- "Ja zur Kernkraft. Die Erde zu retten, ist menschenverachtend"
Ob Atomkraft oder Gentechnik – Die Ängste der Deutschen hält er für panisch, emotional und religiös begründet. Der schweizerische Immunologie-Professor Beda M. Stadler äußert sich zur Frage „Wen sollen wir retten, den Planeten oder uns?“
CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal die meistgelesenen Artikel aus 2011. Im April:
Herr Stadler, sie nennen die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den Reaktorunfall in Fukushima panisch. Sollte Deutschland bei der Kernenergie bleiben?
Ja. Wenn wir aus jeder Technik, die uns bedroht, gleich ausstiegen, gäbe es keine Entwicklung mehr. Wir Menschen sind für keine Technologie völlig gerüstet. Nehmen Sie das Auto: In den USA sterben jährlich 30 000 Menschen bei Verkehrsunfällen. Etwa genauso viele Menschen sind in Japan durch den Tsunami ums Leben gekommen. Bei dem Erdbeben auf Haiti vor einem Jahr starben zehn Mal mehr Menschen als in Japan. Dabei war das Beben auf Haiti mit einer Stärke von Sieben vergleichsweise schwach. Das Atomkraftwerk in Fukushima ist von einer 15 Meter hohen Tsunamiwelle überrollt worden. Da wundert man sich fast, dass nur so viel passiert ist. Natürlich ist die Katastrophe für die Menschen eine Tragödie. Trotzdem verlief sie verhältnismäßig glimpflich. Die Japaner bauen die sichersten Wolkenkratzer der Welt, eine riesige Naturkatastrophe konnten sie fast abwenden. Japan ist ein Paradebeispiel dafür, was der Mensch mit Technik alles erreichen kann.
Die Naturkatastrophe hatte immer noch erhebliche Folgen, die Reaktorkatastrophe mal ausgenommen. Hat die Technik nicht auch ihre Grenzen?
Doch, das bestreite ich auch nicht. Aber obwohl die Technik stetig Fortschritte macht und sicherer wird, scheint sich eine irrationale Technikangst auszubreiten. In Deutschland ist das besonders deutlich, aber wir Schweizer sind da nicht anders: Einen Tag nach der Katastrophe in Japan sorgte man sich in einer berühmten Radiosendung in der Schweiz als erstes darum, ob jetzt radioaktiv verseuchte Nahrungsmittel in die Schweiz kommen.
Können sie die Angst verstehen?
Das kann ich, aber es hilft doch nicht, wenn wir uns wie eine in die Ecke gedrängte Ratte jeglicher Rationalität entledigen und nur noch emotionale Abwehrreflexe an den Tag legen. Was den Japanern passiert, ist furchtbar. Wir sollten ihnen helfen, anstatt uns als erstes zu Fragen, wie wir uns vor ihnen schützen können.
Fehlt es uns an Mitgefühl für die Opfer der Katastrophe?
Wir haben Affengehirne. Wir können mit einem Menschen Empathie empfinden, mit zweien auch noch. Aber je mehr Menschen es werden, umso unfähiger wird unser Affengehirn mitfühlend zu reagieren. Der Tod eines einzigen Angehörigen bringt uns fast um, aber 30 000 Tote sind so viele, dass unser Gehirn sich nicht damit auseinandersetzen kann. Die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr ist eigentlich eine Katastrophe. Sie lässt uns aber kalt, ebenso zehntausende Japaner, die von einem Tsunami umgebracht werden. Hingegen machen drei Japaner, die sich verstrahlt haben, weil sie zu blöd waren, Stiefel zu tragen, Schlagzeilen, die um die Welt gehen und zeigen, wie gefährlich die Atomkraft ist.
Ihr Vergleich mit dem Straßenverkehr, erinnert an ein Cicero Interview mit Risikoforscher Ortwin Renn, den sie in ihren Artikeln ebenfalls erwähnen. Sinngemäß sagte Herr Renn: Hätte das Autofahren nicht einen dermaßen hohen Nutzen, wäre es längst verboten.
Ein anderes Beispiel: Uns stört zum Beispiel auch nicht, wenn weite Landstriche Europas mit Autobahnen, Straßen und Parkplätzen überzogen sind. Man sagt, nach dem Reaktorunfall wird das Gebiet rund um Fukushima für die Landwirtschaft jahrzehntelang unbrauchbar sein. Das gleiche gilt aber auch für asphaltierte Flächen. Nur fürchtet sich niemand so sehr vor Autobahnen wie vor Atomkraftwerken. Dabei kosten sie mehr Menschen das Leben als die Kernenergie. Wir akzeptieren heutzutage Elektroautos mit Batterien, von denen wir nicht wissen, wie wir sie einmal entsorgen können. Es geht immer um eine Güterabwägung. Und die wird zurzeit rein emotional getroffen.
Sie vergleichen in ihren Artikeln Messungen von Radioaktivität aus der Natur oder aus anderen technischen Quellen, wie Röntgen oder Flüge. Ist Radioaktivität überhaupt eine relevante Gefahrenquelle oder ist das alles eine Lappalie?
Nein, das ist keine Lappalie. Ähnlich wie in Tschernobyl wird der Reaktor in Fukushima für die nächsten Jahrhunderte ein Sperrgebiet sein, ein Ort, an dem Menschen sich nicht aufhalten sollten. Auf der Erde gibt es jedoch viele andere solcher Orte, an die wir uns gewöhnt haben. Neben einem Vulkankrater wollen wir zum Beispiel auch nicht unbedingt ein Häuschen bauen. Fukushima ist menschenverursacht, das Gebiet ist kontaminiert. Aber vorher haben die Menschen einen Nutzen aus dem Kraftwerk gezogen. Ich habe nie gesagt, man sollte keine Evakuierungszonen einrichten. Dass die Japaner für mehrere Jahre – je nach Distanz zum Reaktor – riesige bis kleinere Probleme haben werden, ist offensichtlich.
Bisher haben die Japaner schwere Erdbeben oft schadlos überstanden. Auf ein Erdbeben der Stärke neun waren sie nicht vorbereitet. Bestätigt es nicht jeden Technikgegner, wenn in einem Land, das technisch so weit fortgeschritten ist, die Natur den Menschen derart in die Schranken weist?
Selbstverständlich gibt es Naturkräfte, die wir nicht kontrollieren können. Es ist aber etwas völlig anderes, wenn die Kanzlerin als Reaktion auf die Katastrophe sagt, dass wir in Gottes Hand sind. Dass sie eine Kommission zur Atomkraft einrichtet und sie zum Teil mit Bischöfen besetzt. Warum kommen bei technisch wichtigen Entscheidungen Leute zum Zug, die nichts anderes im Hinterkopf haben, als Bücher von einem Hirtenvolk, das mal eine Offenbarung gehabt haben soll. Das ist doch traurig.
Angela Merkel ist Christdemokratin. Von Gott zu sprechen, ist da nicht allzu absurd, vor allem dann, wenn es darum geht, eine politische 180-Gradwende in der Atompolitik zu vermitteln.
Zurzeit sind praktisch alle Politiker Wendehälse und noch größere Opportunisten als sonst. Kabarettist Hagen Rether sagte einmal, "einem Politiker Populismus vorzuwerfen, das ist absurd. Das ist so, als werfe man einem Sportler vor, dass er schwitzt". Grundsätzlich hat er Recht. Trotzdem ist es nicht fair, wenn die Leute, die zuvor all die Verträge mit der Atomindustrie unterzeichnet haben, plötzlich grüner als Grün sind und so tun, als ob sie immer gegen Atomkraft gewesen wären.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.