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Ukraine-Invasion - Putin = Hitler?

Die Kämpfe in der Ostukraine dauern noch immer an – der Hass auf Putin auch. Seit der russische Präsident widerrechtlich die Krim annektiert hat, wird er immer wieder mit Adolf Hitler gleichgesetzt. Doch stimmt das überhaupt? Und ist der Vergleich sinnvoll? Eine historische Betrachtung

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Blom, Philipp

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Hermann Wilberg stand da und tat, was man ihm aufgetragen hatte. Er rannte auf und ab, fuchtelte mit den Armen und sah verzweifelt aus. Er musste um jeden Preis gerettet werden. Glücklicherweise war das Kanonenboot SMS Panther der deutschen kaiserlichen Marine in der Nähe. In Agadir. Das aber war kein Zufall. Kaiser Wilhelm II. suchte nach einem Vorwand, um seinen Machtanspruch auf Teile Marokkos zu unterstreichen und hatte das ältliche Kanonenboot vorsorglich vor die marokkanische Küste bei Agadir geschickt.

Um aber einen gefährdeten Untertanen retten zu können, musste der erst mal in Agadir sein. So wurde der glücklose Ingenieur Wilberg von seinem Posten im 260 Kilometer entfernten Mogador auf einen Gewaltmarsch durch die Malariasümpfe beordert, um sich an der Küste retten zu lassen. Die kaiserliche Marine brachte ihn unbeschadet nach Hause.

Im Kielwasser der Panther aber entstand ein gewaltiger diplomatischer Sturm um koloniale Macht – ein mindestens so solider Kriegsgrund wie die Ermordung eines Habsburger Erzherzogs in Sarajevo drei Jahre später.

Der Panthersprung 1911 war der vielleicht jämmerlichste Versuch der diplomatischen Geschichte, sich als Schutzmacht aufzuspielen und dabei Territorialpolitik zu betreiben. Kaiser Wilhelm scheiterte damit – Großbritannien und Frankreich rückten enger zusammen.

Putin und Hitler haben die gleiche Strategie angewendet


Die Strategie aber ist geblieben. Auch Adolf Hitler hat sie 1938 in der Tschechoslowakei angewendet, als er sich von dem Sudetendeutschen Konrad Henlein als Retter rufen ließ und das Sudetenland annektierte.

Wolfgang Schäuble, der Bundesfinanzminister, hat vor kurzem für Empörung gesorgt, als er Putin mit Hitler verglich oder besser gesagt Putins Strategie der Krim­annektierung mit Hitlers Invasion im Sudetenland. Auch die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton hat diesen Vergleich benutzt.

Natürlich gibt es Parallelen zwischen dem Sudetenland 1938 und der Krim 2014. In beiden Fällen bekam eine Großmacht, die ein Auge auf eine angrenzende Region geworfen hatte, einen sorgfältig orchestrierten „Hilferuf“ einer dort lebenden nationalen Minderheit und marschierte ein, um das eigene Volk zu schützen.

„Heim ins Reich“ ist eine Devise, die im jahrhundertelang von Migration, religiösen Verfolgungen und ethnischen Säuberungen gezeichneten Europa noch nie etwas anderes war als ein Vorwand für expansionistische Politik. Deshalb stellt sich die Frage: Wie sinnvoll ist so ein Vergleich, und was kann er aussagen?

Schäuble hat recht: Putin und Hitler haben die gleiche Strategie angewendet. Allerdings lässt das außer Acht, dass sie damit keinesfalls alleine sind. Die „Glorious Revolution“, die 1688 Wilhelm von Oranien auf den englischen Thron brachte, war nichts anderes als eine niederländische Invasion Englands nach einem fingierten Hilferuf der dortigen Protestanten; der erste Kreuzzug 1099 begann als Reaktion auf das Ansuchen des in Konstantinopel residierenden oströmischen Kaisers Alexios I. Komnenos; die römische Invasion der britischen Inseln 43 n. Chr. sollte offiziell dem verbündeten König Verica zu Hilfe eilen. Die europäische Geschichte – und nicht nur die – ist voll von solchen Beispielen.

Aber Wladimir Putin hat sich nach so weit entfernten Beispielen wohl nicht umsehen müssen: 1545 fiel schon Iwan der Schreckliche in die Krim ein, um dem tatarischen Khan Cangäli zu helfen, der sich in einer chaotischen Situation gegen Rivalen durchzusetzen versuchte. So gesehen hat Putins Handeln zaristische Tradition.

Warum also wurde Putin nicht mit Wilhelm von Oranien oder mit Kaiser Claudius verglichen? Die Antwort liegt auf der Hand: Es geht um das Beleidigungspotenzial. Da können römische Cäsaren und englische Könige mit Hitler nicht mithalten. Iwan der Schreckliche wäre schon geeigneter.

Der Verweis auf Hitler, auf das Böse schlechthin in der Geschichte, ist eindimensional, weil er nichts weiter ist als ein reflexhaftes Zucken der Rhetorik im Nachkriegseuropa, das längst jedes reflektierenden und analytischen Inhalts entleert und zur Anrufung des Beelzebubs in der Politik verkommen ist. Wenn gar nichts mehr geht, dann gehen die Nazis immer noch.

Hier wird aus einem hinkenden Vergleich ein gefährlicher. Wer Putins Strategie mit der Hitlers vergleicht, der denkt auch die darauffolgenden Ereignisse mit und will das signalisieren: Damals war das Appeasement des britischen Premiers Neville Chamberlain ein schwerer Fehler, der die größeren Schrecken eines Weltkriegs nach sich zog. Für die Briten war die Annektierung der Tschechoslowakei in Chamberlains unsterblichen Worten „ein Disput in einem weit entfernten Land, zwischen zwei Völkern, von denen wir nichts wissen“. Ein heutiger Aggressor, so die Implikation, kann mit Appeasement nicht rechnen.

Für Putin kann das nur eine besonders bittere Ironie sein. Vom Völkerrecht einmal abgesehen, ist und bleibt Hitler besonders in Russland eine Art Antichrist, der Diktator, gegen dessen Blutdurst, Habgier und Grausamkeit Russland die letzte Bastion war, welches ihn unter immensen Opfern überwand. Nach einer ambivalenten Revolution, einem blutigen Bürgerkrieg, nach Gulags, Schauprozessen und Massenerschießungen war gerade der tatsächlich heroische Kampf gegen die Nazis ein Gründungsmythos für die späte UdSSR. Sie hatte die Welt von einem Tyrannen befreit, litt aber wirtschaftlich noch immer, während Staaten, die sie befreit hatte, in ungekanntem Reichtum lebten.

Hitler ist als das schlechthin Böse zur Chiffre geworden


Jetzt von denen, die Russland befreite, mit Hitler verglichen zu werden, ist eine abenteuerliche Wende, zumal Putins Entourage überzeugt ist, der Westen habe Russland seine damaligen Opfer nicht gedankt, und nur die Sowjetunion sei stark genug gewesen, den mit militärischen oder kapitalistischen Mitteln vorangetriebenen expansionistischen Begehrlichkeiten des Westens die Stirn zu bieten.

Vielleicht schickt es die richtigen Signale an die eigenen Wähler in Deutschland und den USA, Putin in die Nähe Hitlers zu rücken, gleichzeitig aber verstellt es den Blick auf ein besseres Verständnis der Situation. Putin handelt aus einer extremen Lesart der russischen Erinnerung heraus, für die die Krim ohnehin zu Russland gehört und auch strategisch um keinen Preis aufgegeben werden kann und die der Welt noch immer beweisen will, dass Russland nicht herumgeschubst werden kann, dass ihre Größe und ihre historischen Opfer die Russen berechtigen, ihre eigenen Regeln zu machen.

Das sieht der Westen anders. Aber auch unsere Erinnerung ist eine andere. Auch unser Hitler ist als das schlechthin Böse zur Chiffre geworden. In Moskau aber ist er auch eine Chiffre für die Expansion des Westens und die Demütigung Russlands. Wir sprechen nicht über dieselbe Vergangenheit, nicht die gleiche Erinnerung daran. Da hilft es wenig, das eigene Schema rhetorisch noch stärker festzuzurren.

Putin ist ein Autokrat, der auf unverfroren transparente Weise die Demokratie benutzt, um eine reaktionäre und scheinbar von reinen Machtinteressen diktierte Agenda durchzusetzen. Scheinbar, denn gleichzeitig geht es ihm wohl darum, das russische Reich wiederauferstehen zu lassen.

Wir verstehen Putin und unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht besser, wenn wir historische Vergleiche bemühen, die mit enormem historischen Gepäck kommen, die eine gewisse Antwort implizieren und doch nicht passen wollen. Putin nutzt auch jetzt in der Ostukraine eine Strategie, die wir seit der Antike kennen und die auch in Russland Anwendung gefunden hat: die moralische Rechtfertigung des Aggressors, der sich als loyaler Beschützer gibt. Wer so etwas tut, dem geht es um Macht, aber auch um Prestige. Nur der konsequente Verlust von beidem kann diesen Appetit zügeln.

 

 

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