- Stephan Weil, Ministerpräsident in Spe?
Stephan Weil von der SPD hat gute Chancen, im Januar die Landtagswahl in Niedersachsen zu gewinnen
Nur der schwarze Mercedes, der dem roten Audi auf der Fahrt durch Niedersachsen folgt, lässt vermuten, dass ein wichtiger Mensch unterwegs sein muss. Bei jedem Überholmanöver klebt er ihm an der hinteren Stoßstange, und als der Audi auf dem Gelände der Siag-Nordseewerke in Emden hält, springen aus dem Mercedes zwei Männer mit Sprechfunk im Ohr und Pistole unter der Jacke und sichern die Umgebung. Dabei käme niemand auf die Idee, dem freundlich lächelnden Herrn mit der Aktentasche und dem schon etwas schütteren Haar etwas zuleide zu tun, der jetzt aus dem Auto steigt, sein Jackett zuknöpft, den Schlips und die Brille richtet und Hände schüttelt. Stephan Weil sieht aus wie ein farbloser Büroangestellter. Aber er wird beschützt, als sei er bereits Ministerpräsident.
Manchmal redet er auch schon so. Der Firma geht es schlecht, 1000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel, man sucht einen Investor, man braucht einen Massekredit. Den muss die Landesregierung in Brüssel beantragen. Weil sagt, was auch der CDU‑Ministerpräsident David McAllister gesagt hätte: Er freue sich, „dass es Investoren gibt, die diesem Unternehmen erst mal ein entsprechendes Potenzial zutrauen“ und dass „wir diese Chance nutzen müssen“. Genauso wird es später der FDPWirtschaftsminister Jörg Bode im Landtag in Hannover vortragen.
In Emden aber entlarvt Weil die schönen Worte als leere Versprechungen: Er höre, dass dieser Kredit in Brüssel noch gar nicht beantragt worden sei. „Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Landesregierung nicht nur ohne Plan, sondern auch ohne Willen an der Rettung des Unternehmens arbeitet oder eben nicht arbeitet.“ Das sitzt. Die Lokalpresse hat ihren Aufmacher, die Fernsehkamerateams ihre Bilder – mit zwei Sätzen hat der freundliche Herr Weil Zähne gezeigt und Punkte gemacht.
Er ist unterwegs, um sich in dem Land bekannt zu machen, das er demnächst regieren will. Man kennt ihn zwar in Hannover, wo er neun Jahre Stadtkämmerer war und seit sechs Jahren ein erfolgreicher Oberbürgermeister ist. Aber außerhalb der Landeshauptstadt sinkt sein Bekanntheitsgrad, und auf dem platten Lande ist er nahezu unbekannt. Trotzdem hat er gute Chancen, Ministerpräsident zu werden. FDP, Linkspartei, Piraten und Sonstige werden nach neuesten Umfragen auf jeweils 3 Prozent taxiert und kämen nicht mehr in den Landtag. Die CDU bekäme zwar 41 Prozent, aber SPD (34 Prozent) und Grüne (13 Prozent) hätten mit zusammen 47 Prozent die Mehrheit der Sitze und könnten regieren. Was vor einem Jahr, als die SPD ihren Spitzenkandidaten kürte, keiner für möglich gehalten hätte, scheint also greifbar nahe: Der Unscheinbare aus dem Rathaus vertreibt den Hoffnungsträger aus der Staatskanzlei, Frosch wird Prinz, Nobody schlägt Superstar – Stoff für Hollywood, großes Kino.
Weil „personifiziert wie kein Zweiter jenes Motto, das sozialdemokratische Kandidaten zuletzt erfolgreich gemacht hat: ordentliches Regieren, keine Experimente, Seriosität, Erfahrung, keine Versprechungen“, schrieb die Welt schon vor einem Jahr. „Wenn Olaf Scholz in Hamburg der Prototyp dieses Modells war, dann ist Stephan Weil in Niedersachsen die serienreife Fassung.“ Als Nächsten in dieser Reihe könnte man sich durchaus den ebenso unbekannten hessischen SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel vorstellen. Auch ihm prophezeihen die Demoskopen für den Herbst 2013 eine klare rot-grüne Mehrheit.
Stephan Weil hat keine typische SPD-Karriere hinter sich. Er kommt nicht aus einem Arbeiterhaushalt, hat sich nicht auf dem zweiten Bildungsweg nach oben gearbeitet, war keine große Nummer bei den Jusos. Die Privatisierungs- und Steuersenkungsbeschlüsse der rot-grünen Schröder-Regierung hat er heftig kritisiert, aber er ist kein Linker, sondern bezeichnet sich selbst als „bekennenden Pragmatiker“. Er ist im Hindenburgviertel von Hannover aufgewachsen, wo die etwas besser Verdienenden wohnen, hat ein humanistisches Gymnasium besucht, Latein und Griechisch gelernt und ist dann Jurist geworden. Richter war er und Staatsanwalt auch, bevor er Sachbearbeiter im Justizministerium und später Stadtkämmerer wurde. Als der Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg 2006 nach 36 Amtsjahren aufhörte, war Weil wie selbstverständlich sein Nachfolger. Und heute ist er, wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder anerkennend urteilt, „ganz eindeutig der Boss in der Stadt“.
Dass die Leute ihn für farblos halten, wundert Weil zwar, aber er hält es nicht für einen Nachteil: „Ich glaube sogar, dass das in Niedersachsen besser ankommt. Wir Niedersachsen sind eher nüchtern und mögen es nicht, wenn einer sich spreizt wie ein Pfau.“ Er hat sich nicht gedrängt, er wurde gedrängt. Wolfgang Jüttner, der einige Jahre die Partei führte, hat ihn geschoben, und auch Sigmar Gabriel ermunterte ihn, den Aufstieg in die Bundesliga zu wagen. Er hat sich kein Hintertürchen offen gehalten: Wenn es nicht klappt am 20. Januar, wird er Oppositionsführer werden. Eine Rückkehr ins Rathaus schließt er aus: „Ich habe ganz bewusst alle Brücken hinter mir abgerissen.“ Erschrickt ihn die Aussicht, demnächst vielleicht Ministerpräsident zu sein? Stephan Weil blickt aus dem Auto auf das flache Land, durch das er fährt. „Nein“, sagt er dann. „Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt.“
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