- Mit Snowboardhelm gegen den Willkürstaat
Die Proteste in der Türkei halten trotz der Drohungen von Ministerpräsident Erdogan an. In Istanbul gehen mittlerweile auch Deutsch-Türken für demokratische Grundrechte auf die Straße. Ipek ist eine davon. Sie berichtet von einem Angriff mit gefährlichem CR-Gas
Ipek, 29, ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Deutschland geboren. Seit vier Jahren lebt und arbeitet sie in Istanbul. Aus Sicherheitsgründen wurde hier ihr Name geändert.
Wie haben Sie die Proteste in Istanbul verfolgt?
Seit einer Woche habe ich kaum geschlafen. Wenn ich nicht auf der Straße bei den Protesten bin – was ich meistens bin –, verfolge ich die Geschehnisse vor dem Computer. Seit dem brutalen Übergriff auf friedliche Umweltaktivisten im Gezipark haben immer mehr Leute gesagt: Jetzt reicht‘s! Mittlerweile kommen auch Leute, die sonst noch nie auf einer Demonstration waren oder sich noch nie für Politik interessiert haben. Sie haben genug von Erdogans Willkür – und fordern ihre Grundrechte ein.
Die Polizei soll ja mit ziemlicher Gewalt gegen Demonstranten vorgehen.
Polizisten schlagen mit Knüppeln auf einfach nur am Ufer sitzende Leute ein. Sie gehen mit Gasbomben und Wasserwerfern gegen Hunderte von Demonstranten vor. Und mit CR-Gas!
CR-Gas gilt ist ein Tränengas, das als chemische Waffe gelistet ist…
Es ist schlimmer als normales Tränengas. Dieses Zeug führt zu Übelkeit und blockiert die Atemwege. Es sollen schon Menschen nach CR-Gas-Einsätzen gestorben sein. Den Behörden zufolge gab es zwei Todesfälle – ich glaube aber aufgrund der Informationen aus meinem Umkreis, dass es mehr sind. Menschenrechtler und Ärzte gehen von 3000 zum Teil schwer Verletzten aus. Die genaue Zahl weiß niemand.
[video:Revolte in Istanbul: Die Proteste gegen Erdogan]
Und die Demonstranten lassen sich von solchen Angriffen nicht einschüchtern?
Im Gegenteil. Seit Freitag wissen die Leute, wie sie mit dem Gas umgehen müssen. Sie tragen Halstücher, Gasmasken und Schwimmbrillen; am Tasksimplatz boomt der Verkauf billiger Pappgasmasken. Ich selbst trage einen Snowboardhelm. Außerdem haben die Menschen Essig dabei und Sprühflaschen mit einer Wasser-Talcid-Lösung, einem Magenmedikament. Beides hilft gegen das Gas. Für diejenigen, die ohne Ausrüstung kommen, gibt es im Gezipark mittlerweile Stände mit den entsprechenden Schutzgeräten. Auch Kekse, Kuchen, Börek und Getränke werden von Freiwilligen verteilt.
Ehrlich gesagt: Ich hatte am vergangenen Wochenende das erste Mal richtig Angst um mein Leben…
Warum?
Wir gerieten mitten auf dem Boulevard in eine Gas-Attacke. Die Angreifer verfolgten uns noch bis in die Nebenstraßen. Wir kamen an einem Auto vorbei, in das jemand eine Gasbombe geworfen hatte. Eine Frau mit Kopftuch lag fast ohnmächtig auf dem Fahrersitz eines gegenüberliegenden Autos. Wir konnten sie zum Glück wieder aufpäppeln. Ein anderer Angriff ereignete sich am Taksimplatz: Sicherheitskräfte warfen eine Gasbombe in die Metrostation, die ich selbst jeden Tag benutze. Zuvor hatte man die Fahrgäste per Durchsage aus der U-Bahn gelockt– und dann schnell die Türen verriegelt.
Glauben Sie, dass der Protest anhalten wird?
Die Stimmung jedenfalls ist unbeschreiblich. Gruppen, die sich sonst bekriegen, kämpfen und feiern jetzt zusammen, Tag und Nacht. Es ist egal, ob die Demonstranten arm oder reich sind, mit der Kommunismus-, Che-, Atatürk- oder Fußball-Fahne wedeln: Sie alle fordern ihre demokratischen Grundrechte ein. Dieser Protest gärt mittlerweile in großen Teilen Istanbuls – und in rund 70 der 81 Provinzen des Landes. So etwas hat es noch nie in der Türkei gegeben!
Andererseits hat Ministerpräsident Erdogan einen starken Rückhalt in der Bevölkerung.
Klar, er ist natürlich kein Diktator, sondern demokratisch gewählt. Bei der letzten Wahl standen noch rund 50 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Ihn mit Hitler zu vergleichen, geht eindeutig zu weit. Erdogan ist trotzdem ein autoritärer Spinner, der jegliche Bodenhaftung verloren hat. Er provoziert mit seiner Drohung, er könne angeblich eine Million Menschen zusammentrommeln und auf die Demonstranten hetzen. Er bezeichnet Regimekritiker als marginale Gruppe von Randalierern und Terroristen.
Die von ihm benutzte Bezeichnung „Capulcu“ (=Plünderer) ist übrigens zu einem Kultbegriff unter den Demonstranten geworden: Alle nennen sich nun selbst „Capulcu“, es werden Plakate gedruckt und Lieder dazu gedichtet. Sogar der US-Philosoph Noam Chomsky bezeichnet sich solidarisch als „Capulcu“. Es gibt auch eine englische („chapuller“) und eine spanische („chapuleador“) Version dieses Wortes.
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Unsere einzigen Quellen sind Facebook, Twitter, Halk TV und Ulusal. Beides sind Sender der kemalistischen CHP Partei, der größten türkischen Oppositionspartei, die man auch online als Livestream verfolgen kann. Bei den sozialen Netzwerken kann man sich jedoch nicht sicher sein, es gibt viele Provokateure und Zivilpolizisten unter denjenigen, die dort Nachrichten verbreiten.
Und die türkischen Medien nicht?
Die haben bis vor kurzem gar nicht berichtet, sondern lieber ihre Kuppel, Koch- und Superstarshows weitergesendet. Der Nachrichtensender NTV brachte einen Dokumentarfilm über Pinguine! Mittlerweile boykottieren die Menschen alle Unternehmen der hinter dem Sender stehenden Doğuş-Holding – darunter auch Hotels, Restaurants und Banken. Und vor den Medien der regierungsnahen Doğan-Mediengruppe, zu der ein Großteil der Fernsehkanäle und viele Zeitungen gehören, stehen täglich Demonstranten. Viele Doğan-Mitarbeiter haben bereits gekündigt.
Dies ist ein Volksaufstand, der über die sozialen Medien ins Rollen gekommen ist – ohne eine Gruppe, eine Partei oder eine Person als Anführer. Je mehr Videos und Bilder um die Welt gehen, desto wirkungsvoller.
Wir danken Ihnen für das Interview.
Das Interview wurde auf Grundlage einer persönlichen Rundmail Ipeks schriftlich geführt.
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