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Sieben Irrtümer - Israel muss sich der Realität stellen

Am 22. Januar wählt Israel ein neues Parlament. Unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnen wird: Die Regierung wird sich endlich den politischen Realitäten stellen müssen

Autoreninfo

Judith Hart ist Ressortleiterin Weltbühne bei Cicero

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Irrtum 1: Durch eine militärische Intervention lässt sich Frieden schaffen

Ist die Hamas nun gestärkt oder geschwächt aus der jüngsten militärischen Auseinandersetzung hervorgegangen? Experten inner- und außerhalb Israels sind sich über diese wesentliche Frage keineswegs einig, und das aus einem einfachen Grund: Seit mehr als zwei Jahrzehnten ficht Israel keine Kriege mit regulären Armeen aus. Stattdessen muss es sich mit dem organisierten Widerstand einer Zivilbevölkerung auseinandersetzen oder mit hochgerüsteten und gut ausgebildeten Milizen wie der Hisbollah im Südlibanon oder dem bewaffneten Flügel der Hamas in Gaza. Diese Milizen führen ihre Angriffe mit Bedacht aus dicht besiedelten Gebieten heraus, was Israels Armee die Kriegsführung erschwert.

Asymmetrische Kriege gegen nicht reguläre Kämpfer aber – das lernen die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan –, sind nicht wirklich zu gewinnen. Die potenziellen politischen Schäden jedoch sind enorm, so war das auch nach der Gaza-Intervention von 2008/2009. Hatte Israel wegen des andauernden Raketenbeschusses durch die Hamas anfangs noch einige Sympathien auf seiner Seite, verlor es diese, je länger die Bodenoffensive dauerte und immer mehr Palästinenser starben. Israel kann, und das ist wesentlicher Bestandteil der Sicherheitsdoktrin des Landes, ein gewisses Maß an Abschreckung aufrechterhalten, um damit den radikalen Milizen zu signalisieren, dass es Aggressionen nicht hinzunehmen bereit ist. Aber es kann keine Kriege entscheiden und so als Sieger einen Frieden erzwingen.

[gallery:Der Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn]

Irrtum 2: Die Zeit spricht für Israel

Die Haltung des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu könnte man in etwa so umschreiben: Solange die Palästinenser nicht bereit sind, auf Maximalforderungen wie das Rückkehrrecht für die heute etwa 3,7 Millionen palästinensischen Flüchtlinge beziehungsweise deren Nachkommen in bereits dritter und vierter Generation zu verzichten, solange damit faktisch das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, weil mit einer Rückkehr der Flüchtlinge eine jüdische Mehrheit im Staat Israel nicht mehr gewährleistet wäre, solange muss man den Konflikt eher „managen“ als lösen.

Nun ist der israelisch-palästinensische Konflikt sicherlich nicht das wichtigste Problem in der Region – das ist eher die Unfähigkeit arabischer Regierungen, korruptionsfrei zu regieren oder etwa zukunftsfähige Ökonomien aufzubauen. Aber ein Anhalten des Konflikts destabilisiert den Nahen Osten. Die Lage in der Region entwickelt sich ohnehin nicht gerade zum Vorteil Israels. In Ägypten regieren Islamisten – ob sie den strategisch für Israel äußerst wichtigen Friedensvertrag auf Dauer respektieren werden, ist ungewiss. Syrien zerfällt in einem schon Monate währenden Bürgerkrieg, der auch Jordanien und den Libanon destabilisieren könnte. Auf palästinensischer Seite schrumpft die Gruppe jener, die eine Zwei-Staaten-Lösung anstreben. Und in Europa verliert selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel die Geduld mit einem Regierungschef, dem offensichtlich jegliche strategische Weitsicht fehlt und der bislang mit keiner Idee aufgefallen ist, wie man wieder zu aussichtsreichen Verhandlungen mit den Palästinensern kommen könnte. Natürlich ist der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung – deren Ziele im Übrigen längst vorgezeichnet sind – nicht leicht. Aber sie ist die einzige Möglichkeit, Israel als jüdischen und demokratischen Staat zu erhalten.

Aussitzen ist also auf Dauer keine Option.

Irrtum 3: Ein Waffengang gegen den Iran wird dessen Atomträume vernichten

Kardash, Arak und Fordo sind die wichtigsten Anlagen des Iran, in denen Uran bis zur Waffenfähigkeit angereichert werden könnte. Sie sind quer über den Iran verteilt oder wie im Fall Fordos unter dicken Gesteinsschichten versteckt. Ein Militärschlag der israelischen Armee müsste nicht nur politisch bestens vorbereitet sein – schließlich müssen auf dem Weg in den Iran Überflugrechte von Ländern eingeholt werden, die man nicht gerade als „befreundet“ bezeichnen kann. Er müsste zudem äußerst schnell und sehr präzise geführt werden, um die Zahl der Opfer gering zu halten und um möglichst wenig politischen Schaden anzurichten. Dass der Iran nach einem Militärschlag die Straße von Hormuz und damit den Persischen Golf sperrt, ist keineswegs ausgeschlossen. Zudem könnte die mit dem Iran verbündete Hisbollah Terroranschläge verüben.

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Wohl am wichtigsten aber ist: Israel verfügt gar nicht über die militärische Ausrüstung, um Anlagen wie Fordo wirksam zu zerstören. Die israelische Luftwaffe, die nur kleinere Kampfflugzeuge besitzt, kann keine sogenannten „Bunker Busters“ transportieren. Die aber benötigt man, um die dicken Gesteinsschichten zu durchdringen. Selbst wenn Israel sehr präzise zuschlägt und die politischen Folgewirkungen minimieren kann, wäre Irans Atomprogramm höchstens um einige Jahre zurückgeworfen, aber nicht beendet. So überrascht es kaum, dass sich fast das gesamte Sicherheitsestablishment Israels offen gegen eine militärische Lösung ausgesprochen hat.

Irrtum 4: Innenpolitische Lösungen haben bis zu einer Friedenslösung Zeit

Tausende Israelis campierten im Sommer 2011 auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard, um gegen unerschwingliche Immobilienpreise im Kernland Israels zu protestieren. Auch wenn die Aktion nach einigen Wochen langsam an Kraft verlor, sind wesentliche Probleme immer noch aktuell. Nur etwa 60 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Israels tragen wesentlich zum Bruttosozialprodukt und Steueraufkommen des Landes bei. Zwei der am schnellsten wachsenden Gruppierungen – die arabischen Israelis und die Ultraorthodoxen – sind die Sorgenkinder der Gesellschaft.

Arabische Staatsbürger machen etwas mehr als 20 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind im Durchschnitt immer noch schlechter ausgebildet, verdienen weniger und sind weniger produktiv – und das ist nicht nur der zweifelsohne vorhandenen Diskriminierung durch jüdische Israelis geschuldet, sondern beispielsweise auch der Benachteiligung von Frauen in der arabischen Gesellschaft. Ultraorthodoxe Juden erkennen den Staat Israel formal nicht an, sie leisten keinen Militärdienst – eine Gesetzesreform, die dies ändert, wird gerade erst durchgesetzt –, und sie empfangen den größten Teil der Transferleistungen des Staates. Die meisten ultraorthodoxen Männer arbeiten nicht, sondern studieren in Religionsschulen. Dass diese Gruppe weiterhin subventioniert wird, dafür sorgt die komplizierte Koalitionspolitik in Israel. Bislang haben es ultraorthodoxe Parteien immer geschafft, als Zünglein an der Waage zu fungieren und damit ihre Privilegien zu schützen.

Und damit sind nur die wirtschaftlichen Probleme angesprochen. Der Beteiligung religiöser Parteien in fast allen Regierungskoalitionen ist zu verdanken, dass sich Paare immer noch nicht zivilrechtlich trauen oder scheiden lassen können – sehr zum Verdruss der Säkularen, die nicht nur Militärdienst leisten, sondern auch für die Transferleistungen an die Ultraorthodoxie aufkommen müssen.

So ungeklärt wie das Verhältnis von Staat und Religion in einem eigentlich säkularen Staat blieb auch der Platz der arabischen Bürger innerhalb eines jüdischen Staates. Ohne Frage: Arabische Bürger Israels genießen größere Freiheiten und besseren sozialen Schutz als die Bürger der meisten arabischen Staaten. Je weiter ein Abkommen mit den Palästinensern in die Ferne rückt, desto schwächer aber wird auch die Loyalität, die israelische Araber dem Staat gegenüber empfinden, dessen Bürger sie sind. Israel wird ein Staat bleiben, in dem Raum sein muss für höchst verschiedene Erzählungen – denn was für jüdische Israelis der „Unabhängigkeitstag“ und damit Grund für Feiern und Jubel ist, bleibt für die meisten Araber ein „Tag der Katastrophe“.

Sollen sich die Friktionen innerhalb der israelischen Gesellschaft nicht weiter verstärken, dann können Reformen, dann kann eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Religion und ein klareres Bekenntnis zum Staat Israel als „Staat für all seine Bürger“ nicht auf einen Friedensschluss warten.

Irrtum 5: Israel steht wirtschaftlich super da

Im Vergleich zu den Ländern der Region – inklusive der Türkei – ist Israel eine echte und durchaus beneidete Ausnahmeerscheinung. Es gehört zu den 15 innovativsten Ländern mit den meisten genehmigten Patenten der Welt; es verfügt bei nur acht Millionen Einwohnern über ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 30 000 Dollar pro Kopf. Zum Vergleich: Ägyptens BIP pro Kopf beträgt 3000 Dollar, Jordaniens 5100 Dollar, das der Türkei liegt bei knapp 12 000 Dollar, und selbst das ölreiche Saudi-Arabien kommt nur auf knapp 22 000 Dollar.

Aber diese Durchschnittswerte verdecken einige ernsthafte Probleme der israelischen Volkswirtschaft: Der Großteil der Patente stammt aus der Computer- und Elektroindustrie, der größte Teil des seit Jahren bei mehr als 3 Prozent liegenden Wirtschaftswachstums ist Israels Hightech- und Biotech-Industrie geschuldet; diese aber sind Know-how-, nicht jobintensiv. Sie bieten hervorragende Karriere- und Verdienstmöglichkeiten für Hochqualifizierte, aber wenige für Geringqualifizierte. Kein Wunder, dass das einstmals äußerst egalitäre Israel mittlerweile einen der höchsten Gini-Koeffizienten aufweist, der die Kluft zwischen Arm und Reich misst. Neben China und den USA gehört Israel inzwischen zu den Ländern, in denen die Ungleichheit am größten ist.

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Irrtum 6: Siedlungen sind der Garant für Sicherheit

Als Faustpfand waren sie zunächst gedacht. Bereits nach dem Sechstagekrieg befürwortete die von der Arbeiterpartei geführte Regierung den Bau von „Wehrdörfern“, vor allem im Jordantal, um eine Infiltration palästinensischer Terroristen aus Jordanien zu verhindern. Sollte die arabische Seite für einen Frieden bereit sein, das war die Überlegung, könnte man diese Siedlungen wieder räumen. In den späten siebziger Jahren und unter der Führung der rechten Likud-Regierung wurde aus dem sicherheitspolitischen Unterfangen ein ideologisches. Siedlungen wurden in direkter Nähe zu großen arabischen Städten errichtet – wie Beit El nahe Ramallah, Kiryat Arba bei Hebron oder Elon Moreh bei Nablus. Diese Siedlungen waren dazu gedacht, eine Rückgabe des ursprünglichen biblischen Landes „Judäa und Samaria“ zu erschweren, wenn nicht zu verhindern.

Käme es heute zum Friedensschluss, so würde ein Großteil der Siedlungen gegen einen fairen Landaustausch dem Kernland Israel zugeschlagen werden. So ist es in den „Clinton Parameters“ aus dem Jahr 2000 festgehalten, und so sieht es auch die Genfer Initiative vor, auf die sich israelische und palästinensische Politiker informell im Jahr 2003 einigten. Was die Siedlungen betrifft, die außerhalb dieser Kordons liegen, so würde sich ein Großteil der nichtideologischen Siedler nicht gegen eine Räumung wehren, sollten ihnen Entschädigungen und Ersatz für ihre Häuser angeboten werden. Die meisten von ihnen sind nur wegen des subventionierten billigeren Wohnraums in besetztes Gebiet gezogen. Doch inzwischen hat sich in zweiter Generation ein Kern radikaler Siedler vor allem in Kiryat Arba, Elon Moreh oder Beit El gebildet, der sich einer Räumung mit allen politischen, wenn nicht sogar gewaltsamen Mitteln widersetzen würde. Das Argument, Israel habe bei seinem Rückzug aus dem Sinai 1981 und aus dem Gaza­streifen 2005 ja schon Siedlungen erfolgreich geräumt, zählt für sie nicht. Weder der Gazastreifen noch die Sinai-Halbinsel haben die historische und religiöse Bedeutung der West Bank – für die religiöse Rechte ist dieses Land das biblische Judäa, in dem sich die historischen Stätten der Bibel und damit die „Wiege des Judentums“ befinden.

Israel hat mit dem Ausbau der Siedlungen, der vor allem nach den Osloer Verträgen von 1993 immer schneller gesteigert wurde, nicht nur das Vertrauen aufs Spiel gesetzt, es meine es ernst mit der Formel „Land für Frieden“. Es hat Milliarden Euro in dieses Unterfangen investiert und damit Transferleistungen an die Siedler in schwindelerregender Höhe ermöglicht – wie viel Geld Israel genau ausgegeben hat, ist unmöglich festzustellen, da Kosten für Infrastruktur, Bau, Schutz durch das Militär und vieles mehr über die Jahrzehnte in verschiedenen Ministerien verankert wurden. Israelische Regierungen haben dadurch überdies die Entstehung einer ideologischen Siedlerbewegung gefördert, die im Zweifelsfall bereit wäre, sich über die Beschlüsse einer demokratisch gewählten Regierung hinwegzusetzen, und sich damit selbst ein Hindernis für den Frieden geschaffen.

Irrtum 7: Israel kann es sich leisten, auf europäische Bündnispartner zu verzichten

Am Ende waren es nur noch die USA, Kanada und Tschechien unter den westlichen Ländern und politische Schwergewichte wie Palau, Nauru und Mikronesien, die mit Israel gegen eine Anerkennung Palästinas als Staat mit Beobachterstatus in den Vereinten Nationen stimmten. Deutschland hat sich enthalten, die meisten anderen europäischen Staaten haben für eine Anerkennung gestimmt. Israels Premier Netanjahu zeigte sich über das Abstimmungsverhalten der Bundesrepublik verstimmt. Dass vor allem die Westeuropäer stramm und einseitig propalästinensisch seien, das halten ein großer Teil der israelischen Bevölkerung und die rechte Koalition unter Netanjahu ohnehin für ausgemacht.

Kann man deshalb auf sie verzichten und sich hauptsächlich auf die USA stützen, die auch schon manch einseitige Resolution im UN-Sicherheitsrat mit einem Veto gekippt haben? Wohl nicht. Europa ist immer noch der größte Handelspartner Israels, knapp 35 Prozent der israelischen Importe stammen aus der EU, etwas mehr als 26 Prozent seiner Exporte gingen 2010 nach Europa.

Wichtiger aber ist: Nicht nur für eine Friedenslösung braucht Israel neben den USA die Unterstützung der Europäer, die seit Jahrzehnten einen erheblichen Anteil an der infrastrukturellen Aufbauarbeit in den palästinensischen Gebieten leisten – und sich durchaus auch für Sicherheitsarrangements im Fall eines Rückzugs engagieren sollten. Israel braucht Europa auch, um sein größtes strategisches Problem lösen zu können: eine nukleare Aufrüstung des Iran zu verhindern. Durch einen militärischen Alleingang wäre das nämlich nicht zu schaffen (siehe oben). Dafür bedarf es der europäischen Verhandlungspartner und des Drucks, der durch deren Initiative mit einem Ölembargo gegen den Iran entstanden ist.

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