- „Ich kann nur verlangen, dass das Ende gnädig ist“
Mit seinem Blick auf die Welt störte er schon oft das Lebensgefühl der anderen. Im Interview sprachen wir mit Thilo Sarrazin einmal nicht über seine kontroversen Thesen zur Finanz-, Sozial- und Bevölkerungspolitik, sondern über die eigene Lebensbilanz und das Sterben. Ein Gespräch über Selbstbestätigung im Alter, Berliner Wurschtigkeit und eine Feldmaus im Garten
Herr Sarrazin, wir haben uns heute verabredet, um über
den Tod zu sprechen. Nicht nur über den Tod, viel mehr über die
sichere Gewissheit darüber, sterben zu müssen, ein bewusstes
Ableben. Was löst das bei Ihnen aus?
Der eigene Tod ist einem spätestens mit sieben oder acht Jahren
rational bewusst, weil man wahrnimmt, dass Menschen sterben und
dass alle Menschen sterben müssen. Für die menschliche
Vorstellungskraft ist der Tod natürlich vollständig irreal, weil
der Mensch nicht in der Lage ist, die Welt ohne Bezug auf sich
selbst wahrzunehmen. Insoweit ist alles, was man über den eigenen
Tod sagt oder meint, in seinem Angesicht zu fühlen, ein Konstrukt,
das sich auch erst dann beweist, wenn er unmittelbar wird.
Wie genau ist dieses Konstrukt beschaffen?
Wir leben in einer Welt, die wir in Zeit und Raum organisieren. Aus
der Physik wissen wir, dass Zeit und Raum wiederum nur Konstrukte
sind, die uns helfen, uns zurechtzufinden. Sie sagen nichts über
die endgültige Dimension dieser Welt aus. Von einem höheren
Standpunkt aus, den wir nicht wahrnehmen können, existieren sie
womöglich nicht einmal. Man stelle sich ein zweidimensionales
Lebewesen vor, das nur Länge und Breite, aber keine Höhe kennt. Und
dieses Lebewesen bewegt sich auf einer Kugel. Es wird die Welt als
unendlich erfahren und völlig erstaunt sein, dass es an keine
Grenzen stößt, deswegen, weil ihm in seiner geistigen Konzeption
eine dritte Dimension fehlt. Wenn Zeit und Raum also nur Konstrukte
sind, dann ist es auch relativ egal, wann und wie lange etwas
existiert – es ist Teil dieser Wirklichkeit. Und wenn es aufhört zu
existieren, weiß es sich im Archiv der Weltgeschichte aufgehoben.
Das gilt für uns Menschen nicht mehr und nicht weniger als für die
Feldmaus im Garten, für jeden Grashalm, der dort wächst, und für
jede Blume, die dort blüht.
Aber wenn Zeit und Raum nicht existieren, wie kann man
sich dann sicher sein, überhaupt Teil dieser Wirklichkeit zu
sein?
Hauen Sie sich mit dem Hammer auf den großen Zeh, dann werden Sie
merken, dass Sie wirklich sind! Letztlich ist es so: Auch wenn das
eigene Unwissen groß und der eigene Verstand begrenzt ist, so
funktionieren wir doch in unserem uns zugedachten Bereich perfekt.
Eine Katze, die von einem Baum fällt oder jene Feldmaus fängt, kann
das alles wunderbar berechnen. Sie ist auf einen Teilausschnitt
dieser Welt angepasst. Und die Katze und die Maus und der Baum sind
alle wirklich und passen zueinander. Die Katze hat vielleicht nicht
unser Weltkonzept, sie wird nicht in der Lage sein, zu sehen, dass
eine Rose schön ist. Darum ist ihre Welt aber nicht niedriger oder
weniger wirklich. Auf diese Weise sind wir mit dem Sein verbunden.
Die Perspektive, nicht mehr zu sein, bleibt auf der Gefühlsebene
eine theoretische.
Wenn die menschliche Vorstellungskraft für diese Ebene
nicht ausreicht, bedeutet das auch, dass der Mensche keine Angst
vor dem Unfassbaren zu haben braucht – und damit auch nicht vor dem
eigenen Tod?
Jedes Lebewesen hat einen Lebenstrieb. Es krallt sich an seine
Existenz und möchte seine Gesetzmäßigkeiten leben. Ein junger
Mensch von 15 Jahren, der sich zum ersten Mal verliebt, der Pläne
und Sehnsüchte hat, der Ehrgeiz entwickelt, hängt ganz anders am
Leben, als ein Mann in meinem Alter. Mit 67 erfreue ich mich an
meiner Gesundheit. Ich weiß, dass ich noch ein bisschen vor mir
habe, das Wesentliche wohl aber bereits hinter mir liegt.
Das kann man nie wissen. Vielleicht hält das Leben ja
noch etwas ganz Wesentliches für Sie bereit?
Das mag natürlich wahr sein. Aber Sie können es bei jedem Hund
beobachten, der älter wird. Irgendwann erlischt das Feuer.
Natürlich hängt er noch am Leben, lässt sich streicheln, geht zum
Futternapf, wedelt mit dem Schwanz und schnuppert draußen ein
bisschen rum. Er ist aber nicht mehr der junge Hund, der er einmal
war. Und irgendwann legt er sich dann in eine Ecke und hört auf zu
fressen. Er weiß, es war genug und vielleicht möchte er auch
einfach nicht mehr. Das einzige, was man als lebendiges Wesen
verlangen kann, ist, dass man seinen biologischen Weg zu Ende geht
und, dass das Ende gnädig ist.
Krallen Sie sich noch ans Leben oder haben Sie schon
aufgehört zu fressen, zu wedeln und zu schnuppern?
Ich persönlich bin noch an vielen Dingen sehr interessiert, sonst
würde ich jetzt auch nicht mit Ihnen reden. Ich würde auch nicht
gerade an einem neuen Buch schreiben. Solange der Körper
einigermaßen gesund und der Geist rege ist, kralle ich mich ans
Leben, wenn Sie so wollen. Sicher, es ziept mal hier und mal da,
auf dem rechten Ohr bin ich taub... Aber ob ich nun 99 Jahre alt
werde, wie mein Vater, wenn er in wenigen Wochen Geburtstag hat,
oder 33 Jahre, wie Alexander der Große – die Dauer einer Existenz
sagt nichts über Sinn und Erfüllung.
Je weiter das Leben voran schreitet, desto näher rückt
das eigene Ableben. Irgendwie ein verstörendes Paradoxon. Wie
bereitet man sich auf so etwas vor? Mental und auch ganz
praktisch?
In der Jugend will man Freunde gewinnen, will sein
Selbstbewusstsein stärken über den Spiegel der Welt, will
vielleicht etwas leisten, hat Träume, sucht nach der Liebe. Dann
kommt man in das Alter, wo man auf eigenen Füßen steht. Hier muss
man das Leben packen, damit man es leben kann. Irgendwann ist der
Punkt erreicht, wo die aktive Lebensphase allmählich zu Ende geht.
Freiheitsgrade wachsen, sie sinken aber auch gleichzeitig. Kontakte
fallen weg, der eigene Status ergibt sich nicht mehr ohne Weiteres
aus dem beruflichen Erwerb, die Selbstbestätigung fehlt aus dem
fehlenden aktiven Tun.
Nächste Seite: Sarrazin zieht Bilanz
Und über was definiert man sich dann in Ihrem
Alter?
Der psychisch gesunde Mensch definiert sich aus der Stabilität
seiner Persönlichkeit. Das Sein ist ja zunächst ein emotionales,
der Verstand nur das Instrument, mit dem wir arbeiten. Wir leben
aber nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Bewusstsein, aus der
Einstellung zu uns selbst, aus der Art, wie wir auf die Welt
blicken, und das ist im Wesentlichen emotional gesteuert und kaum
willentlich zu lenken. Der Mensch entwickelt ein stabiles Selbst
aus den Ressourcen, die ihm das Leben gibt, aber auch aus den
Einschränkungen. Diese Herausforderungen wachsen im Alter.
Würden Sie sich ein stabiles Selbst
zuschreiben?
Mit Selbstzuschreibungen sollte man vorsichtig sein. Ich hatte in
allen meinen Lebensphasen jedenfalls das Gefühl, mich sinnvoll
beschäftigt zu haben.
Welche Bilanz ziehen Sie aus Ihrem Leben? Welche
besonders glücklichen oder erfolgreichen Momente kommen Ihnen da in
den Sinn?
Was menschliche Beziehungen angeht, gibt es sehr private Momente,
helle Augenblicke aus der Jugend, die im Gedächtnis bleiben – und
die behalte ich auch für mich. Dann gibt es den Katalog aus
Aufgaben und Pflichten. Ich hatte beruflich das Glück, relativ
erfolgreich gewesen zu sein. Ich habe mich nie gelangweilt und die
Dinge, die ich betrieben habe – oft auch mit Härte – haben mich
stets ausgefüllt.
Manch einer würde hier auch einige Negativerfolge
anführen – gerade im publizistischen Bereich. Mit Ihren provokant
formulierten und kontroversen Thesen zur Finanz-, Sozial- und
Bevölkerungspolitik haben Sie die Gemüter hierzulande ganz schön
erhitzt.
Publizistisch bin ich hauptamtlich erst seit kurzer Zeit tätig,
davon spreche ich nicht. Das Berufsleben ist eine Kette von
Anspannungen, von Erfolgen und Enttäuschungen. Ich persönlich ziehe
für mich aber einen sehr positiven Saldo.
In einem Interview mit der ZEIT haben Sie einmal gesagt,
Sie seien in Ihrem Leben oft niedergebrüllt worden. Ich habe das
Cicero-Archiv durchstöbert und siehe da: Hier wurden Sie selbst
einmal als Brüllaffe bezeichnet. Was haben diese ständigen
Konfrontationen bei Ihnen bewirkt? Meinen Sie das, wenn Sie von der
„Härte“ sprechen, mit denen Sie Ihr Leben „betrieben“
haben?
Wenn man bestimmte Positionen vertritt, bestimmte Dinge durchsetzen
will oder auf bestimmte Mängel hinweist, die man ändern will, dann
tritt man, sobald man das Reich der Dichtung, der Musik und des
Bildermalens verlässt, natürlich vielen eingebauten Interessen
mächtig auf die Füße. Durch den eigenen Blick auf die Welt stört
man das Lebensgefühl der anderen. In der Öffentlichkeit bekommt man
dann eine Rolle zugeschrieben – im Falle von Cicero von mir aus die
des Brüllaffen. Aber auch wenn sich offenbar jemand gehörig über
mich geärgert hat, Sie haben meine Existenz zur Kenntnis genommen.
Damit wurde ich Teil des wirklichen Lebens.
Nächste Seite: Was Sarrazin bereut
Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Ich weiß nicht, ob ich mich noch einmal dazu entschließen würde,
das Rheinland zu verlassen und den Sprung nach Berlin zu machen.
Die Lebensart am Rhein ist doch eine balanciertere. Ich sitze
gerade in meinem Arbeitszimmer in Charlottenburg, schaue hinaus in
den Garten und sehe eine Reihe von Hausdächern. Das Leben in Berlin
ist durchaus angenehm, auch deshalb, weil man in dieser Stadt ganz
unterschiedliche Gruppen so prächtig aneinander vorbeileben
können.
Sie sprechen von der Anonymität, mit der man hier seinen
Tag begeht. Ich bezweifle jedoch, dass Sie als Thilo Sarrazin davon
profitieren – auch oder gerade in Berlin.
Das ist manchmal schwer, ja. Jedenfalls ist es so, dass in Berlin
völlig unterschiedliche Kreise gleichzeitig nebeneinander
existieren. Vielleicht trifft man sich im KaDeWe oder in der Oper.
Vielleicht oder sehr wahrscheinlich aber doch eher gar nicht. Es
ist eine Stadt der parallelen Ungleichzeitigkeit. Ganz anders als
beispielsweise München. München ist sehr viel formierter, was
natürlich Charme hat. Es hat Stil und Stil ist immer auch Form. In
Berlin haben einzelne Gebäude Stil, aber es gibt keinen Stil der
Stadt.
Weil es sehr heterogen beschaffen ist.
Ja. Und in dieser Heterogenität liegt eine gewisse Wurschtigkeit
und Beliebigkeit. Wenn Sie auf den Berlin Alexanderplatz gehen und
sich ansehen, wie sich die jungen Frauen in der Altersgruppe
zwischen 15 und 35 kleiden, also jene Gruppe, die auf ihr Outfit
achten...
Mit Verlaub Herr Sarrazin, das tun Damen ab 36 aufwärts
aber auch...
... ach, Sie wissen was ich meine. Ich meine die Frauen, auf die
der Blick des Buschbewohnermannes automatisch fällt. Wenn Sie dann
nach Dresden oder Leipzig fahren und sich die Mädchen dort
anschauen, ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht, einfach weil
die in der Kleidung zum Ausdruck kommende Disziplin, der Wille,
sich vernünftig darzustellen, in Berlin praktisch nicht existiert.
Den berühmten oder berüchtigten Münchner Schick habe ich jetzt
bewusst außen vorgelassen.
Kleidungsstile als vernünftig oder unvernünftig zu
bezeichnen, ist etwas vermessen, finden Sie nicht? Gerade war
Fashion Week – die ganze Welt bereist die Hauptstadt, weil sie
Berlin für den modischen Vorreiter hält.
Deshalb, weil in Berlin das Krasse denkbar ist. Schon vor vielen
Jahren habe ich gehört, dass Modedesigner aus Mailand über
irgendwelche Berliner Meilen gehen und gucken, was die Jugend an
neuen krassen Sachen hat. Und wenn der Gürtel hier so getragen
wird, dann ist es im Rest der Welt übermorgen Trend.
Sie haben sich von solchen Trends offenbar nie
beeindrucken lassen.
1985 trat ich das erste Mal mit Berlin in engeren Kontakt, als ich
im Aufsichtsrat der Berliner Flughafengesellschaft saß. Damals war
ich 40 und das, was man eine gefestigte, ausgebildete
Persönlichkeit nennt.
Auch kleidungstechnisch.
Das war für mich immer relativ klar. Freizeitkleidung: Jeans,
Pullover, kariertes Hemd – das trage ich im Übrigen auch im
Augenblick. Dienstlich: Anzug und Krawatte. Insoweit war ich, was
meine Kleidung angeht, immer unauffälliger Standard.
Kommen wir zurück zum Thema: Sie sagten, Sie schreiben
gerade an einem neuen Buch. Würden Sie uns vor Ihrem Ableben noch
ein Vermächtnis hinterlassen, eine Botschaft, die Sie an Ihre
Mitmenschen richten? Gerade das Erscheinen eines Buches nach dem
Tod des Autors hat sich doch immer als sehr medienwirksam
erwiesen.
Ich habe keine Botschaft im Sinne der päpstlichen Osterbotschaft.
Wenn man schreibt, schreibt man, weil man einen Auftrag hat zu
schreiben, oder weil der Prozess des Schreibens die eigenen
Gedanken klärt.
Im Sinne der Katharsis.
Exakt. Wenn die Sache vernünftig zu Papier gebracht wird, hat das
einen hohen Eigenwert und wenn das dann auch noch jemand liest, ist
das eine große Belohnung.
Wie sähe denn nun Ihr letzter Tag aus?
Dafür muss ich überlegen, ob ich in einer Gefängniszelle
sitze...
Lesen Sie Thilo Sarrazins letzte 24 Stunden in der März-Ausgabe des Cicero.
Herr Sarrazin, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sarah Maria Deckert.
Die März-Ausgabe des Cicero ist ab sofort im Handel und im Online-Shop erhältlich.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.