- Die Reform des Islam muss scheitern
Die Anhänger des reformierten Islam stehen vor einem Dilemma: Sie ignorieren problematische Stellen im Koran einfach oder erklären sie für nicht mehr zeitgemäß. Damit stellen sie jedoch die Religion selbst infrage. Der Ausweg kann nur in einer Bildungsreform liegen
Zu diesem Text hat der islamische Theologe Mouhanad Khorchide eine Replik verfasst.
Der westliche Ruf nach einer Reform des Islam wird immer lauter. Derweil scheint die deutsche Regierung – innenpolitisch – einen mehrfachen Ansatz zu verfolgen: Zum einen will man offenbar mit dem Diktum »Der Islam gehört zu Deutschland« und entsprechenden symbolischen Gesten die Integrationsbereitschaft der muslimischen Minderheit erhöhen. Zugleich wird zumindest mit sanften Mitteln eine theologische Reformierung des Islam gefördert, die ihn von seiner Scharia-Last befreien soll.
Eine theologische Reform, die den Islam auf seine spirituellen und ethischen Dimensionen zu reduzieren versucht, ist aber auf intellektuell ehrliche Art und Weise nicht zu haben. Die von deutschen Intellektuellen hochgelobten »humanistischen« Lesarten des Korans stoßen bei muslimischen Gemeinden vielmehr auf Widerstand.
Der Koran ist mehr als Weltanschauung
Der Koran ist nicht nur ein Buch über Gott, den Sinn des Lebens und das Jenseits. Darin werden auch zahlreiche verbindliche Regelungen für das Diesseits getroffen. Neben Anweisungen über den heiligen Krieg finden wir etwa ehe-, scheidungs-, erb- und strafrechtliche Vorschriften. Viele davon sind mit modernen Wertvorstellungen kaum in Einklang zu bringen.
Zum Beispiel: Die Töchter erhalten von der Erbmasse nur halb so viel wie die Söhne. Der Mann darf mehrere Ehefrauen haben und sie unter Umständen schlagen. Kriegsführer gegen Allah und seinen Gesandten sowie Unheilstifter müssen getötet, gekreuzigt, körperlich verstümmelt oder vertrieben werden. Als Strafe für Totschlag wird die Todesstrafe oder die Zahlung eines Blutgeldes nach Wahl der Opfer-Familie festgesetzt. Entsprechendes gilt auch bei Körperverletzungen; das Opfer kann sich mit einer Zahlung begnügen oder die gleichmäßige Verletzung des Täters verlangen. Die Strafe für außerehelichen Geschlechtsverkehr ist die Geißelung mit hundert Hieben, zumindest der ledigen Sünder. Die Steinigungsstrafe bei Ehebruch steht nicht im Koran, dafür aber in den Propheten-Überlieferungen. Dem Dieb schließlich wird die Hand abgehackt.
Unmittelbares Wort Gottes
Gewiss, ähnliche Vorschriften finden wir auch in der Bibel. Anders als das christliche Verständnis von der Bibel ist der Koran aber nach eigener Behauptung unmittelbares Wort Gottes. Der Sprecher ist Gott persönlich. Der Koran wurde also nicht von einem Menschen durch göttliche Inspiration verfasst, so dass in den Text eigene Vorstellungen mit einfließen konnten. Er ist vielmehr die direkte und wörtliche Gottesrede. Die Anordnungen im Koran werden nicht in Erzählungen eingebettet, sondern als unmittelbare, imperative Rede ausgesprochen. Muslimische Theologen haben daher nicht die gleichen Spielräume wie die christlichen Exegeten.
Tatsächlich gibt es noch Muslime, die an dem Ziel festhalten, die Scharia eines Tages einzuführen. Und das sind bei weitem nicht nur die Gewaltbereiten. Die meisten Muslime in Europa und in der Türkei würden aber die Anwendung dieser Vorschriften nicht ernsthaft wollen. Videos aus islamisch regierten Ländern, in denen die Vollstreckung koranischer Strafen zu sehen ist, erregen auch bei ihnen Abscheu.
Strategie Nummer eins: Unbequemes wird verschwiegen
Also werden unbequeme Passagen einfach totgeschwiegen. Moderate Muslime konzentrieren sich auf die erbaulichen, spirituellen oder ethisch motivierenden Stellen. Fast alle wissen zwar, dass es da auch noch »die anderen Stellen« gibt. Sie spielen aber in der Praxis keine Rolle.
Es ist eine stille Reform durch Ignoranz. Ihr Nachteil ist, dass das verdrängte Wissen sehr leicht reaktiviert werden kann. Dazu braucht man keine Extremisten. Es reicht ein konservativer Imam, der die Gemeinde in frommer Absicht vor einem halbierten Glauben warnt und die unliebsamen Stellen wieder in Erinnerung ruft.
Gibt es aber einen Weg, die Ablehnung etwa der Strafvorschriften mit dem islamischen Glauben zu vereinbaren, ohne die betreffenden Stellen zu ignorieren? Reformtheologen bieten gleich zwei.
Strategie Nummer zwei: Neuübersetzung als Neuinterpretation
Erstens: Manche Reformer ändern die Bedeutung der unzeitgemäßen Koranverse einfach ab. Die Fälschung geschieht meist im Zuge der Übersetzung, zuweilen aber auch durch Interpretation. Peinlicherweise müssen diese Interpreten behaupten, dass die entsprechenden Stellen vierzehn Jahrhunderte lang von allen arabischen, persischen, türkischen, indischen Gelehrten sämtlicher Richtungen und Rechtsschulen missverstanden wurden.
In seinem Buch »Islam ist Barmherzigkeit« führte zum Beispiel Mouhanad Khorchide aus, Muslim im Sinne des Korans sei jeder, der mit seinem barmherzigen Verhalten gegenüber anderen Geschöpfen »Ja« zu Gottes Liebe sagt, »auch wenn er nicht bewusst an Gott glaubt«. Dabei ließ er freilich alle Koranverse, die seiner weiten Muslim-Definition eindeutig widersprechen, einfach weg, von zahllosen Hadithen ganz zu schweigen. Inzwischen hat der Autor in der neuen Taschenbuchausgabe die betreffenden Stellen überarbeitet, ohne dass wirklich klar wird, ob er seinen Standpunkt revidiert hat oder nicht.
Dass muslimische Gemeinden solche Aussagen strikt von sich weisen, ist nicht Ausdruck einer besonders fundamentalistischen Gesinnung. Diese Ablehnung folgt aus der Glaubensprämisse, dass der Koran die Rede Allahs ist. Selbstverständlich eröffnet der Koran einen weiten Raum für unterschiedliche Auslegungen. Dennoch gibt es eine Grenze zwischen noch vertretbaren und nicht mehr vertretbaren Interpretationen. Auch darüber, wo diese Grenze verläuft, kann man streiten. Eine Auslegung aber, wonach Muslime auch rechtschaffene Non-Theisten sein könnten, scheint nicht mehr diskussionswürdig. Es nützt niemandem, den Koran dermaßen zu entstellen, um dann unter westlichem Beifall muslimischen Kritikern Rückständigkeit vorzuwerfen.
Strategie Nummer drei: Problematische Stellen werden für ungültig erklärt
Zweitens: Die problematischen Stellen werden anerkannt, aber durch historische Kontextualisierung als nicht mehr verbindlich erachtet. Diese Methode geht unter anderem auf den pakistanischen Gelehrten Fazlur Rahman (1919-1988) zurück, heute zählen die Theologen Ömer Özsoy aus Frankfurt und Mustafa Öztürk aus der Türkei zu ihren wichtigsten Vertretern. Auch Mouhanad Khorchide aus Münster wirbt, wenn auch inkonsequent, für diese historische Lesart. Ihre zentralen Thesen: Die Bestimmungen des Korans richteten sich in ihrer konkreten Form an die Araber des 7. Jahrhunderts. Die bereits bestehenden Sitten und Bräuche dieser Erstadressaten dienten dabei unleugbar als Grundlage. Universelle Gültigkeit haben daher nicht die konkreten Vorschriften im Koran, sondern die dahinter liegenden eigentlichen Botschaften. Muslime im 21. Jahrhundert müssten also neue Regelungen finden, die diesen überzeitlichen Botschaften im Hier und Jetzt am besten gerecht werden.
Dabei stellen auch diese Erneuerer grundsätzlich nicht infrage, dass der Koran wörtliche Gottesrede ist. Das ist der entscheidende Unterschied zur historisch-kritischen Bibelauslegung! Von der großen Mehrheit der Muslime wird eine generelle historische Relativierung koranischer Vorschriften dennoch als offene Häresie abgelehnt. Im Koran finden wir nämlich keine einzige Stelle, die eine generelle Aufhebung der Vorschriften legitimieren könnte. Stattdessen wird ausdrücklich erklärt, kein Muslim habe ein Recht auf eigenes Ermessen, wo Allahs Entscheidung gefallen sei (33:36). Das Urteil über alle Uneinigkeiten stehe allein Allah zu (42:10). Allah ordne an, was er wolle (5:1). Wahre Gläubige würden lediglich »wir hören und wir gehorchen« rufen (24:51). Etwas könne den Menschen zuwider sein, während es eigentlich gut für sie ist; denn allein Allah wisse, was gut für sie ist (2:216). In vielen Koranversen wird ein Abweichen von konkreten Anordnungen strengstens untersagt.
In einem Vers (5:43) wird sogar eine jüdische Gemeinde scharf kritisiert, weil sie eine bestimmte Strafnorm der Tora nicht anwendet. Nach islamischem Verständnis wurde die Tora etwa zweitausend Jahre vor Mohammed dem Propheten Moses offenbart. Sie sei zwar mit der Zeit teilweise verfälscht worden, enthalte aber immer noch einige authentische Vorschriften und Verkündigungen. Wenn also der zeitliche Abstand ein Abweichen von konkreten Vorschriften rechtfertigen würde, warum sollten dann die Juden für die Nichtbefolgung einer Strafnorm gerügt werden, die sie damals vor zweitausend Jahren erhalten hatten?
Die historische Auslegung führt zur Selbstaufhebung des Islam
Aus muslimischer Binnensicht spricht gegen die historische Lesart ferner, dass sie einer Selbstaufhebung des gesamten Islam Tür und Tor öffnet, was den Gelehrten und Imamen der muslimischen Verbände natürlich nicht entgeht. Denn nicht nur die problematischen, sondern alle Anordnungen des Islam wären von dieser Herangehensweise betroffen.
Quellen berichten, dass beispielsweise die rituellen Waschungen, bestimmte Körperhaltungen des Gebets, das Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Umschreiten der Kaaba, das Einkleiden des Verstorbenen in sein Totengewand – also nahezu alles, was heute als islamisch gilt, bereits von den polytheistischen Arabern der vorislamischen Zeit praktiziert wurde. Nach historischer Lesart muss Allah auch hierbei die vorislamischen Traditionen der Araber berücksichtigt haben. Womöglich war das notwendig, um die Götzenanbeter möglichst schonend mit vertrauten Praktiken zu einem monotheistischen Glauben hinzuführen. Warum, so könnte man mit dem Rückenwind der historischen Auslegung fragen, sollte es für einen Muslim immer noch eine religiöse Pflicht sein, diese ursprünglich heidnischen Rituale zu praktizieren?
Anderes Beispiel: Das Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs sollte damals die Abstammungslinien erkennbar machen. In der arabischen Stammesgesellschaft zur Prophetenzeit war dies von struktureller Bedeutung für das gesamte soziale Gebilde. Heute haben wir aber zuverlässige Verhütungsmethoden und Vaterschaftstests. Warum sollte es also heute noch Sünde sein, wenn zwei erwachsene und ledige Muslime geschützten Sex haben, ohne sich langfristig aneinander binden zu wollen?
Die Vertreter der historischen Lesart können keine überzeugenden Argumente dafür bieten, warum ihre Methode nur die problematischen Vorschriften betreffen soll – außer natürlich der Tatsache, dass diese Vorschriften als problematisch angesehen werden.
Außerdem wäre zu fragen, warum Allah keine neuen Gesandten mit aktuellen Geboten geschickt hat, wenn die Anordnungen im Koran gar nicht überzeitlich gemeint waren. Warum durften die Erstadressaten das Privileg genießen, genau auf sie zugeschnittene Vorschriften zu erhalten, während nachfolgende Generationen mühsam die »wahren Absichten« hinter diesen Vorschriften finden müssen?
Anhänger eines reformierten Islam werden es schwer haben
Und gewährleistet eine ehrliche historische Lesart mit dem Ziel, die überzeitlichen Botschaften herauszudestillieren, tatsächlich die erwünschten Ergebnisse? Was ist zum Beispiel mit Koranversen, die Friedfertigkeit und Duldsamkeit gegenüber Ungläubigen anmahnen? Sie stammen größtenteils aus der mekkanischen Periode, in der die Muslime noch in der Minderzahl waren. Alle kriegerischen Passagen gehören zur medinensischen Periode. Als Gläubiger könnte man daraus die Botschaft ableiten: »Seid duldsam, solange ihr noch schwach seid. Ergreift die Herrschaft, sobald ihr das könnt«. Gemeint wäre nicht die Tötung aller Ungläubigen, sondern die notfalls gewaltsame Etablierung der islamischen Herrschaft über alle anderen. Eine solche Lesart, die den jeweiligen »historischen Kontext« einzelner Koranpassagen berücksichtigt und die sich nebenbei auf eine lange Tradition gelehrter Koranexegese stützt, wäre argumentativ jedenfalls nicht minder vertretbar als die friedliebenden Lesarten.
Die Erneuerer werden es also schwer haben, die Gemeinden zu überzeugen. Die Politik scheint sich derweil von mehr Islamunterricht in den Schulen mehr Einfluss auf die religiösen Einstellungen zu erhoffen. In vielen Bundesländern ist eine Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts geplant. Das Ziel ist wohl, durch passende Besetzung der Lehrstühle, die mit der Lehrerausbildung betraut sind, einen reformierten Islam nach westlichem Verständnis zu formen. Unter anderem aus den skizzierten Gründen wird diese Rechnung wahrscheinlich so einfach nicht aufgehen.
Religiöse Ghettos bekämpfen
Die Politik sollte nicht auf Reformtheologien, sondern lieber auf die normative Kraft des Faktischen setzen – also religiöse Ghettos räumlicher und geistiger Art bekämpfen. Dass eine Schulklasse, die gerade noch gemeinsam Mathematik-Aufgaben löste, sich plötzlich in drei oder vier Gruppen aufteilt, weil die Glocke zum Religionsunterricht läutet, ist nichts anderes als eine staatlich finanzierte Ghettoisierung. Warum richten wir uns nicht nach dem Modell, das an der Theodor-Heuss-Schule in Offenbach für die elfte Jahrgangsstufe erfolgreich umgesetzt wurde: ein gemeinsamer Religions- und Ethikunterricht für alle!
Kein noch so gut gemeinter Unterricht eines liberalen Religionslehrers kann für das Einüben religiöser Toleranz wirksamer sein als der gemeinsame Unterricht in Religion und Religionskritik. Andererseits kann kein fundamentalistischer Lehrer in jungen Köpfen so hohe Mauern gegenüber »den anderen« errichten wie sie durch die Erfahrung entstehen, jedes Mal, wenn der Religionsunterricht beginnt, in homogene Gruppen aufgeteilt zu werden.
Für eine ausführliche Analyse der liberalen Koranauslegungen: Ufuk Özbe, Kritik der liberalen Auslegungen des Islam – Die Islamdebatte zwischen politischer Zweckmäßigkeit und intellektueller Redlichkeit, in: Aufklärung und Kritik, Sonderdruck zur Ausgabe 1/2016.
Lesen Sie auch die Replik von Mouhanad Khorchide.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.