Flüchtlinge aus Berg-Karabach treffen im Oktober 2023 in Armenien ein / dpa

Der Ukrainekrieg und die Folgen - Machtverschiebungen auf dem Kaukasus

Weil Russland sein Militär im Konflikt mit der Ukraine benötigt, war Moskau nicht in der Lage, Armenien beim Angriff durch Aserbaidschan zur Seite zu springen. Die Armenier nähern sich deshalb dem Westen an. Überhaupt gerät die gesamte Region in Aufruhr.

Autoreninfo

Kamran Bokhari ist Experte für den Mittleren Osten an der Universität von Ottawa und Analyst für den amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Während Russland in einen schwierigen Krieg in der Ukraine verwickelt ist, ist seine südliche Flanke – der Südkaukasus – in Unordnung geraten. Dort herrscht ein neues Kräftegleichgewicht, nachdem Aserbaidschan seinen Sieg gegen Armenien in Berg-Karabach gefestigt hat. Armenien wiederum scheint sich aus Verärgerung darüber, dass Russland ihm nicht zu Hilfe gekommen ist, abermals dem Westen zuzuwenden. Diese Dynamik hat eine komplizierte Situation für die Europäische Union, Russland, die Türkei und den Iran geschaffen.

Vorige Woche hatte ich die Gelegenheit, den Südwesten Aserbaidschans zu besuchen. Nach einem kurzen Flug von Baku in die Stadt Zangilan, die nur wenige Kilometer von der iranischen Grenze entfernt liegt, reiste ich auf der Straße nach Norden in die Stadt Lachin, nahe der armenischen Grenze. In dieser Bergregion, die bis vor einigen Jahren fast drei Jahrzehnte lang unter armenischer Kontrolle stand, wird der Wiederaufbau in großem Umfang fortgesetzt. Zufälligerweise fand mein Besuch nur fünf Tage nach dem Beginn des Abzugs der 2000 russischen Soldaten statt, die dort nach der Einstellung der Feindseligkeiten im November 2020 als Friedenstruppe stationiert waren.

Armenien, das gezwungen war, den Verlust von Gebieten hinzunehmen, die es im ersten Karabach-Krieg gewonnen hatte, steht Russland zunehmend kritisch gegenüber. Eriwan wirft Moskau vor, dem Land nicht zu Hilfe zu kommen, obwohl es als Teil der von Russland geleiteten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit ein Verbündeter ist. Zwei Wochen vor der vollständigen Übernahme Berg-Karabachs durch Aserbaidschan im vergangenen September bezeichnete der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan die fast völlige Abhängigkeit seines Landes vom Kreml in Bezug auf die nationale Sicherheit als „strategischen Fehler“. Die Regierung ist der Ansicht, dass der Ukraine-Konflikt die russischen Fähigkeiten geschwächt hat – eine Ansicht, die durch die militärische Niederlage Armeniens noch verstärkt wurde.

Das Land, das von den neuen geopolitischen Gegebenheiten am stärksten betroffen ist, ist der Iran

In einem Interview mit einer italienischen Tageszeitung sagte Paschinjan: „Russland braucht selbst Waffen und Munition, und in dieser Situation ist es verständlich, dass die Russische Föderation die Sicherheitsbedürfnisse Armeniens nicht befriedigen kann, selbst wenn sie es wollte.“ Obwohl es kein leichtes Unterfangen ist, wenn man bedenkt, wie stark Eriwan an die russische Sicherheit gebunden ist, hat Armenien begonnen, engere Beziehungen zum Westen aufzubauen. So hat es mit Frankreich eine Reihe von Verträgen über die Lieferung von militärischem Gerät geschlossen. Darüber hinaus haben die Europäische Union und die Vereinigten Staaten am 5. April ein gemeinsames Hilfspaket für Armenien im Wert von 356 Millionen Dollar zugesagt.

 

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Russlands Priorität ist die Ukraine, weshalb es wenig tun konnte, um Aserbaidschan (mit Hilfe der Türkei) an der Rückeroberung Berg-Karabachs von Armenien zu hindern. Und nun, da die Gewinne Aserbaidschans auf absehbare Zeit unumkehrbar scheinen, liegt es im Interesse Moskaus, sich enger an Aserbaidschan zu binden. Drei Faktoren sind für diesen Schritt ausschlaggebend: Russland weiß, dass es weiterhin beträchtlichen Einfluss in Armenien ausüben wird; eine engere Beziehung zu Baku wird als Gegengewicht zu den Beziehungen dienen, die Armenien mit dem Westen eingeht. Und Moskau muss die Bemühungen der Türkei in Schach halten, engere Beziehungen zu Aserbaidschan zu knüpfen und dadurch seinen Einfluss in der transkaspischen Region auszuweiten.

Das Land, das von den neuen geopolitischen Gegebenheiten in der Region am stärksten betroffen ist, ist der Iran, der ein enger Verbündeter Armeniens und daher von der Rückeroberung Berg-Karabachs durch Baku negativ betroffen ist. Teheran war schon immer besorgt über eine viel längere Grenze zu Aserbaidschan und über den türkischen Einfluss an seiner Nordflanke. Und jetzt, da Eriwan sich dem Westen annähert, hat Teheran noch weniger Spielraum an seiner Nordgrenze.

Es liegt im Interesse von USA und EU, die Friedensbemühungen zwischen Aserbaidschan und Armenien zu unterstützen

Für den Iran besteht der Silberstreif am Horizont darin, dass die aserbaidschanischen Bemühungen, die Initiative für den Zangezur-Korridor zum Laufen zu bringen, ein Maß an Normalisierung mit Armenien erfordern, das nur schwer zu erreichen ist. Dies erklärt, warum Baku im Oktober vorigen Jahres angekündigt hat, dass es den Korridor durch Armenien nicht wirklich benötige und eine andere Route durch iranisches Gebiet prüfe. Trotz der schwankenden bilateralen Beziehungen sieht Aserbaidschan den Iran immer noch als einen Nachbarn an, mit dem es leben muss. Das Problem ist, dass Baku angesichts des sich verschärfenden Konflikts zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten und Israel sowie des bevorstehenden politischen Wandels im eigenen Land nicht sicher sein kann, wie die Beziehungen zu Teheran aussehen werden.

Aserbaidschan ist auch das einzige Land der Welt, das sowohl an den Iran als auch an Russland grenzt. Aserbaidschan muss die immer engeren Beziehungen zwischen Moskau und Teheran im Auge behalten – und den Wunsch Russlands, das Projekt des internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridors, der durch aserbaidschanisches Gebiet führt, voranzutreiben. Baku wird dieses Projekt mit seinem Wunsch nach einem transkaspischen Korridor abwägen müssen, der Zentralasien mit Europa verbinden würde. Inwieweit letzteres in Gang kommt, wird von den künftigen Bemühungen Bakus und Eriwans um eine Normalisierung der Beziehungen abhängen.

Hier liegt es im Interesse Washingtons und seiner europäischen Verbündeten, die Friedensbemühungen zwischen Aserbaidschan und Armenien zu unterstützen. Dies erfordert die Zusammenarbeit mit der Türkei und Kasachstan, die in diesem geopolitischen Raum eine Schlüsselrolle spielen. Auf diese Weise können die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die russischen und iranischen Ambitionen eindämmen. Eine bloße Verstärkung der Beziehungen zu Armenien wird Moskau und Teheran nur Vorteile bringen.

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A.W..Mann | So., 5. Mai 2024 - 08:52

Wenn die Interessen des Hegemons wieder einmal mit der Realität kollidieren ist nur eins gewiss, zurückbleiben wird ein weiteres Mal, wie in Afghanistan, Irak, Syrien oder Afrika eine chaotischere und unsichere Region. Statt mit Russland und China gemeinsam nach für Allen sinnvollen Optionen zu suchen, scheint ein weiterer US Militärstützpunkt in dieser Region das nachhaltige Ziel. Probleme und Dreck mit größeren Problemen und noch mehr Dreck zu bekämpfen, dass scheint mir das Hauptziel der „ Freien Welt“, der Ausgang des ganzen ist klar, neues und größeres Chaos wagen, nein schaffen wird das Ergebnis sein. Retten wir also die Welt und nach uns die Sintflut. Der Iran, die Türkei und Aserbaidshan kochen dabei ihr eigenes Süppchen, konnte natürlich von den Experten in Langley keiner erwarten. Diese Welt scheint mit derartigen Experten Richtung Selbstmord zu marschieren, vielleicht nur aus Angst vor dem selbst heraufbeschworenen Tod ?
Das kleine Armenien nur ein Puzzleteil auf diesem Weg.

Wolfgang Borchardt | So., 5. Mai 2024 - 08:56

Sanktionierung Armeniens durch Russland führt - wie a l l e Sanktionierungen - dazu, dass das sanktionierte Armenien gezwungen ist, sich neue Freunde zu suchen. Zum anderen wird deutlich, dass Russland nicht stark genug ist, an mehreren Fronten Krieg zu führen. Das könnte andere Randstaaten Russlands ermuntern, ebenfalls eigene Wege zu gehen.

Wilhelm Keyser | So., 5. Mai 2024 - 09:08

...fand der AZ-AM-Krieg in der sonst so kriegsbegeisterten DE-Presse kaum statt. Iran wird in AM nicht viel ausrichten, und auch vom Westen dürfte AM eher wenig zu erwarten haben. Dies wird AM erkennen und sich auf die Entwicklung der Region beschränken. Deshalb ist meine Erwartung, dass sowohl der Sangesur- als auch der Nord-Süd-Korridor eingerichtet werden, AZ weiter profitieren wird, zumal es im Zuge z.B. der DE Energie-"Wende" weiter hofiert wird, und, das wird interessant, mittelfristig vielleicht ein Gegengewicht zum Iran wird bilden können, was dann auch etwas gutes hätte.

Jochen Rollwagen | So., 5. Mai 2024 - 10:13

Der Ukraine-Krieg ist für Rußland Afghanistan 2.0, nur um Dimensionen schlimmer. Strategisch ist das Ganze für Rußland eine komplette Katastrophe. Die Ostsee ist jetzt - nach dem NATO-Beitritt Schwedens - ein NATO-Meer, Gotland wird gerade als Stützpunkt massiv ausgebaut. Das Schwarze Meer ist dank der ukrainischen See-Drohnen für Rußĺand ebenfalls nicht mehr sicher. Damit verliert Rußland seine zwei Zugänge zu den Weltmeeren. Im Süden fliegt der Laden in Bashkortostan, Armenien. Georgien und Azerbaidjan auseinander. Einen "Frieden" zwischen Armenien und Azerbaidjan wird es nicht geben, Armenien muß sich also Richtung NATO bewegen. Einige haben das verstanden und positionieren sich, Deutschland steht wie immer auf der falschen Seite.

Putin ist der Totengräber der russischen Föderation. Aber er wollte ja auch ein Replay der Soviet-Union.

Bitteschön.

Detlef Beck | So., 5. Mai 2024 - 12:20

Antwort auf von Jochen Rollwagen

Das Motiv für den sowj. Einmarsch in Afg. war die Befürchtung eines Eindringens des radik. Islams in die südl. Sowj.-republiken, deren musl. Bevölkerung erheblich schneller wuchs, als die in den europ. Die Aufrüstung der Taliban durch die US-Amer. per pakistan. Geheimdienst führte zur sowj. Niederlage und zum 11.9. Die Befürchtung der US-Amer. vor seiner Wiederholung (Angriff auf das "unverletztbare" US-Kernland), vom Irak aus organisiert, war das Motiv für deren völkerrechtswidr. Angriffskrieg gegen diesen mit Hilfe "williger Europäer". Dieser "Unverletztbarkeit" steht auch die (behauptete) atom. Zweitschlagkap. der RF im Wege (die "man" vielleicht "abzuräumen" gedenkt?).
Putin-Spruch an Ex-Sowjetbürger: "Wer der Su nicht nachtrauert, hat kein Herz, wer sie wiederherstellen will, keinen Verstand."
In S. entdeckte "man" noch zu Neutralitätszeiten sowj./russ. U-Boote in Gewässern, wo diese nicht operieren konnten. Dies u. Assange-Ergreif. dürften eine spez. Art "Neutralität" darstellen.

Jens Böhme | So., 5. Mai 2024 - 17:39

Antwort auf von Detlef Beck

Dass die Sowjets Ende 1979 in Afghanistan einmarschierten, war der Versuch den expandierenden Islam in die muslimisch geprägten Sowjetrepubliken zu unterbinden. Die Sowjetunion hatte viel eher den Islamismus als Gefahr für Europa und sich erkannt, als der bräsige, europäische Westen. Denn die Gefahr einer islamischen Revolution á la Iran in Afghanistan war gegeben und hätte gravierende Probleme in der mittelasiatischen Sowjetunion hervorgerufen. Traditionell der Kalten-Kriegs-Logik folgend, hatten die USA in Afghanistan den dortigen Islamismus bereits im afghanischen Bürgerkrieg 1979 unterstützt, bevor die Sowjets einmarschierten.

Volker Naumann | So., 5. Mai 2024 - 10:16

Aus diesem ganzen Wirrwarr sollte sich die EU und vor allem Deutschland komplett raushalten. Um Himmels willen nicht AB in die Region fliegen lassen und UvdL am weiter Geldverteilen hindern.

MfG

Albert Schultheis | So., 5. Mai 2024 - 13:46

Auch dieser Bericht über die Region um Armenien zeigt eigentlich nur Eines: wie strategisch blind die USA agierten, indem sie den Krieg der Ukraine mit Russland provozierten! Es sind die USA die eigentlichen Urheber der Destabilisierung der gesamten Region! Und es ist die turko-faschistische Türkei, die vor diesem Hintergrund bestrebt ist, die eigene turko-islamische Achse des Imperialismus nach Osten zu treiben. Nur vor diesem Hintergrund konnte der barbarische Angriff auf Israel geschehen. Es ist unfassbar, wie sehr die USA unter Obama/Biden, die NATO und ihre imbezilen Vasallen in Deutschland und Brüssel der Sache der internationalen Stabilität im Nahen Osten geschadet haben - und damit unser Tafelsilber, die Ideen von wahrer Demokratie und Freiheit, auf lange Zeit internatinal in Verruf gebracht haben. Die Ernte, die wir dafür einfahren, wird sehr bitter und nachhaltig sein.

T. Steffen | Mo., 6. Mai 2024 - 12:40

Der Karabachkrieg fand über 1 Jahr vor dem Ukrainekrieg statt. Die ausbleibende Unterstützung Russlands hat nichts damit zu tun, dass Russland dort beschäftigt war. PM Pashinyan hat Russland bzw. die CSTO nie um Beistand gebeten. Offiziell war Armenien auch nicht im Krieg, sondern nur die Republik Artsakh, die selbst von Armenien nicht anerkannt wurde. Was sollte Russland also tun?

Die Regierung Pashinyan liebäugelte schon von Anfang an mit einer Westannäherung und wollte Bergkarabach loswerden. Verständlich ist das, da der Dauerkonflikt zur Verarmung von Armenien geführt hat, während Aserbaidschan wirtschaftlich prosperierte. Die angeblich ausbleibende Unterstützung Russlands ist eine lahme Ausrede der von der OSF massiv unterstützten Regierung Pashinyan, um von der eigenen Gleichgültigkeit ggü. Bergkarabach abzulenken. DAS sollte Gegenstand der Analyse sein und nicht das Wiederkäuen der Propaganda Jerewans.