Ilja, Maria und Gajane im Schewtschenko-Park in Kiew / Moritz Gathmann

Abendpost aus der Ukraine - Wo Anarchokommunisten das Bataillon Asow unterstützen

In Kiew blühen die Magnolien, die Menschen genießen die warmen Maitage, ohne Artillerielärm aus den Vororten und Sirenen. Doch eine Angst lässt sie nicht los.

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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So sehen sie also aus, die ukrainischen Patrioten, die ihre Heimat gegen den russischen Aggressor verteidigen. Gajane, Maria und Ilja sitzen auf einer Bank im zentral gelegenen Botanischen Garten. Gestern ist Ilja 26 Jahre alt geworden, heute feiern die Freunde zusammen.

Alle drei sind vom Film: Ilja schreibt Drehbücher, Maria ist Szenenbildnerin, Gajane Dokumentarfilmerin. Gajane ist gerade erst aus Charkiw zurückgekommen, hat über Wochen Material gesammelt über den Krieg in einem Vorort der ukrainischen Millionenstadt an der Grenze zu Russland. Sie hat dort erlebt, wie Kassettenbomben ganz in der Nähe explodiert sind, hat gesehen, was Streumunition mit Menschen macht, die davon getroffen werden.

Die drei scheinen ausgelassen an diesem warmen Frühlingstag, an dem um sie herum Magnolien blühen und Kinder gegenüber auf einem Klettergerüst spielen. „Uns geht es gut, weil wir im Park sitzen können und es keinen Fliegeralarm gibt. Aber in jedem Lächeln stecken Tränen über das, was gerade passiert“, sagt Ilja.

Der Odessit Ilja, mit schwarzen Stiefeln, Ohrring und Flickenhose, wirkt wie ein Künstlertyp, der so auch in Berlin-Kreuzberg sitzen könnte. Tatsächlich bezeichnet er sich selbst als „Anarchokommunisten“. Aber auch Ilja hat nach Beginn des Krieges rund um Kiew geholfen, Barrikaden zu bauen, die schmale Gajane war sogar mehrere Wochen in der „Territorialnaja Oborona“, der bewaffneten Bürgerwehr. „Wir sind die Etappe, der Rücken für die Soldaten“, sagt Ilja. „Wir versuchen alle, unseren Teil zum Sieg beizutragen. Und deshalb werden die Russen verlieren.“

Aber was hält er von den rechtsradikalen Mitgliedern des Asow-Bataillons? „Ich unterstütze Asow und die anderen Rechtsradikalen in der Armee, weil sie heute unsere Freiheit und damit unser Recht schützen, Linksradikale zu sein“, antwortet Ilja. Es ist eine Frage, die sich für ihn im Prinzip schon 2014 geklärt hat: „Auf dem Maidan standen wir, die Linken und die Rechten, in einer Kette. Was uns verband, war der Kampf für die Freiheit.“ Die Frage, wer Recht hat, Anarchokommunisten wie er oder die Rechtsradikalen, werde man nach dem Sieg klären. „Das ist doch das, wofür Europa steht, oder?“, fragt Ilja. „Die Demokratie, die Freiheit, zu denken, was man will.“

Ilja, geboren in Odessa, hat seine ersten Worte auf Russisch gesprochen, es ist seine Muttersprache. „Aber niemand unterdrückt mich. Niemand muss mich retten!“, sagt er im Hinblick auf die von Putin behauptete Repression russischsprachiger Ukrainer. Gajane, aus einer armenischen Familie stammend, aber in der Ukraine aufgewachsen, sagt: „Seit Beginn des Kriegs ist mir klar geworden: Ich bin Ukrainerin.“

Wie sehr sich die Ukrainer, obwohl viele von ihnen auch Russisch sprechen, von den Russen unterscheiden, ist ihnen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn endgültig klar geworden: Sie haben immer wieder mit russischen Freunden gesprochen, die gegen den Krieg sind, die sich aber nicht trauen, auf die Straße zu gehen. „Wir Ukrainer haben gezeigt, wie es geht, wie man gegen die Polizei kämpft: Einen angreifen bedeutet minus einen Polizisten und plus eine Schutzausrüstung für dich. Das müssen die Russen jetzt auch tun: Auf den Manegenplatz in Moskau, den Rücktritt Putins fordern, den Rücktritt der ganzen politischen Führung!“, sagt Ilja. Dass sie es nicht tun, hat die drei bitter enttäuscht.

Ilja schreibt seit knapp einem Jahr an einem Drehbuch für einen Film über den Dritten Weltkrieg, der in der Apokalypse endet. „Anschauungsmaterial“ hat er über die zwei letzten Monate zur Genüge bekommen. Natürlich wünschen sie alle sich ein baldiges Ende des Kriegs. Und haben gleichzeitig eine große Furcht: die Atombombe, die sie aus heiterem Himmel treffen könnte. In vielen Gesprächen in Kiew ist immer wieder vom 9. Mai die Rede, der „Tag des Sieges“. Wird Putin in den Tagen zuvor oder am Tag den Befehl zum Nuklearschlag geben, um eine Art Sieg Russlands zu demonstrieren? 

„Ich bin überzeugt, dass Putin den Befehl dazu geben wird“, sagt Gajane. „Aber wir sind Humanisten. Und deshalb hoffen wir darauf, dass es in der Befehlskette einen geben wird, der sich weigern wird, den Befehl auszuführen.“ Aber selbst wenn es passiert, werde das den Widerstandswillen der Ukrainer nicht brechen: „Wir wollen keine Kolonie der Russen sein, kein Teil des Imperiums.“

Und an diesem sonnigen Tag, mitten in der europäischen Millionenstadt Kiew, sagt Ilja, der gerade seinen 26. Geburtstag feiert, den Satz: „In dem Moment, in dem wir sterben, werden wir nicht bereuen, dass wir hiergeblieben sind.“

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Christa Wallau | Do., 5. Mai 2022 - 00:38

dieser jungen Leute erinnern mich fatal an so viele andere Situationen in der Geschichte, in denen es gelang, Jugendliche u. junge Erwachsene zuhauf für den Kampf für eine "gute Sache" (unter der im Grunde jeder etwas anderes verstand) zu begeistern und zusammenzuführen.

Das Bekenntnis dieser drei Anarcho-kommunisten zu Freiheit, Humanismus u. absoluter Selbstbestimmung ist rührend und zugleich erschütternd naiv.
Denn: Werden sie wirklich (falls die Ukraine als Sieger aus diesem Krieg hervorgeht) genau d i e Freiheit und Selbstbestimmung bekommen, nach der sie sich so sehnen?
Natürlich nicht!
Sie werden mit Sicherheit - falls sie den Krieg überleben - schwersten Belastungen und heftigsten Verteilungskämpfen ins Auge sehen, wenn ihr Land wieder aufgebaut werden muß und die Stunde der vielen Kriegsgewinnler schlägt.
Ich bezweifle, daß es in der Nachkriegs-Ukraine dann noch einen Platz für Anarcho-Kommunisten geben wird.

Man muss sich das mal klarmachen: In der Partei, die Sie für die einzig wählbare halten, werden Flüchtlinge als "Invasoren" bezeichnet, die systematisch eingeschleust werden, um Deutschland zu zerstören. Auch Sie beschreiben diese vermeintliche Gefahr in drastischen Formulierungen und haben ausdrücklich einen AfD-Politiker (M. Krah) gelobt, der erklärte: "Wir schießen den Weg frei. Es gibt nur uns. Ansonsten geht alles den Bach runter!".
Wenn aber russische Soldaten in die Ukraine einmarschieren, dort Städte in Schutt und Asche legen und systematisch Zivilisten massakrieren, dann heucheln Sie Sorge um die Zukunft von ukrainischen Anarcho-Kommunisten.
Die "Belastungen", die Sie durch den Wiederaufbau auf junge Ukrainer zukommen sehen,
dürften ziemlich überschaubar sein im Vergleich zu dem, was diese Menschen unter russischer Besatzung erwartet, wenn man sich ansieht, wie repressiv das Regime im eigenen Land vorgeht:

https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/russland-2021

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Marc Schulze | Do., 5. Mai 2022 - 01:15

Wenn links- und rechtsradikale Eiferer gemeinsam für „Freiheit“ kämpfen, würde ich, als Liberaler, ganz schnell die Koffer packen. Meine Vorstellung von Freiheit wäre für solche Gestalten Defätismus, und ich dann wohl der Erste, der an einer Laterne baumelt.

Walter Bühler | Do., 5. Mai 2022 - 09:06

Herr Gathmann erinnert daran, dass in der Ukraine viele russischsprachige Menschen und viele andere Nationalitäten leben, und dass es in der ukrainischen Armee Rechtsradikale gibt (Asow-Bataillon). Unter den drei Interviewten führen der "Russe" Ilja und die Armenierin Gajane das Wort. Lange vor der russischen Invasion haben sie ein Filmprojekt über die Apokalypse im 3. Weltkrieg begonnen. Sie fürchten, dass am 9. Mai die ausländischen Russen eine Atombombe auf Kiew werfen werden und so ihr Filmprojekt zur Realität wird.

Das Interview malt eine ukrainische Idylle aus, wo Anarchisten und Faschisten gemeinsam für das Gute kämpfen.

Auf Deutschland übertragen: Antifa, NSU, NPD und ZfpS kämpfen brüderlich Seit an Seit. Horst Mahler hätte vielleicht an einer solchen Konstellation seine Freude gehabt, aber sonst ist das in Deutschland schlicht unvorstellbar, wo ja schon die biedere AfD als der leibhaftige Teufel gilt.

Wird so die Ukraine zum humanistischen Modellstaat für ganz Europa?

Bernd Windisch | Do., 5. Mai 2022 - 09:09

längst Partei und zu einer neutralen Beobachtung des faktischen Kriegsgeschehen ausser Stande. Die Romantisierung fanatisierter Jugendlicher ist mehr als grenzwertig.

„In dem Moment, in dem wir sterben, werden wir nicht bereuen, dass wir hiergeblieben sind.“

„Seit Beginn des Kriegs ist mir klar geworden: Ich bin Ukrainerin.“

Der gesunde Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist darauf ausgerichtet sich mit erster Priorität am Leben zu erhalten und danach erst weitere Ziele zu verfolgen.

Fanatismus hingegen ist in aller Regel von einer Idee besessen und verfolget sein Ziel ohne viel Überlegung. Auch die eigenen Interessen werden ausgeblendet. Wer fanatisch ist, lässt nichts mehr neben sich gelten, schon gar keine Menschen, die anders denken als er selbst.

Junge Fanatiker marschieren auf allen Seiten mit wehenden Fahnen in den Krieg für Putin und Lawrow und wohl auch für Selenskyj und Melnyk nicht aber für ihre Heimat oder gar sich selbst!

vielleicht, weil er Russland und jetzt die Ukraine aus der Nähe erlebt hat?

Im Gegensatz - so vermute ich mal - zu Herrn Windisch. Dessen "Putinversteherei" wohl dem vielbeschäftigten "gesunden Menschenverstand" geschuldet ist?

IRONIE Ende.

Dafür mal wieder dolle Erkenntnisse am Ende Ihres Beitrags: Ja für wen ziehen sie denn nun in den Krieg?

Die Russen, weil man es ihnen befohlen hat, und weil sie wahrscheinlich Opfer der jahrzehntelangen Putin-Gehirnwäsche sind, wie übrigens auch so mancher hier im Westen.

Und die Ukrainer? Nicht für die "Heimat", regiert und präsentiert u.a. durch den gewählten Herrn Selensky?

Ach nein, wahrscheinlich für das Pentagon. Denn die Ukrainer, so die Putin-Versteher, verteidigen ihr Land ja stellvertretend für die USA.

Vorwärts immer, rückwärts nimmer.

Ihr verstaubtes "für Volk und Vaterland" hat schon im deutschen Kaiserreich nicht gestimmt und stimmt heute erst recht nicht.

Die Ukraine kann diesen Krieg nicht gewinnen. Sollten die USA diesen Krieg tatsächlich zum Stellvertreterkrieg mit Russland eskalieren dann gute Nacht Ukraine und Europa. Spätestens dann werden Frau Baerbock und wir lernen was wirklich hohe Preise sind.

Sie verstehen leider nicht nur Putin nicht.

Gerhard Lenz | Do., 5. Mai 2022 - 09:24

wurde gemeinsam von Demokraten und Kommunisten, also linken Radikalen bekämpft. Die Resistance in Frankreich umfasst sowohl Kommunisten als auch Konservative, Liberale, Sozialisten, ja angeblich sogar ein paar rechte Nationalisten - viele Rechtsaussen hatten sich bekanntlich mit den Nazis arrangiert.

Unterschiede kann man höchstens halluzinieren: Die Linksradikalen in der Ukraine führen doch keinen marxistischen Abwehrkampf, die Rechtsextremisten keinen sozial-nationalen: wenn russische Bomben fallen, wenn russische Panzer Wohnhäuser oder Krankenhäuser beschießen, spielt die Gesinnung des Opfers keine Rolle.
Es ist doch nicht so, dass ukrainische Nazis und Rechtsextremisten den nicht weniger extremistischen Nationalismus des Schlächters Putin teilen, ihm zustimmen oder ihn gar in der Sache unterstützen (was sowieso der Idee des Nationalismus zuwiderläuft..).

Gegensätze werden erst wieder aufbrechen, wenn Frieden herrscht. Und hoffentlich demokratisch entschieden wird.

Walter Bühler | Fr., 6. Mai 2022 - 11:23

Antwort auf von Gerhard Lenz

In D hat sich aus der historischen Erfahrung zu Recht ein tiefes Misstrauen gegen politische Haltungen entwickelt, die sich patriotisch an der Liebe zum eigenen Volk und Land orientieren, aber dennoch andere Völker ignorieren, diskriminieren oder gar verteufeln. Man hat zwar schnell gelernt, dass keine Demokratie ohne ein gewisses Maß von Patriotismus auskommt. Dennoch hat sich der Antifaschismus in einen Monopolanspruch verwandelt, mit dem alte Parteien neue, am Patriotismus orientierte Parteien aus der Politik ausgrenzen wollen.
In der heutigen Ukraine gilt Bandera als Nationalheld, obwohl er (wie viele andere) mit Hitler zusammengearbeitet hat. Die Traditionen der 1. galizischen Divison werden bis heute gepflegt (Asow-Bataillon).
In D wäre das (hoffentlich) undenkbar. Eine unkritische Begeisterung für den ukrainischen Freiheitskampf ist in D wohl kaum mit einer antifaschistischen Grundhaltung zu vereinbaren.

Tomas Poth | Fr., 6. Mai 2022 - 16:14

Antwort auf von Gerhard Lenz

Profunde Kenntnisse die Sie hier ausbreiten.
Die Kämpfer der kommunistische Rot-Front Bewegung waren die einzigen die sich Straßenschlachten mit den Braunhemden lieferten!
Die Arbeitnehmerschaft selbst war leider total gespalten.
Nicht zu vergessen, Hitler wurde von der Arbeitnehmerschaft gewählt! Ohne deren Stimmenmehrheit wäre er nicht an die Macht gekommen!
Von ihm und den National-Sozialisten versprach man sich am Ende der Weltwirtschaftskrise offensichtlich mehr als von den SPD-Sozialisten und den International-Sozialisten (KPD).

Jochen Rollwagen | Do., 5. Mai 2022 - 09:36

was dieser Krieg mit den Menschen in der Ukraine macht. Da sitzen sie, ein Häufchen Elend, verhärmt, hoffnungslos, völlig am Ende, offensichtlich schwer traumatisiert, nur noch leere Hüllen einer menschlichen Existenz zwischen den zerbombten Häusern und den von den russischen Dauer-Bombardements des Dämonen Putin in Schutt und Asche gelegten Trümmern.

Schlimm das.

Wenn die Deutschen immer noch nicht merken wofür sie hier gerade verheizt werden ist da wirklich nicht mehr zu helfen.

Joachim Kopic | Do., 5. Mai 2022 - 10:04

Man braucht nur Pfützen anzusehen: An den Rändern sammelt sich der Dreck! Links, wie rechts ... sogar "oben" und "unten" ;)