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Europa - Die Sozialdemokratie steckt in der Existenzkrise

Falls die Sozialdemokratie noch lebt, ist nur schwer zu erkennen, wie oder warum. Doch an ihrem Zustand sind die europäischen Parteien mithin selbst schuld, schreibt der britische Politikkommentator Neal Lawson

Autoreninfo

Neal Lawson ist Vorsitzender der NGO Compass und schreibt für den Guardian und den New Statesman. Er arbeitete als Berater für Gordon Brown und für Gewerkschaften. 2009 veröffentlichte er das Buch „All Consuming“

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Ist die Sozialdemokratie eigentlich schon tot und rennt nur noch wie das sprichwörtliche kopflose Huhn reflexhaft einmal durch den Hof, ehe sie endgültig umfällt? Falls die Sozialdemokratie noch lebt, ist jedenfalls nur schwer zu erkennen, wie oder warum. Aber sehen wir uns zunächst einmal die Fakten an.

Nirgendwo auf der Welt ist eine sozialdemokratische Partei wirklich federführend aktiv. Natürlich sind einige Parteien allein oder in einer Koalition an der Regierung, so in Dänemark, Schweden, Deutschland und Frankreich, doch das geschieht eher zufällig und ist meist einem Versagen der Rechten zu verdanken. Dazu kommt, dass regierende Sozialdemokraten zu einer Austeritätspolitik oder zumindest „Austerität light“ neigen. Keine sozialdemokratische Partei hat eine streitbare und selbstbewusste intellektuelle und organisatorische Agenda zu bieten, mit der sich ein sinnvolles alternatives Politikprojekt voranbringen ließe. Die Zukunft sieht unglaublich düster aus. Warum?

Die Ursachen sind unschwer zu benennen. Die Sozialdemokratie ist ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Im 20. konnte sie einige Erfolge feiern, doch auf das 21. Jahrhundert ist sie heillos schlecht vorbereitet. Das liegt daran, dass sämtliche Kräfte, die die Sozialdemokratie einst stark machten, mittlerweile verschwunden sind. Die kollektive Kriegserfahrung, eine geeinte, gut organisierte und immer noch wachsende Arbeiterklasse und die düstere Präsenz der Sowjetunion – eine bedrohliche Alternative zu den freien Märkten, die Angst vor einer Revolution im Westen schürte und so den Arbeitgebern große Zugeständnisse abrang – bewirkten früher gemeinsam, dass der Kapitalismus vorübergehend historische Kompromisse mit sozialdemokratischen Parteien einging.

Die „goldene Ära“ kommt nicht zurück


Im Rückblick war diese „goldene Ära“ ein historisches Kurzzeitphänomen. Leider betrachten Sozialdemokraten das jedoch fälschlicherweise bis heute als Norm. Nach dem Verlust der äußeren Machtquellen konzentrieren sie sich fast ausschließlich auf die Wahl der „richtigen Führungsfiguren“, die von oben die „goldene Ära“ noch einmal zum Leben erwecken sollen. Dieser technokratischen Politik fehlt es an Strömungen ebenso wie an einem Bewusstsein für den historischen Kontext und die geopolitischen Gegebenheiten, die das konkrete Handeln von Politikern und Bürgern beeinflussen. Sozialdemokraten sind wie Surfer ohne Wellen.

Doch die Zeit steht nicht still. Das Fundament der Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts hat sich nicht nur aufgelöst, sondern wurde von anderen antagonistischen Kräften ersetzt. Globalisierung und Individualisierung nehmen die Sozialdemokratie in die Zange und schränken die Möglichkeiten einer Erneuerung ein. Die Globalisierung – die Kapitalflucht und der daraus resultierende Druck nach unten auf Steuern und Regulierung – läutet in jedem einzelnen Land das Totenglöckchen des Sozialismus. Derweil wird soziale Solidarität im Kontext des Individualismus und einer Kultur des Turbo-Konsums, gelinde gesagt, schwierig. In einer solchen Welt haben wir nicht nur – zum Glück – die Servilität eingebüßt, die der paternalistischen Sozialdemokratie des letzten Jahrhunderts den Weg bereitete. Auch das gute Leben wird mittlerweile nicht mehr von Bürgerinnen und Bürgern kollektiv erschaffen, sondern von den einzelnen Verbrauchern käuflich erworben. Die endlose Konstruktion und Rekonstruktion von Identität durch wettbewerbsorientierten Konsum zerstört den sozialen Nährboden, den die Sozialdemokratie braucht, um Wurzeln zu schlagen. Heute, so scheint es, gibt es dazu keine Alternative.

Tausche Kernwähler gegen Kernwerte


Der kurze Aufwind, den das Wahlglück der Sozialdemokraten Mitte der 1990er Jahre rund um den „Dritten Weg“, die „neue Mitte“ und den „Clintonismus“ erfuhr, kam auf Kosten einer weiteren Erosion der zunehmend vernachlässigten Wählerbasis zustande. In der irrigen Annahme, dass es keinen anderen Weg gebe, tauschte man die Kernwählerschaft gegen Kernwerte ein und vertraute auf einen dysfunktionalen Finanzkapitalismus, der 2008 nach hinten losging und die Sozialdemokraten kalt erwischte, während sie noch die Finger tief in der neoliberalen Kasse hatten.

Ihren ultimativen Ausdruck findet die Existenzkrise der Sozialdemokratie in der anhaltenden Krise des Kapitalismus. Wenn es das historische Ziel der Sozialdemokratie ist, den Kapitalismus menschlicher zu machen, so unterstreicht die Verwendung öffentlicher Gelder für die Bankenrettung auf Kosten der Opfer des Kapitalismus die Armseligkeit der sozialdemokratischen Position.

Dort, wo die Krise am stärksten zuschlug, fielen die Sozialdemokraten am tiefsten und am schnellsten. Die PASOK in Griechenland ist heute kaum noch existent. Die PSOE in Spanien liegt am Boden und wurde Umfragen zufolge bereits von Podemos überholt – einer Partei, die nicht einmal ein Jahr alt ist. In Schottland steht Labour kurz davor, von Nationalisten ersetzt zu werden. Überall anders haben Sozialdemokraten mit der Welle des Populismus und der Politikmüdigkeit zu kämpfen, die durch Europa schwappt.

All das ist offensichtlich. Doch Sozialdemokraten nehmen es mit einem Schulterzucken hin und ziehen sich auf ihre orthodoxen Ansichten zurück. Sie zerren an fiskalischen und regulatorischen Hindernissen, ohne die Beschränkungen des Neoliberalismus wirklich zu durchbrechen. Sie tun so, als gebe es die alten Klasseneinteilungen noch, setzen ihre Kernwählerschaft als selbstverständlich voraus und behandeln unseren Planten, als wäre er unerschöpflich. Sie buhlen um ein Regierungsamt, damit sie an Hebeln ziehen können, die schon lange verrostet und außer Betrieb sind. Das Gepäck der Vergangenheit ist offenbar einfach zu schwer, als dass man es loslassen könnte. Um Einsteins Definition des Wahnsinns zu bemühen: Sie tun immer wieder das Gleiche und erwarten ein anderes Ergebnis.

Aber was ist zu tun? Sozialdemokraten müssen mutig sein – wirklich mutig –, sonst blüht ihnen bestenfalls die Bedeutungslosigkeit, schlimmstenfalls der Untergang. Drei große Aufgaben stehen vor ihnen.

Die erste Aufgabe ist die Neudefinition dessen, was unter einer guten Gesellschaft zu verstehen ist. Die Sozialdemokratie hat sich allzu lang auf das Materielle konzentriert. Ja, wir wollen größere Gleichheit, aber ist das einfach immer nur mehr Konsum in einem Wettrennen, das wir nicht gewinnen können? Wenn der Plasmafernseher in der Arbeiterwohnung nie groß genug sein kann, dann hat der Kapitalismus gewonnen. Die Tretmühle des Konsumwettbewerbs tötet jede Hoffnung auf soziale Solidarität und ruiniert die Umwelt. Statt immer mehr Dinge anzuvisieren, von denen wir nicht wussten, dass wir sie wollen, bezahlt mit Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht kennen, müssen Sozialdemokraten ein Mehr an völlig anderen Dingen ins Auge fassen: mehr Zeit, mehr öffentlichen Raum, saubere Luft, Gemeinwesen, Autonomie. Die dazu passende Politik würde auf Arbeitszeitverkürzung, Demokratie und Teilhaberschaft in den Betrieben, ein Bürgereinkommen und strenge CO2-Begrenzungen abzielen.

Sozialdemokraten, lasst los!


Die zweite Aufgabe ist eine radikale Neuausrichtung im internationalen Bereich. Wenn der Kapitalismus über die Nation hinausgegangen ist, dann bleibt der Sozialdemokratie nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie muss die Märkte regulieren und steuern, wo immer sie dem Menschen oder dem Planeten schaden. Das ist schwierig und geht mit einem Verlust an Eigenständigkeit einher. Aber Macht ist, auf nationaler Ebene ausgeübt, bedeutungslos, wenn wirtschaftliche Entscheidungen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten getroffen werden. Eine solche Politik würde auf europäischer Ebene bei Themen wie einem europaweiten Mindestlohn und einheitlichen Unternehmenssteuersätzen beginnen.

Die dritte Aufgabe hat mit der Politikkultur zu tun. Sozialdemokraten werden loslassen müssen. Die Zeit gewählter Wegbereiter, die für das Volk handeln, ist vorbei. Sozialdemokraten müssen sich bewusst machen, dass sie für die Bürgerinnen und Bürger künftig nur ein Quell der Ermächtigung sein werden. Statt an Politikhebeln zu ziehen, wird es ihre Aufgabe sein, Plattformen zu schaffen, damit Menschen kollektiv Veränderungen herbeiführen können. Diese Rolle ist bescheidener, aber wichtig und absolut möglich in einer vernetzten Gesellschaft, in der die menschliche Kultur vor allem durch das Internet verknüpft wird. Parteien müssen sich nach außen öffnen. Sie müssen sich als ein Bestandteil einer breiteren Allianz für den Wandel verstehen, nicht als alleinige Quelle aller Weisheit und allen Handelns. Parteien werden richtig demokratisch werden müssen, werden Macht dezentralisieren und für Themen wie Energie, gegenseitige Kreditvergabe und neue Medien Kooperationsplattformen errichten müssen.

Diese Aufgaben sind gewaltig, das Ausmaß der Veränderung ist gigantisch. Denken wir an den plötzlichen Niedergang von Kodak und den Aufstieg von Instagram. Können wir diesen Aufgaben gerecht werden? Wir wissen es nicht. Ohne zu unterschätzen, welche Veränderungen notwendig sind, damit die Sozialdemokratie auch im 21. Jahrhundert eine maßgebliche Rolle spielt, sollten wir doch auch unsere Fähigkeit zum Wandel nicht unterbewerten. Der Untergang ist nicht unausweichlich. Es ist genügend Energie da; die Sozialdemokraten werden nur neue Wege gehen müssen, um sie zu erschließen. Alles liegt bei den politischen Entscheidungen, die wir treffen. Aus denjenigen, die wenig Ressourcen und ihren Alter Egos, die wenig Zeit haben, lässt sich durchaus eine neue politische Allianz schmieden. Doch die Uhr tickt. Wir sind gewarnt.

Dieser Beitrag erschien in Internationale Politik und Gesellschaft. www.ipg-journal.de

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