- Eskimos singen schräge Lieder
Warum der Berlinale-Eröffnungsfilm „Nobody wants the Night“ einen kalt und traurig macht
Da liegt eine Frau schwer atmend im Schnee, eine lange Doppelbüchse im Anschlag. Paff Paff, feuert sie los, ein rotes Rinnsal ergießt sich auf der weißen Landschaft. Sie hat „ihren ersten“ Eisbären erlegt – und freut sich darüber wie ein Kind an der Schießbude. „Park Avenue, was sagst Du jetzt?!“, ruft sie in die Kälte.
Die New Yorkerin Josephine Peary (Juliette Binoche) versinnbildlicht schon in der ersten Szene von Isabel Coixets „Nobody wants the night“, was der Eröffnungsfilm der Berlinale 2015 uns in den folgenden, sehr langen zwei Stunden erzählen wird: Die gar nicht mal so neue Geschichte des bornierten Westens in der Fremde, die am Ende die Zeche für die Lektionen seiner Besucher zahlen muss.
Die Dame im Schnee - von Juliette Binoche mit wunderbar altmodischer Contenance gespielt - ist die Gattin des historischen Arktis Forschers Robert Peary, der 1908 nach Grönland aufgebrochen ist, um als erster Mann den Nordpol zu erobern, und dort die amerikanische Flagge zu hissen. Seine Frau hat es sich nun in den Kopf gesetzt, ihm bis zu seinem letzten Camp hinterher zu reisen, um bei seiner Rückkehr die Siegesfreude mit ihm zu teilen.
Das ist ganz offensichtlich keine gute Idee. Der befreundete Arzt rät ihr energisch davon ab. Der Kapitän ihres Schiffes warnt sie vor der Reise. Die Eskimos wollen nicht mitreisen. Und der treue Trapper Bram (Gabriel Byrne), der die Expedition führen soll, hält den Ausflug für Selbstmord - zumal Wintereinbruch samt Polarnacht kurz bevorstehen.
„Tod kommt, wenn Sonne schläft“
Weil sie töricht ist, macht sich Josephine Peary trotzdem auf den Weg, Bram der Trapper und zwei Eskimos begleiten sie widerwillig. Mit Nerzkragen, Goldbesteck, einem Grammophon und italienischen Operetten reist sie gutgelaunt ins weiße Nichts – als führe sie Schlitten im Central Park.
Es wird relativ schnell unlustig. Bärte und Augenbraue frieren ein. Die Eskimos singen schräge Lieder. Der putzige Schlittenhund wird von einer Lawine erschlagen. Der treue Trapper bricht im Eis ein und erfriert. Und als sie schließlich das letzte Basiscamp erreichen, finden sie statt Robert Peary nur einen zurückgelassenen Kollegen mit abgefrorenen Fingern, der Blut pisst und wirres Zeug brabbelt, und ein paar zerzauste Innuit. „Tod kommt, wenn Sonne schläft“, warnen sie die New Yorkerin vor der wochenlangen Nacht des arktischen Winters, bevor sie alle in den Süden flüchten.
Zurück bleiben nur Josephine und ein Innuit-Mädchen namens Allaka (Rinko Kikuchi), die – wie sich bald herausstellt – das Kind des Robert Peary erwartet.
Damit steht dann eigentlich die sehr klassische Robinson-Crusoe-Konstellation. Die blöde Kuh von der Upper-Eastside, die lächelnden Naturphilosophin aus der Fremde, zu zweit in der Wildnis: Beste Voraussetzung für die vergnügliche Culture-Clash-Story von der emanzipierten Frau, die - herausgefordert von feindseligen Naturgewalten und exotischen Gebräuchen - über sich selbst hinauswächst, oder so.
Man hätte dann vielleicht noch Gipfel erklimmen, von Eisbären verfolgt werden, Seehunde jagen oder sich gegenseitig nach dem Leben trachten können. Das hätte genug abgeworfen für einen Abenteuerfilm, der einen vielleicht nicht gelangweilt hätte.
Betrübliches Kammerspiel
Natürlich kann man Isabel Coixets stattdessen zugute halten, dass sie die Erwartungen nicht bedient und die naheliegenden Klischees des Genres trotz des Ethno-Kitschs im dritten Akt des Films entschlossen umschifft.
Die Sonne geht unter, die Kohle geht aus, das Hundefleisch irgendwann auch, und auf einmal befinden wir uns nicht mehr in einem Abenteuerfilm, sondern in einem sehr betrüblichen Kammerspiel. Die Nacht ist gekommen, dabei wollte die – das sagt ja schon der Filmtitel – eigentlich keiner.
Dem Zuschauer mag die Nacht auch nicht so recht gefallen. Gefühlte Stunden sitzen wir mit den beiden gar nicht mal so aufregenden, wimmernden und bibbernden Frauenfiguren im Iglu, und schauen zu, wie sie Möbel verheizen, ihre Lederhosen verspeisen und das allmähliche Ausfallen ihrer Haare und Fingernägel beklagen. Das ist mühsam, und unangenehm, und eigentlich lernen wir dabei auch nichts, was wir nicht vorher schon wussten.
„Park Avenue, was sagst du dazu?“ lamentiert Josephine Peary irgendwann – vielleicht will man das alles weder an der Park Avenue noch am Potsdamer Platz so ganz genau wissen.
Wenn man dann schließlich wieder aus dem Kinosaal kommt, ist man sehr traurig, und es ist einem kalt. Andererseits kommt einem der Eiswind um den Berlinale Palast auf einmal fast lau vor, und das McDonalds gegenüber ziemlich verlockend. Das muss ein Film auch erst mal schaffen.
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