- Obama ins Abseits genörgelt
Am 6. November wählt Amerika seinen Präsidenten. Achtzig Prozent der Deutschen würden für den Demokraten votieren. Die Politik in Berlin scheint das nicht zu interessieren. Auch die Leitartikler und Korrespondenten der Medien nörgeln Obama geradezu ins Abseits
Wir können nicht mitwählen, leider. In wenigen Tagen, am 6. November, werden etwa einhundert Millionen Wähler an den Wahlurnen in den USA darüber entscheiden, ob Barack Obama Präsident bleiben und eine zweite Amtszeit antreten kann – oder ob der Republikaner Mitt Romney ihn ablöst. Mehr als achtzig Prozent der Deutschen, aber auch eine breite Mehrheit der Europäer insgesamt würden klar für den Demokraten votieren. Allein das schon enthält eine interessante Botschaft. Aber wie erklärt sich, dass es die Politik in Berlin nahezu nicht zu interessieren scheint, und dass auch die Leitartikler und Korrespondenten der Medien – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Obama geradezu ins Abseits nörgeln? Sie bereiten uns ja nicht nur auf einen Machtwechsel vor, sondern es klingt inzwischen auch ein gelangweilter, ressentimentgeladener Unterton durch, als habe er seine Abwahl herzlich verdient.
Natürlich kann die Politik, sprich Angela Merkel, aber auch die Opposition, sich darauf zurückziehen, dass man die Wahlen jenseits des Atlantik ohnehin nicht zu beeinflussen vermöchte. Man muss es nehmen, wie es kommt. Der Satz enthält dennoch nur die halbe Wahrheit. So dilatorisch, nach Laune und augenblicklicher Zweckmäßigkeit die deutsch-französische „Achse“ behandelt wird (davon war vor einer Woche an dieser Stelle die Rede), so desinteressiert zeigt sich die Berliner Politik, voran die schwarz-gelbe Regierung, an einer wirklich sorgsam gepflegten, krisenimmunen, wasserdichten Koalition mit Washington. Das heißt ja gerade nicht: stummes Mitmachen, opportunistische Gefügigkeit!
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Hinzufügen müsste man übrigens, dass es auch keine „Russlandpolitik“ im klassischen Sinne gibt, und einen Schulterschluss mit Warschau ebenso wenig. Der vorherrschende Autismus – um nicht von einer nationalen Selbstbespiegelung zu sprechen – wird nur gelegentlich unterbrochen mit pathetischen Worten, so wie bei der Verleihung der freedom-Medaille an Angela Merkel in New York; und man pflegt natürlich auch die Abendessen mit Francois Hollande oder die Kanzlerin trinkt auch mal einen Rotwein mit Donald Tusk. Dann aber vergisst sie, Polen mit an den Tisch zu bitten, wenn es um die Zukunft des Euro geht, obwohl die Nachbarn von der Weichsel europäisch zuverlässiger agieren als viele Mitglieder des Euro-Clubs. Auch wenn es sich also um eine generelle Unfähigkeit handelt, tragfähige, dauerhafte Koalitionen zu schmieden – hier soll die Rede nur von der einen Koalition sein, jener mit den Vereinigten Staaten.
Wo bleibt denn der deutsche „partner in leadership“, wie die Formel von Prsäident Bush senior einmal auffordernd, herausfordernd lautete? Gerne versteckt man die eigene Nonchalance in Sachen USA – Jahrzehnte ein Pfeiler im Grundverständnis der deutschen Politik – hinter der larmoyanten Schutzbehauptung, Präsident Obama habe sich doch schließlich ausdrücklich den neuen, heraufdämmernden Supermächten vor allem in Asien und im Pazifik zuwenden wollen, China und Indien, Indonesien, Malaysia, Australien oder eben Brasilien und Argentinien, Amerika insgesamt wende sich von Europa ab. Das trifft nicht den Kern. Erstens predigt auch hierzulande jeder auch nur halbwegs informierte Buchautor oder Journalist, dass es auf dem Globus neue Zentren gebe, große player, die ernst zu nehmen sind. Wenn Pekings Regierungschef der deutschen Kanzlerin bedeutet, Griechenland dürfe nicht aus dem Euro herausfallen, dann ist das mehr als ein freundlicher Rat – man kann dann fast sicher sein, dass brav an einem Rettungsschirm gebastelt wird für Athen. Warum sollte Washington, bitte sehr!, die asiatischen Mächte weniger ernst nehmen als wir, zumal es für Amerika mehr als für uns neben den ökonomischen auch um sicherheitspolitische Interessen geht, wenn sich beispielsweise Spannungen zwischen Tokio und Peking um kleinste Inseln aufbauen?
Seite 2: Obama, der „europäischste“ Präsident
Zweitens aber, und wichtiger: Obama ist der „westlichste“, ja der „europäischste“ Präsident, den man sich vorstellen kann, mindestens so wie Bill Clinton. Dem widerspricht nicht seine Haltung, die er im Libyen-Konflikt demonstrierte, dass die Europäer vor ihrer Haustür selber kehren sollten. Er traut ihnen ernsthaft mehr Eigenverantwortung zu. Man kann nur leider nicht behaupten, dass die Europäer den Ball auch nur aufzufangen versucht hätten. Die deutsche Politik insbesondere hat keinerlei Versuch unternommen, nach dem desaströsen Irak-Krieg und dem Debakel, das die Jahre der Präsidentschaft George Bushs junior gerade für Europa bedeuteten, einen eigenen Beitrag zur Neudefinition des „Westens“ zu leisten. Gerhard Schröders „Ja“ zur Intervention in Afghanistan – die letztlich auch gescheitert ist – sowie sein „Nein“ zum Krieg gegen Saddam Hussein haben in unserer Kommentatorenzunft zwar das Echo ausgelöst, damit hätten wir uns nun endgültig als loyaler Bündnispartner verabschiedet. Wir schuldeten Amerika Dank seit der Invasion in der Normandie gegen Hitler und vergäßen das nun, hieß es seinerzeit jammernd. In den nächsten Jahrzehnten werde kein amerikanischer Präsident mehr einem deutschen Regierungschef die Hand schütteln.
Es kam bekanntlich anders. Auch aus US-Sicht erwies sich der Krieg im Irak als Fehler. Die Europäer, das zeigte sich, hatten Glück, dass die kleine Koalition Schröder/Chirac sich dem Krieg verweigerte. Dass sie „Nein“ gesagt hatten, erwies sich als politische Weitsicht und Stärke. Daraus allerdings wäre auch der Auftrag erwachsen, sich an der Rekonstruktion des transatlantischen Verhältnisses aktiv zu beteiligen – wenn man denn meint, dass der „Westen“ nicht eine Leerformel geworden sei, auf die man verzichten kann. Aber Berlin kommentierte nur müde vom Spielfeldrand aus, und Obama machte verständlicherweise einen Bogen um die „mächtigste Frau der Welt“.
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Mitt Romney, das muss man – drittens – hinzufügen, hat sein Rennen mit Thesen wie diesen bestritten, Obama „bezieht seine politische Inspiration aus Europa, und von den sozialistischen Demokraten Europas“. Er spielte nicht nur auf Obamas „Anderssein“ an, um bei bestimmten (rassistischen) konservativen Wählern zu punkten; er fügte auch hinzu, Obamas Liberalismus stehe in Konflikt mit der einzigartigen amerikanischen Tradition des Individualismus. Kurzum, Obama wurde als Europäer denunziert, der vom kraftstrotzenden Selbstvertrauen amerikanischen Unternehmergeistes nichts halte und sich beim Beschaffen von Jobs oder sozialen Sicherheitsgarantien nur auf den Staat verlasse. Daran war nur soviel richtig: einen im Denken „europäischeren“ Präsidenten werden wir wohl lange nicht mehr erwarten können in den Staaten. „Die Wahl ist klar“, schrieben die Herausgeber des New Yorker gemeinsam und in leidenschaftlicher Diktion, „das Romney-Ryan-Ticket repräsentiert eine beengte und rückwärtsgewandte Vision Amerikas: die Privatisierung öffentlicher Güter . . . Die Zukunft, die Romney repräsentiert, haben wir bereits gesehen, und sie funktioniert nicht.“
Hat irgendjemand gehört, dass Berliner Politiker sich auch nur die Mühe gemacht hätten, die Diffamierungen des europäischen Sozialmodells aus dem Mund Romneys, ja die Denunziation Obamas als „kollektivistischer“, staatsbesessener Europäer entschieden zurückzuweisen? Hat sich hierzulande, wo man so gerne von „Werten“ schwadroniert, jemand besorgt gezeigt, diesen amerikanischen Disput aufzugreifen und herauszufiltern, was das „europäische Amerika“ Obamas und das „amerikanische Europa“ verbindet? Nein, die Politik hat, pauschal gesprochen, sich auf’s Zusehen beschränkt, sie verhielt sich geradzu voyeuristisch.
Seite 3: An Barack Obama und an Angela Merkel werden zweierlei Maßstäbe angelegt
Und der Journalismus? Er quengelt sich zu Tode. Motto: Barack Obama hat dies versäumt und jenes versprochen, aber nicht gehalten. Er hält gerne Reden, aber setzt nichts um. Er setzt um, aber das Falsche. Er schließt faule Kompromisse. Er hätte sich auf Kuhhandel mit den Republikanern nicht einlassen dürfen. Er führt den Kampf mit der Wall-Street nicht zu Ende. Er ist ein Gegner der Wall-Street. Er zieht den Gegnern weltweit keine roten Linien. Mit den Drohnen, die er heimlich einsetzt, bewegt er sich außerhalb jeder Legalität. Er lässt Benjamin Netanyahu im Konflikt mit dem nach Atomwaffen strebenden Iran hängen. Er sucht zu engen Schulterschluss mit Netanyahu. Er müht sich um Gespräche mit dem Iran, die nichts nutzen. Er droht dem Iran, ohne Strategie. Kurzum, der schwarze amerikanische Demokrat dient als Projektionsfläche für alles und jedes, jeder kann sich sein Mütchen an ihm kühlen.
Dass Obama einer fundamentalistischen Opposition ausgesetzt war, dass die Tea-Party über Jahre die Melodie vorgab, dass immer frecher auch rassistische Untertöne durchschlugen, dass eine Depression fast wie 1929, das wirtschaftliche Erbe aus den Bush-Jahren samt Rekordverschuldung nicht per Knopfdruck zu beseitigen sind – dafür blieb wenig Verständnis. Ja, auch die Journalisten haben sich zu häufig zu gern als Voyeure betätigt, die so tun, als gehe es nur darum, Zensuren zu verteilen – aber ansonsten ist Amerika ja weit weg.
Legte man derlei kritische Maßstäbe für einen Moment an die Berliner Regierenden an, sähe die Welt ziemlich anders aus. Angela Merkel sitzt eine Opposition gegenüber, die ihr das Leben vergleichsweise geradezu komfortabel gestaltet. Eine plausible außenpolitische Linie sieht man nicht. Den Kampf um mehr Kontrolle der Finanzmärkte und der Banken hat ihre Koalition abgeblasen, bevor er begann. Ihre Methode der „Euro-Rettung“ hat in Südeuropa zu einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale geführt, von vielen Ökonomen exakt so vorausgesagt, die diese Gesellschaften fast zerreißt. Die Politik bleibt weithin erklärungslos, und das zu Zeiten, die nach einem Wort Amartya Sens „Regieren durch Diskutieren“ verlangen. Gemessen an der bisherigen Bilanz der schwarz-gelben Koalition mit ihrer seltsamen Prinzipien- und Richtungslosigkeit sowie dem kleinen Format, nimmt sich die Performance der Washingtoner Administration sogar überraschend attraktiv aus, aus der Ferne zumindest. Bei den Umfragen steht die Kanzlerin der durch alle Wenden hindurch jeweils neu „alternativlosen“ Politik jedoch so hoch im Kurs, wie sie von den Medien seit Jahren katapultiert wird.
Kurzum: An Barack Obama und an Angela Merkel werden zweierlei Maßstäbe angelegt. Sie lebt und agiert fast in einer kritikfreien Zone. Wir können nicht wählen am 6. November, aber das Datum gibt Anlass, sich über diese Diskrepanz Gedanken zu machen. Etwas funktioniert nicht – vor allem bei uns. Das meckernde, herablassende, voyeuristische und däumchendrehende Desinteresse von Politik und Medien an der Regierungskunst in Washington hat Barack Obama ganz gewiss nicht verdient.
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