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Egoismus - „Moral erfordert hartes Training“

Wo ist eigentlich die Moral geblieben? Moralpsychologe Georg Lind meint, sie ist noch da. Nur lässt sie sich eben nicht predigen, sie muss trainiert werden. Ein Gespräch über moderne Egoisten, ganz viel Ignoranz und den Irrglauben, dass die Wirtschaft an allem Schuld sei

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Herr Lind, dreiste Menschen kommen weiter. Sie handeln egoistisch und scheren sich dabei nicht um das Unbehagen ihrer Mitmenschen. Sie haben in diesem Zusammenhang von „pluralistischer Ignoranz“ gesprochen: Menschen, die kleine Verfehlungen begehen, sind sich ihres Fehlverhaltens oftmals gar nicht bewusst. Dreiste Menschen können also gar nichts für ihre Dreistheit?
Es bedeutet, dass Menschen von ihren Mitmenschen oft ein falsches Bild haben. Der Mensch denkt von sich selbst, er handle moralisch einwandfrei, er verhält sich gut und anständig, aber er glaubt gleichzeitig, damit sei er der einzige und alle anderen verhielten sich unmoralisch. Daraus leitet sich dann bei vielen die Entschuldigung oder der Grund ab, es mit der Moral nun auch nicht mehr so genau zu nehmen. Wenn die anderen sich unmoralisch verhalten, wäre es ja blöd, wenn ich es nicht auch so machen würde.

Die anderen haben es also nicht besser verdient – eine Denkweise, die zunimmt. Frank Schirrmacher hat dazu vor einiger Zeit das entsprechende Buch veröffentlicht, das unsere Gesellschaft als eine voller Egoisten zeigt. Beobachten Sie diese Entwicklung ähnlich?
Ich bin zu sehr Wissenschaftler, als dass ich solche persönlichen Beobachtungen gleich generalisieren würde. Ich kenne jedenfalls keine Untersuchungen, aus denen man ableiten könnte, dass der Egoismus wirklich zugenommen hat. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Was ich beobachte, ist, dass die Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend für sich leben und weniger Kontakt untereinander pflegen. Immer mehr Menschen schicken ihre Kinder in Privatschulen, so werden ihre Biographien schon in frühen Jahren aufgetrennt. Die Biographie eines Kindes reicher oder superreicher Eltern wird sich kaum noch mit der eines Kindes eines Sozialhilfeempfängers überschneiden. Es gibt weniger Berührungspunkte, was dazu führt, dass bestimmte Gesellschaftsschichten wie im Ghetto aufwachsen. [[nid:54895]]

Die Ursache des ganzen Übels der Ignoranz?
Nun ja, wenn man keinen Kontakt mehr nach außen pflegt, entstehen falsche Bilder voneinander. Nehmen wir als Beispiel die USA und die Rassensegregation: Wenn man die Gesellschaft auftrennt, sie zwingt, in verschiedenen Wohngebieten zu leben und den Kontakt unterbindet, entstehen sehr schnell sehr falsche Vorstellungen – und meist sehr negative. Man glaubt, die anderen sind alle unmoralische, womöglich sogar kriminelle Menschen und dann fühlt man sich berechtigt, sie auch als solche zu behandeln, sie zu bestrafen, indem man ihnen gegenüber dreist, unverschämt oder egoistisch handelt.

Von der bloßen Dreistigkeit ist es dann ein schneller Schritt nicht nur dahin, moralische Grundsätze zu verletzen, sondern tatsächlich auch die Grenze dessen zu übertreten, was gesetzlich erlaubt ist. Die beiden Forscher Susanne Karstedt und Stephen Farrall habe dazu eine Studie veröffentlicht und leiten diese Rücksichtslosigkeit als Konsequenz der ungezügelten Märkte ab. Die Wirtschaft als Sündenbock. Lässt sich dieser Zusammenhang tatsächlich so leicht konstruieren?
Nein, das halte ich für eine arg verkürzte Darstellung der Sache. Die deckt sich überhaupt nicht mit unserer Forschung. Gesichert ist, dass es in der Wirtschaft ebensolche Leute gibt wie anderswo auch. In der Wirtschaft und der Industrie herrscht im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft sogar noch eine sehr enge Kommunikation: Firmen müssen sich ständig mit Gewerkschaften auseinandersetzen, Chefs mit ihren Arbeitnehmern usw. Für uns ist die Moralkompetenz hier ein Schlüsselbegriff. Unsere Absichten sind alle mehr oder weniger gut, aber die Prinzipien dementsprechend zu leben und zu handeln schwinden in dem Maße, wie die Kommunikation schwindet.

Wir haben verlernt miteinander zu sprechen?
Ja. Wir haben verlernt miteinander zu diskutieren, miteinander zu streiten, auf eine  konstruktive Art und Weise. Bei uns mag es keine Segregation nach der Hautfarbe geben, dafür aber mehr und mehr nach Schicht und Einkommen. Das hat vor allem in den letzten 20 Jahren verstärkt zugenommen. In den 1950er Jahren saßen die Kinder von Gastarbeitern noch mit denen der intellektuellen Elite auf einer Bank und haben miteinander gespielt. Das ist heute nicht mehr so. Und diese Segregation hemmt die Entwicklung unserer Moralkompetenz.

Wird die Dreistheit also pathologisch?
So kann man es sagen. Menschen ohne Moralkompetenz hat man früher als Psycho- oder Soziopathen bezeichnet, also als Menschen, die nicht fähig sind, sich an irgendwelche Prinzipien oder Leitlinien zu halten, sondern die völlig unvorhersehbar agieren. Jemand, der sich strikt egoistisch verhält, kann durchaus bestimmte Werte haben, nur verfügt der Egoist eben über eine sehr kurzsichtige Moralität. Wer immer nur auf sich selbst bedacht ist, verliert über kurz oder lang die Unterstützung durch seine Mitmenschen, er riskiert Freundschaften und schadet sich damit langfristig selbst.[[nid:54895]]

Die Moralkompetenz ist Ihrer Meinung nach jedoch wieder erlernbar bzw. anerziehbar. Friedrich Schiller konzipierte sein Theater seinerzeit als „moralische Anstalt“, der Gang ins Theater sollte den Zuschauer moralisch läutern, indem er aus der Handlung des Stücks die „Do’s“ and „Dont’s“ des gesellschaftlichen Zusammenlebens vorgeführt bekam. Heute leben uns in erster Instanz unsere Eltern vor, was man darf und was nicht...
Nein, da muss ich Sie enttäuschen, das kann man vergessen! Die Annahme, dass man in der frühkindlichen Erziehung durch Vor- und Leitbilder an die Moral herangeführt wird, ist durch die Forschung weitestgehend widerlegt. Im Grunde funktioniert das wie beim Sport: Die Muskulatur baut sich am besten auf, indem ich sie trainiere. Und auch die Moral entwickelt sich am besten, wenn ich sie benutze.

Die Moral als Muskel?
So ähnlich. Wenn man sich einem Problem stellt und dadurch gezwungen ist, über Dinge nachzudenken, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, sich womöglich zu rechtfertigen und so den Konflikt zu lösen, kommt man der Vorstellung dessen, was Moral ist, näher. Ideale, Vorbilder und Wertevermittlung sind Vorstellungen, die in unserem Alltag immer noch herumschwirren, die sich aber durch die Forschung nicht belegen lassen. Seit 20 Jahren wirke ich nun in der Moralerziehung und es zeigt sich, dass diese Methode am effektivsten ist. Wir sollten nicht predigen oder reines Vorbild sein, sondern Gelegenheiten schaffen, in denen man seine moralische Kompetenz prüfen und entwickeln kann. Das tun wir, indem wir Aufgaben stellen und Menschen dazu bewegen, sich mit ihrer Moral auseinanderzusetzen.

Optimalerweise gäbe es also so etwas wie Moralerziehung als Unterrichtsfach in der Schule?
Das wäre meine Hoffnung. Wenn man nur ein, zwei Mal im Jahr zwei Stunden darauf verwenden würde, die Moral zu trainieren, hätte man schon sehr gute Erfolge. Das Problem dabei ist, dass wir dafür keine entsprechend ausgebildeten Lehrer haben. Aber wir hoffen, dass die Ministerien und Hochschulen das bald in die Lehrerausbildung mit aufnehmen.

Glauben Sie überhaupt, dass der Mensch für die Moral gemacht ist? Oder wird unsere Gesellschaft sich mehr und mehr auf Darwin berufen, dem Gesetz des Fitteren folgen und mit dreisten Ellenbogenbewegungen seinem Glück auf die Sprünge helfen?
Nun, da muss ich ja optimistisch sein. Wir bohren und bohren und hoffen, dass die Bundes- und Bildungspolitiker für unsere Anliegen empfänglich werden. Wir fördern die Moral jedenfalls nicht durch schöngeistige Texte und Sonntagspredigten, sondern durch hartes Training. Jeder Mensch hat Werte, wir alle haben hohe Ideale – wir müssen sie nur herausfordern und aktivieren.

Herr Lind, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sarah Maria Deckert

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