- Wie die Revolution scheiterte
Wie aus dem Nichts stand er plötzlich auf der politischen Bühne. Mit seinem Marsch auf Islamabad begeisterte der Islamgelehrte, Muhammad Tahir ul Qadri, Anfang des Jahres Tausende Menschen. Wer ist der Mann, und was bedeutet sein Auftritt für Pakistan?
Vielleicht hätte Muhammad Tahir ul Qadri öfter Popmusik hören sollen. Was sich aber natürlich für einen Islamgelehrten nicht ziemt. Dann hätte er Tracy Chapmans Ballade „Talkin‘ Bout a Revolution“ gekannt – wo es heißt, dass eine Revolution „mit einem Flüstern“ beginnt. Sollte das stimmen, dann musste der pakistanische Prediger, der Mitte Januar mit einem Donnerknall in Islamabad landete, ganze Stadtteile per Lautsprecher mit seinen Reden beschallte und eine „„Revolution arabischen Stils“ verkündete, zwangsläufig scheitern.
Wenn Flüstern Ausdruck einer Unzufriedenheit ist, die sich langsam, aber sicher in weiten Kreisen der Bevölkerung breitmacht und die irgendwann in politische Aktion umschlägt, dann ist Pakistan immer noch weit entfernt von einer Revolution. Nach wenigen Tagen auf den kalten Straßen Islamabads kehrten die Demonstranten brav nach Hause zurück. Kairos Tahrir-Platz sah anders aus.
Dass Qadri, der nicht nur für Beobachter im Westen scheinbar aus dem Nichts Pakistans politische Bühne stürmte, mit seinem angekündigten Umsturz scheiterte, hat andere Gründe. Der 61-jährige Professor für islamisches Recht folgt dem Modell der für Pakistans Geschichte typischen Revolution von oben. Für die ist das „Flüstern“ im Volk aber stets nur ein Hintergrundgeräusch gewesen. Veränderungen haben sich eher durch ein obligatorisches Säbelrasseln angekündigt. Dann geht alles meist ganz schnell: Die Fernsehbildschirme werden schwarz, Stunden später hält ein General eine Rede, und das gewählte Staatsoberhaupt verabschiedet sich ins Exil.
Dass Pakistans Armee nach dem unrühmlichen Abgang ihres letzten Diktators, General Pervez Musharraf, 2008 wenig Interesse daran zeigt, wieder direkt nach der Macht zu greifen, bedeutet nicht, dass das Militär seine politischen Ambitionen aufgegeben hätte. Zwar hält Musharrafs Nachfolger als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Ashfaq Kayani, öffentlich Elogen auf die Demokratie. Doch auch er scheint der Auffassung zu sein, dass diese bei den demokratisch gewählten Parteien nicht in allzu guten Händen sei.
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Zweifellos hat die Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari, dem Witwer der 2007 ermordeten Hoffnungsträgerin Benazir Bhutto, das Land an den Rand des Abgrunds geführt. Das Wirtschaftswachstum von wenig mehr als 3 Prozent ist für ein Entwicklungsland mit Pakistans Bevölkerungswachstum quasi eine Rezession. Die Energiekrise, die weitgehend auf jahrzehntelanger Untätigkeit beruht, hat solche Ausmaße erreicht, dass Unternehmen aufgrund von Strommangel ihre Fabriken schließen müssen.
Nicht zuletzt deshalb suchten bereits zwei Jahre vor dem fast schon geisterhaften Auftauchen Qadris Mitarbeiter des Militärgeheimdiensts ISI hinter den Kulissen Islamabads nach qualifizierten Kandidaten für eine sogenannte Technokratenregierung, die mithilfe des Obersten Gerichts die von der Pakistan People’s Party geführte Koalitionsregierung ablösen sollte.
Es ist beinahe unmöglich, bei den Forderungen, die Qadri im Januar an die Regierung stellte, nicht an dieses Szenario zu denken: Eine sogenannte geschäftsführende Regierung löst das Parlament auf und führt das Land bis zu Neuwahlen; Zeitpunkt der Wahlen: unbekannt. Insbesondere nachdem der politisch ambitionierte Oberste Richter Iftikhar Chaudhry just in dem Moment, als Qadri auf der politischen Bühne auftauchte, die Verhaftung des Premierministers Raja Pervez Ashraf anordnete. Natürlich wegen Korruption – die immer das berechtigte Motiv für einen Coup in Pakistan war.
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„Es ist Konsens in den pakistanischen Medien, dass Tahir ul Qadri der neueste Repräsentant des (Militär-)Establishments ist“, sagt der Ökonom S. Akbar Zaidi, der zurzeit an der Columbia University in New York lehrt. „Fast jeder, der Pakistan kennt und der um Macht, Einfluss, Ressourcen und die derzeitige Befindlichkeit des (Militär-)Establishments und seine Verzweiflung weiß, geht davon aus, dass die Gerüchte um Qadri wahr sind.“
So konnten denn auch die 30 000 bis 100 000 Menschen, die Qadri für seinen „langen Marsch“ mobilisierte, niemanden recht beeindrucken. Auch wenn tatsächlich viele von ihnen überzeugte Anhänger des Sufi-Predigers sind, weiß doch jeder, in Südasien, dass zwischen Karachi und Kalkutta gekaufte Aufmärsche Teil jedes Wahlkampfs sind. Eine warme Mahlzeit und ein Ausflug in die Hauptstadt sind für viele Dorfbewohner bereits Grund genug zum Kommen.
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Die Tatsache, dass so viele Menschen angereist und dass Qadri auf allen Fernsehsendern zur Primetime lange Werbespots schaltete, schien ein weiteres Zeichen dafür, dass hier Millionen von Rupien investiert worden waren, die man kaum mit frommen Reden verdienen kann. Allerdings war Qadri auch früher schon für sein ökonomisches Talent bekannt. Unter seinen wohlhabenden Anhängern in Kanada – wo er ab 2006 gelebt hatte –, die er bevorzugt um Spenden bittet, erzählt man sich, dass die Frauen in seinem Haushalt stets mit goldenen Armreifen bis zum Ellenbogen geschmückt seien.
Auch politisch ist der Mann mit dem sorgfältig getrimmten grauen Bart kein unbeschriebenes Blatt. Bereits 1989 gründete er seine Partei „Pakistan Awami Tehreek“, die sich nach eigenem Bekunden für „Demokratie“, „Menschenrechte“ und ein Ende der Korruption einsetzt. Von 2002 bis 2004 war Qadri Abgeordneter im pakistanischen Parlament. 2010 verkündete er eine viel beachtete Fatwa gegen den Terrorismus. In diesem 600 Seiten starken Dokument schreibt er: „Terrorismus ist Terrorismus, Gewalt ist Gewalt und hat keinen Platz in der islamischen Lehre. Es kann keine Rechtfertigung dafür geben.“
Mit seinen moderat-islamischen Ansichten wäre Qadri ein Traumkandidat des Militärs für das Amt des Regierungschefs. Wenn man den Reden Ashfaq Kayanis glauben darf, so ist die Armee zum ersten Mal in ihrer Geschichte ernsthaft entschlossen, den Terrorismus im eigenen Land wirksam zu bekämpfen. Bisher war es ihre Strategie, islamische Extremisten als Guerillakämpfer nach Indien und Afghanistan vorzuschicken. Eine gefährliche Taktik, die sich längst gegen ihre Erfinder gewandt hat.
Allen säkularen Anwandlungen zum Trotz – im Westen erinnert man sich noch gern an den freundlichen General Musharraf, der einem Glas Whisky nie abgeneigt war – besteht Pakistans Offizierscorps, wie die Militäranalystin Ayesha Siddiqa betont, längst nicht mehr nur aus Gentlemen, die ihre Ausbildung auf der britischen Militärakademie Sandhurst genossen haben. Gerade unter den jungen Offizieren stammen viele aus der Mittelklasse und legen Wert auf den (rechten) Glauben.
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Auch scheint der Islam – und hier liegt möglicherweise der inhaltliche Kern des Phänomens Qadri – aus Sicht vieler die einzig überzeugende und möglicherweise auch einzig verfügbare Antwort auf die Krankheit zu sein, die nach Ansicht vieler Pakistans politisches System an den Rand des Kollapses gebracht hat: die Korruption. Qadri verfügt – so mag man hoffen – über Anstand und Moral, was sich von vielen Politikern kaum behaupten lässt.
Tatsächlich sind die demokratischen Parteien fast alle Teil eines Systems, das auf Patronage und Nepotismus beruht und das insofern – mit Michel Foucault gesprochen – kein „Außen“ kennt. Lange konnte sich das Militär in der Sicherheit wiegen, nicht Teil dieses Systems zu sein. Doch spätestens seit Musharraf, unter dem sich die Armee zu einem Wirtschaftsunternehmen sui generis entwickelte, das seinen Mitgliedern Privilegien in Form von Villen und Golfplätzen zur Verfügung stellt, hat das saubere Image mehr als nur ein paar Kratzer bekommen.
Aber die Alternative Islam hat einen Haken. Islamische Parteien haben in Pakistan noch nie eine Wahl gewonnen. Das aber sagt womöglich recht wenig über den Wählerwillen aus, denn in dem zum Teil von Feudalstrukturen und Stammesgesetzen geprägten Land spielen Parteiprogramme für die Wählerentscheidung zumeist kaum eine Rolle, sondern Klientelismus und Clan-Zugehörigkeit.
Umso schwerer ist es für eine neue Partei, Fuß zu fassen. Diese Erfahrung musste sogar der ehemalige Kricket-Star Imran Khan machen, der im vergangenen Jahr noch als Hoffnungsträger gefeiert wurde und als Favorit des Militärs für das Amt des Premierministers galt. Trotz Khans landesweiter Popularität und seines Charismas ist seine Partei „Tehreek-e-Insaf“ in den Umfragen wieder zurückgefallen. Was sicher nicht an der überzeugenden Performance der Regierung liegt.
Falls Tahir ul Qadri tatsächlich der in letzter Minute präsentierte Ersatzmann der Generäle ist, musste er mit einem Paukenschlag auf die politische Bühne katapultiert werden. So erklärt sich, dass Qadris Auftritt im Januar selbst erfahrene Analysten in Pakistan auf dem falschen Fuß erwischte. Bereits Mitte März läuft die Amtszeit der derzeitigen Regierung aus.
Hier nun beginnt die wirkliche Überraschung. Denn während die Pessimisten schon während Qadris Marsch auf Islamabad das erneute Ende der Demokratie ausriefen, geschah hinter den Kulissen etwas Erstaunliches: Die im Parlament vertretenen Parteien – inklusive der Opposition – entschlossen sich, zusammenzuhalten und den Forderungen des durch keine Wahl legitimierten Predigers zu widerstehen. Damit war die Revolution abgesagt.
Das pakistanische Wahlsystem sieht vor, dass am Ende einer Legislaturperiode Regierung und Opposition gemeinsam eine geschäftsführende Regierung einsetzen, die dann innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen ausrufen muss. Es ist daher auch ein Zeichen politischer Reife vor allem der größten Oppositionspartei, der PMLN unter Ex-Premierminister Nawaz Sharif, dass sie nicht versucht hat, aus Qadris Auftauchen Kapital zu schlagen, sondern mit der Regierung darauf beharrte, dass diese ihre Legislaturperiode beendet. Damit hat zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Regierung ihre fünfjährige Amtszeit verfassungsgemäß vollendet.
„Tahir ul Qadris plötzliches Auftauchen und seine Intervention wurde zu Recht als Versuch interpretiert, das demokratische System für Jahre auszusetzen“, sagt der Ökonom S. Akbar Zaidi. „Die Tatsache, dass dies gescheitert ist, zeigt, wie sehr sich Pakistans Demokratie in den vergangenen fünf Jahren weiterentwickelt hat und wie geschwächt das Militär-Establishment ist.“
Nun liegt der Ball im Spielfeld von Zardari, Nawaz Sharif und Co. Sie müssen zeigen, dass sie dazu in der Lage sind, Pakistans Probleme und damit die von 200 Millionen Menschen zu lösen – und nicht nur ihre eigenen. Wenn dies nicht gelingt, sind sie sich selbst fortan der ärgste Feind.
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