beginnt.

Sie lässt sich auf erniedrigende Weise vom lokalen KFZ-Mechaniker entjungfern, begründet mit einer Freundin einen blasphemischen Vulva-Kult, führt schließlich durch immer aggressivere, rücksichtslosere und egoistischere Sexualität eine „Rebellion gegen die Liebe“. Bald sind es so viele Männer, dass sie deren Namen durcheinanderbringt, echter Liebe wird sie im Laufe des folgenden Dramas nur einmal wirklich nahe kommen, als sie um ihren sterbenden Vater trauert. Ansonsten erlebt sie das, was sie für Liebe hält, als erniedrigenden Kontrollverlust, den es zu vermeiden gilt. Und als sie schließlich wieder lieben will, kann sie es nicht mehr. 

Dass dieser Film nicht primär erotisch oder gar lustig sein soll, liegt eigentlich auf der Hand. Zwar wird in der Tat viel gevögelt, der Sex ist graphisch und explizit, die Körper der Darsteller wurden dabei von Porno-Darstellern gedoubelt. Und tatsächlich ist das von Triersche Drehbuch wie so oft zutiefst ironisch. Aber wie bereitwillig das Publikum dann über jedes Stöckchen gesprungen ist, das von Trier ihm hingehalten hat, war dann doch fast rührend.

Wie die Menschen während der Vorführung pausenlos laut, ganz laut lachen mussten, vor lauter Aufregung über die eigene, grenzenlose Toleranz, und vor Erleichterung über das, was sie für Witze hielten. Und wie tapfer die Journalisten in der anschließenden Pressekonferenz immer wieder vom „Tabubruch“ sprachen, und davon, wie es „Lars“ gelungen sei, uns unsere eigene Prüderie vorzuhalten, durch seine, na was wohl: „Provokation“.

Lars von Triers Klageschrift gegen den hohlen Sexfetischismus


Was natürlich Quatsch ist. Die Leichtigkeit, mit der von Trier seine Geschichte erzählt, ist nichts anderes als einer seiner Zaubertricks. Er kaschiert damit, dass er es nach „Antichrist“ und „Melancholia“ auch im letzten Teil seiner „Trilogie der Depression“ wie immer verdammt ernst meint.

„Nymphomaniac“ soll kein Befreiungsschlag für unsere geknechtete Sexualität sein, dann schon eher eine Klageschrift gegen den hohlen Sexfetischismus der humanistischen Moderne. Es ist aber vor allem wieder eine Geschichte von grenzenloser Einsamkeit und namenlosem Selbsthass, ein faszinierender, meisterhaft inszenierter, wie immer hochgradig unterhaltsamer Schrei und Hilferuf des komplett genialen, tiefdepressiven Lars von Trier.

Nicht zu klatschen und bitte vor allem nicht zu lachen, ist eigentlich das Mindeste, was man ihm schuldig ist.

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