- Gewalt ohne Auslöser
Seit Anfang Oktober ereigneten sich mehr als 30 Angriffe von Palästinensern auf Israelis. Doch wer nun nach „beiderseitiger Mäßigung“ ruft, macht es sich zu einfach. Judith Hart klärt über die komplexen politischen Hintergründe der Taten auf
Kein Tag vergeht ohne oft tödliche Attentate auf Israelis, die meisten von ihnen Zivilisten - das seit nunmehr drei Wochen. Schon ist die Rede von einer „dritten Intifada“. Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied. Die neue Gewalt hat keinen Auslöser, und sie ist (noch) nicht organisiert.
Die erste Intifada begann im Dezember 1987 mit spontanen Protesten im Flüchtlingslager Dschabalija, nachdem ein Militärfahrzeug ein Kind überfahren hatte. Innerhalb kürzester Zeit organisierten sich die Proteste von unten und war ein Name für den Aufstand gefunden, „Intifada – Abschütteln der Besatzung“. Die zweite Intifada war von Jassir Arafats Sicherheitsdiensten im September/Oktober 2000 vorbereitet worden, nachdem die Verhandlungen von Camp David gescheitert waren. Der „Auslöser“, Ariel Scharons Besuch auf dem Tempelberg, war eher ein Vorwand, die Aufstände endlich losbrechen zu lassen. So dauerte es denn auch einige Tage - und bedurfte des organisatorischen Inputs der palästinensischen Sicherheitskräfte, aber auch die unverhältnismäßig brutale Reaktion der israelischen Sicherheitskräfte, um erste Proteste zu einer zweiten Intifada werden zu lassen.
Spontane, unorganisierte Angriffe
Wie „unorganisiert“ die derzeitigen Attacken sind, zeigen zwei schlichte Tatsachen: Keine Organisation erklärt sich für verantwortlich. Und: Das Mittel zum Zweck sind nicht Selbstmordattentate, wie während der zweiten Intifada, denn diese sind alles andere als spontan, sondern bedürfen langer und sorgfältiger Planung. Vielmehr greifen die Attentäter auf spontan einsetzbare und geradezu archaische Mittel wie Messer und Äxte zurück – oder versuchen mit dem Auto in Menschengruppen zu fahren.
Dennoch gibt es einige Faktoren, die dazu beitragen, dass junge palästinensische Männer (und auch Frauen), manche von ihnen noch Kinder, jetzt zum Messer greifen, um „Juden zu töten“.
1. Kein Frieden in Sicht, und der Krieg findet woanders statt. Hat irgendjemand in jüngster Zeit über all den Debatten um Syrien, „Islamischen Staat“, Kurden, Irak, Türkei oder um das iranische Atomabkommen noch in Erinnerung, dass es in der Region auch noch den „israelisch-palästinensischen Konflikt gibt? Nein. Auch nicht die Israelis, in deren Lebensrealität die Palästinenser nicht mehr vorkamen. Die Sperrmauer hatte Attentate verhindert, aber sie hatte die meisten Israelis auch vergessen lassen, dass hinter dieser Mauer Palästinenser leben. Für die aber ist die Besatzung nach wie vor Lebensrealität. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu glaubt (nicht ganz zu Unrecht), dass eine große Lösung derzeit unrealistisch ist. Er glaubt aber offensichtlich auch, dass der derzeitige status quo die beste Lösung für sein Land sei. Jedenfalls verwendet er keine Mühe darauf, wenigstens kleinere, für die Palästinenser aber wichtige Schritte in Richtung Zwei-Staaten-Lösung zu gehen. Das ist eine strategische Dummheit. Denn so etwas wie „status quo“ gibt es in dieser Region nicht. Die palästinensischen Messerattentäter haben bereits einen ersten Erfolg zu verbuchen: Israel und die Palästinenser sind wieder ein Thema in den Medien und in der öffentlichen Debatte.
2. Diplomatie und Propaganda. Nach der zweiten Intifada, die für die Palästinenser fatal war, hat Palästinenserführer Mahmud Abbas die Taktik geändert: Er setzt nicht mehr auf Konfrontation und Gewalt, die in den Autonomiegebieten nur Zerstörung, Brutalisierung und Fragmentierung mit sich gebracht hatten. Er baut stattdessen auf eine diplomatische Anerkennung Palästinas durch die internationale Staatengemeinschaft und eine politische Isolierung Israels, um Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Allein, es fehlt der wichtige zweite Teil für diese Strategie: eine Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Palästinenser mit friedlichen Mitteln ihr Ziel eher erreichen könnten als mit Gewalt und „Märtyrertum“.
Abbas macht genau das Gegenteil: Um nicht als Schwächling dazustehen, fährt die palästinensische Autonomiebehörde eine unerbittliche antizionistische, wenn nicht sogar antisemitische Kampagne. Nicht nur die Fernsehsender der Hamas, auch die PLO-nahen Medien feiern Morde an „Juden“ (nicht etwa an „Israelis“) als heldenhafte Tat. Abbas mag nach außen hin die Attentate verurteilen. Zur eigenen Gesellschaft spricht er ganz anders. So behauptete er, dass ein dreizehnjähriger Junge, der bei dem Versuch angeschossen wurde, Zivilisten zu erstechen, von den Israelis „abgeschlachtet“ worden sei. Dabei wurde er in einem israelischen Krankenhaus behandelt und gesund gepflegt.
3. Propaganda und der Tempelberg/Haram al Scharif. Seit Wochen – genauer, seit den hohen jüdischen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur Anfang September – gibt es wieder gewaltsame Proteste um den Tempelberg, beziehungsweise Haram al Scharif. Angetrieben werden sie von einer palästinensischen Propaganda-Lüge: Israel habe vor, den Haram, auf dem Felsendom und Al-Aksa-Moschee stehen, unter seine Gewalt zu bringen, was mit Gewalt verhindert werden müsse. Richtig ist: Seit einiger Zeit rufen extremistische Gruppierungen zu Besuchen auf dem Haram auf, auf dem einst der Tempel der Israeliten stand. Richtig ist auch, dass Felsendom und Al-Aksa-Moschee in den Augen dieser fanatischen Sekte „Scheußlichkeiten“ sind, die beseitigt werden müssten, um endlich den Dritten Tempel zu errichten (und damit die Ankunft des Messias zu beschleunigen). Falsch ist aber, dass Israel am Status des Haram rütteln wolle.
Seit der Eroberung Ost-Jerusalems im Juni 1967 steht der Haram unter Aufsicht einer islamischen Behörde, des Wakf. Daran ist nie etwas geändert worden, und daran will auch die rechte Regierung Netanjahus nichts ändern. Umgekehrt versucht der Wakf, sämtliche archäologischen Spuren eines jüdischen Tempels unter dem Haram zu beseitigen. Der verstorbene PLO-Führer Jassir Arafat bezweifelte öffentlich, dass es einen jüdischen Tempel je gegeben habe. Und der „moderate“ Mahmud Abbas ließ sich jüngst mit den Worten aus: „Wir segnen alle, die ihr Blut für Jerusalem vergießen, denn es ist reines Blut, das für Allah vergossen wurde (…). Die Al-Aksa-Moschee ist unser, die Grabeskirche ist unser, und sie (die Juden) haben nicht das Recht, sie mir ihren schmutzigen Füßen zu entweihen.“ Dass die Autonomiebehörde jüngst einen Versuch startete, auch die „Westmauer“ des Tempels zum Bestandteil des Haram zu erklären, zeigt nur: Es verhält sich umgekehrt, Palästinenser versuchen, die Erinnerung an den Berg als jüdisches Heiligtum auszulöschen.
4. Propaganda und Dummheit. Benjamin Netanjahus vollkommen ahistorische Bemerkung, Mohammed Amin al-Husseini habe bei einem Treffen mit Adolf Hitler 1941 den Mord an den Juden erst angeregt, ist vor allem eins: dumm. Ja, der Großmufti von Jerusalem war Antisemit, er war ein Bewunderer Hitlers und er hätte sich nichts mehr gewünscht als einen Sieg der Wehrmacht in Nordafrika, der Tod und Verderben auch für die Juden in Palästina gebracht hätte. Aber er hat Hitler ganz sicher nicht erst auf solche Ideen bringen müssen. Schräge Analogien wie diese gießen nur Öl ins Feuer. Und die zweite Intifada müsste lehren: Ob aus einer Welle der Gewalt tatsächlich ein lang andauernder Aufstand wird, hängt auch entscheidend von Israels Reaktionen ab.
5. Normalisierung oder Nicht-Normalisierung? Seit Jahren betreiben die palästinensische Autonomiebehörde und große Teile der palästinensischen Eliten eine Politik der „Nicht-Normalisierung“: Die Arbeit in den Gesprächsgruppen knapp unterhalb der diplomatischen Ebene wird auf Eis gelegt, solange auf der Verhandlungsebene nichts von den Israelis geboten wird. Gleichzeitig aber findet jenseits von Verhandlungsrunden eine schleichende Normalisierung im Alltag statt. Erstmals seit dem Ausbruch der zweiten Intifada besuchen Ost-Jerusalemer wieder West-Jerusalem; zum Shoppen in der neuen „Mamilla Mall“ gleich außerhalb der Altstadtmauern oder zum Restaurantbesuch im West-Jerusalemer Zentrum, der Jaffa Straße. Die neue Straßenbahn hat das arabische Ost- tatsächlich wieder mit dem jüdischen West-Jerusalem verbunden. Kein Wunder, dass die ersten Attacken an Straßenbahnhaltestellen stattfanden. Denn ein Ziel haben die Attentate ganz gewiss: jede Form der Normalisierung zu verhindern.
Nur wer diese Grundfaktoren für die jüngsten Messerattacken außer Acht lässt, kann hohl an „beiderseitige Mäßigung“ appellieren. Wichtiger wären gezielte politische Forderungen: Neue, ernsthafte Schritte in Richtung Zwei-Staaten-Lösung, die vor allem die Israelis leisten müssen. Aber endlich auch ein Ende der mörderischen Propaganda auf palästinensischer Seite.
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