- Warum den Amerikanern Prism egal ist
Deutsche und Angelsachsen reagieren unterschiedlich auf die Abhörskandale. Dafür gibt es historische und psychologische Gründe. Ein Gastbeitrag von Tagesspiegel-Autor Malte Lehming
Das ist ein Rätsel. Angelsachsen, zumal Amerikaner, gelten als eher staatsfern. Sie misstrauen ihren Regierungen und verlassen sich gern auf private Initiativen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Viele Amerikaner empfinden etwa Steuerzahlungen als Zumutung, eine Krankenversicherung für alle kommt ihnen sozialistisch vor, ein zentrales Melderegister lehnen sie als unzulässigen Eingriff in ihre Privatsphäre ab, den Freiheitsbegriff halten sie hoch. Auf „Prism“ und „Tempora“ indes, jene Geheimdienstprogramme, die hierzulande Orwellsche Analogien heraufbeschwören, reagieren sie kühl, fast teilnahmslos. Von Erregung kaum eine Spur.
Ganz anders die Deutschen. Zumindest die medial vermittelte Öffentlichkeit bemüht dieser Tage immer neue Superlative. „Schlimmster Überwachungsskandal aller Zeiten“, „totalstes Kontrollsystem, das je von Menschen erfunden wurde“, „Datenmengen mit dem Potenzial globaler Totalüberwachung“. Dabei gelten die Deutschen als eher staatsnah, sie zahlen bereitwillig ihre Steuern und rütteln nicht an Sonderabgaben wie dem Soli. Ob Ausbau staatlicher Kindergärten oder Pflicht zur Schulpräsenz, die Finanzierung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten oder 200 Milliarden Euro für Familienleistungen: Das alles läuft hier ohne Murren ab. Bloß bei Volkszählung, Datenschutz und dem Recht auf Privatsphäre – da verstehen sie keinen Spaß.
Eine Erklärung dafür könnte die Geschichte sein. Aus dem Erbe von Gestapo und Stasi ging der Kampf gegen omnipotente Geheimdienste gewissermaßen als Vergangenheitsbewältigungsauftrag hervor. Nur der Versorgungsstaat soll stark sein, nicht aber der, der für Sicherheit und Ordnung zuständig ist. Dieses Grundgefühl spielt auch eine wichtige Rolle in der Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Inland. In angelsächsischen Ländern ist es genau andersherum. Dort soll der Staat nach Kräften den Schutz seiner Bürger garantieren, nicht aber sich um ihr Wohlergehen kümmern.
Eine andere Erklärung liefert die Erfahrung mit Terrorismus. In den USA und Großbritannien ist sie sehr konkret. Was für Amerikaner der 11. September 2001 ist für Engländer der 7. Juli 2005. An diesen Daten haben sich die Bilder des Schreckens tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Das gibt selbst umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen die Aura des Notwendigen. Die Güterabwägung Freiheit contra Sicherheit wirkt vor diesem Erlebnishintergrund schnell abstrakt. Natürlich kann Erfahrung auch Überreaktionen begünstigen, fehlende Erfahrung einen klaren Kopf bewahren lassen. Nicht allein um richtig oder falsch geht es in dieser Diskussion, sondern auch um das Verständnis der eigenen Prägungen.
Das führt zuletzt zu einem Phänomen, das sich mit „deutscher Urangst“ nur annäherungsweise umschreiben lässt. Es ist die Angst vor düsteren, unsichtbaren, geheimnisvollen Übermächten. Jedenfalls fürchten sich die Deutschen mehr als andere Nationen davor, vergiftet (Dioxin, Genfood), verstrahlt (Atomkraft, Kohlendioxid) oder eben überwacht (Videokameras im öffentlichen Raum, Geheimdienstoperationen) zu werden. Der weitaus unbefangenere Umgang der Angelsachsen mit diesen Dingen kommt ihnen unbedarft vor. Und wo jene ohnehin vermuten, dass der Bürger bald gläsern sein wird, weil alle alle belauschen, verteidigt man hierzulande das Ideal der Privatsphäre im Internetzeitalter.
Was daraus folgt? Nicht viel. Es sollte nur bedacht werden, um gegen Hysterie und Phlegma gewappnet zu sein.
Der Artikel erschien zuerst beim Tagesspiegel.
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