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Warum wir in Afghanistan bleiben müssen

Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich täglich. Es geht um Leben und Tod auch unserer Soldaten: Höchste Zeit für eine entschiedene deutsche Sicherheitspolitik. Ein Zehn-Punkte-Plan für eine erfolgreiche Afghanistanstrategie.

Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan dauert mit acht Jahren schon länger als der gesamte Zweite Weltkrieg. Aus der Afghanistankrise, die mit der Vertreibung der Taliban und der Al-Qaida-Terroristen ihren ersten Höhepunkt erreichte, ist inzwischen eine Krise der westlichen Afghanistanpolitik und – parallel zu den Bundestagswahlen 2009 – eine Krise der deutschen Sicherheitspolitik geworden. Neben furchtbaren und wachsenden Verlusten an militärischen und zivilen Menschenleben vor Ort sind ihr in Berlin ein deutscher Verteidigungsminister, der Generalinspekteur der Bundeswehr und ein Staatssekretär zum Opfer gefallen – nicht furchtbar, aber symptomatisch für unsere unsichere Sicherheitspolitik. Die Eskalation der Gewalt und das Fast-Scheitern der westlichen Strategie hat vielfältige Gründe. Begonnen hat es mit der amerikanischen Entscheidung im Jahre 2002, Afghanistan links liegen zu lassen und stattdessen im Irak einzumarschieren. So wurden amerikanische militärische Kräfte gebunden. Der bis heute nicht überwundene Ansehensverlust insbesondere in der muslimischen Welt war die erste Folge. Anfang 2010, kurz vor der Londoner Afghanistankonferenz, hat der US-Sonderbeauftragte Richard Holbrooke das aktuelle Dilemma des Nato-Einsatzes auf den Punkt gebracht: „Wir kämpfen in Afghanistan, aber der Feind sitzt in Pakistan.“ Und die Warnung des US- und Nato-Oberbefehlshabers in Afghanistan, General Stanley McChrystal, vor einem Scheitern des Westens steht nach wie vor im Raum. Warum eigentlich sind wir überhaupt noch dort? Nicht einmal darüber herrscht Klarheit in Berlin. Es reicht jedenfalls nicht, Peter Strucks Satz permanent zu wiederholen, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt. Warum eigentlich, da die Terroristen jetzt eher in Pakistan als in Afghanistan und morgen vielleicht im Jemen zu suchen sind? Aber auch der Hinweis auf die ursprüngliche Begründung des deutschen Einsatzes – Solidarität mit dem angegriffenen Nato-Partner USA – überzeugt nicht mehr. Wir müssen schon selbst begründen, warum deutsche und europäische Bündnisinteressen diesen Einsatz erfordern. Die von verschiedenen deutschen Politikern gelegentlich vorgetragenen menschenrechtlichen, frauenrechtlichen, sozialen oder demokratischen Ideale von „nation building“ reichen nicht aus. Die Bundeswehr kann nicht in die erschreckend vielen Staaten einmarschieren, in denen diese Ideale mit Füßen getreten werden. Angesichts der prekären sicherheitspolitischen Lage zu Beginn dieses Jahres kann es nur eine tragende Begründung für unseren fortdauernden Einsatz in der Region geben: Weder Afghanistan noch Pakistan dürfen zu „failed states“ werden, zu zerfallenden Staaten, die terroristischen Gruppierungen Zuflucht bieten – oder ihnen gar die Machtübernahme erlauben. Im Falle des Nuklearstaats Pakistan wären die Folgen für die internationale Sicherheit und Ordnung völlig unabsehbar. In Deutschland wurde von der neuen Bundesregierung ein besonderer Kabinettsausschuss eingerichtet, der die Afghanistanpolitik aus einem Guss sicherstellen sollte. Er hat im vorigen November auch ein Positionspapier „Afghanistan. Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung“ präsentiert. Das Fingerhakeln innerhalb der Koalition geht aber weiter. Verschiedene Vorschläge, die deutsche Sicherheitspolitik durch die überfällige Aufwertung des Bundessicherheitsrats organisatorisch und konzeptionell krisenfest zu machen, fanden bisher kein Gehör in Berlin. Gleichzeitig wird die ohnehin prekäre Akzeptanz des Afghanistaneinsatzes durch den Täuschungsvorwurf, wie er jüngst unverblümt von der EKD-Ratsvorsitzenden, Bischöfin Margot Käßmann, formuliert wurde, noch zusätzlich belastet: „All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden …“ Der Vorwurf vorsätzlicher Täuschung ist abwegig – aber hat sich der politische Diskurs in Berlin vielleicht doch zu lange an der kalten Tatsache vorbeigemogelt, dass der Einsatz der Bundeswehr etwas grundsätzlich anderes ist als ein Einsatz der Polizei? Es ist an der Zeit, dass sich Parlament und Regierung mit den strategisch-taktischen Zielen und Optionen in Afghanistan befassen – statt ihre Energien auf das innenpolitische Punkten im Kundus-Untersuchungsausschuss zu konzentrieren. Hilfreich wäre es darum, einige Erfahrungen der vergangenen beiden Jahrzehnte mit politisch-militärischem Krisenmanagement in Erinnerung zu rufen: Erstens: Jeder in Afghanistan getötete ISAF-Soldat ist, genauso wie jeder afghanische Zivilist, im Prinzip ein Opfer zu viel – es sei denn, die Einsatzziele rechtfertigten ausdrücklich solche Opfer. Handelte es sich in Afghanistan um einen schlichten Fall des internationalen Terrorismus, dann ließen sich sogenannte Kollateralschäden möglicherweise als wahrhaft schrecklicher Preis erfolgreicher Terroristenbekämpfung begründen. Es herrscht inzwischen aber weitgehend Konsens darüber, dass der Afghanistaneinsatz ein „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“ ist, bei dem es um die Bekämpfung von Aufständischen geht. Eine entsprechende Strategie muss jedoch viel entschiedener als eine „anti-terrorism strategy“ die Bevölkerung auf die eigene Seite ziehen – sonst ist sie zum Scheitern verurteilt. Deshalb sind Opfer unter der Zivilbevölkerung das reine Gift, und deshalb passen Luftbombardements à la Kundus überhaupt nicht in das strategische Konzept – höchstens als ultima ratio zur Verhinderung unmittelbar drohender eigener Verluste. Diese Sichtweise machen sich inzwischen – spät, aber hoffentlich nicht zu spät – auch die USA zu eigen. Wenn aber massive Luftangriffe überhaupt nicht zweckdienlich sind, müssten dann nicht konsequenterweise mehr Bodentruppen verfügbar sein, um die Kontrolle nicht zu verlieren, aber auch für gezielte Einsätze gegen identifizierte Talibangruppen? Die Provinz Kundus ist jedenfalls mit den gegenwärtig verfügbaren Kräften nicht mehr in den Griff zu bekommen. Mangels Soldaten kann ISAF die Bevölkerung in den Dörfern kaum noch schützen. Obamas Truppenverstärkung – „surge“ – macht insofern Sinn. Zweitens: Wo ist eigentlich der deutsche „McChrystal-Bericht“? Wieso debattiert Berlin wochenlang über strategische Empfehlungen eines US-Generals für die US-Regierung, ohne dass ein vergleichbares deutsches militärisches Papier, etwa des Generalinspekteurs der Bundeswehr als oberstem militärischem Berater der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung, vorliegt? Oder wenigstens ein Strategiepapier des verantwortlichen deutschen ISAF-Generals? Die einzige bekannte öffentliche Empfehlung zur zukünftigen Rolle der Bundeswehr in Afghanistan kam von einem hochrangigen deutschen Offizier im Nato-Hauptquartier. Die Berliner Reaktion auf seinen konkreten Vorschlag einer moderaten Verstärkung des deutschen Kontingents – dröhnendes Schweigen. Das wird sich womöglich mit der Ernennung eines Afghanistan-erfahrenen neuen Generalinspekteurs ändern. Es muss sich auch ändern: Wir sind nicht bei der Steuerdebatte, wo jeder, ohne größeren Schaden anzurichten, im politischen Konzert mitspielen darf. Es geht hier um Leben und Tod unserer Soldaten. Ohne wirklichen militärischen Sachverstand politisch entscheiden zu wollen, wäre grob fahrlässig. Drittens: Bei der Frage: „Mehr Truppen – ja oder nein und wenn ja, wie viele?“ gilt die „Scowcroft-Doktrin“, benannt nach Brent Scowcroft, dem nationalen Sicherheitsberater von Bush senior. Sie ist leicht zu merken: lieber „nach oben“ irren als „nach unten“. Soll heißen: Eine zu geringe Truppenverstärkung kann das Scheitern des gesamten strategischen Ansatzes zur Folge haben – eine zu großzügige Verstärkung wird in aller Regel nicht schaden. Viertens: Der Einsatz der Bundeswehr ist nicht dasselbe wie der Einsatz von Polizei, Technischem Hilfswerk oder Feuerwehr. Die Bundeswehr wird im Rahmen eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Unterstützung der afghanischen Regierung eingesetzt. Dieses Mandat zwingt sie, gegebenenfalls die aufständischen Taliban zu bekämpfen. Bekämpfen heißt zunächst abschrecken – aber es heißt auch, wenn Abschreckung versagt, schießen und töten. Verantwortlich für dieses Mandat sind Bundesregierung und Bundestag gemeinsam – und sie haben gemeinsam den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Fünftens: Mit militärischen Mitteln lassen sich militärische Herausforderungen bewältigen, politische Krisen hingegen bedürfen eines politischen Lösungsansatzes. Die Bundesregierung pocht zu Recht seit geraumer Zeit auf einen „vernetzten Ansatz“, auf ein Gesamtkonzept, das militärische, politische, entwicklungspolitische und finanziell-wirtschaftspolitische Elemente zusammenführt. Berlin kann sich zugutehalten, mit diesen Vorstellungen die gesamte Nato-Strategie in Afghanistan nachhaltig beeinflusst zu haben. Es wäre jedoch falsch, im Rahmen eines solchen Gesamtkonzepts das Militärische zu vernachlässigen. Ohne den von den USA im Sommer 1995 unterstützten, kroatischen militärischen Geländegewinn in Bosnien-Herzegowina hätten die Dayton-Friedensverhandlungen nicht zu einem Verhandlungsfrieden führen können; denn die Serben hätten niemals Territorialkonzessionen ohne militärischen Druck am Verhandlungstisch gemacht. Die mehrmonatige Luftintervention der Nato war 1999 Voraussetzung für das Einlenken Miloševics in der Kosovokrise – alle politischen Verhandlungsversuche waren vorher kläglich gescheitert. Der Einsatz militärischer Macht im Rahmen eines strategischen Gesamtansatzes schafft häufig überhaupt erst die Voraussetzung für eine sogenannte „politische Lösung“. Wer mehr Fantasie zum Frieden fordert, sollte derlei Erfahrungen nicht ignorieren. Sechstens: Eine „politische Lösung“ der Afghanistankrise wird das Ergebnis von Verhandlungen sein müssen, ja – auch mit den Taliban. Aber Verhandlungen mit den Taliban auf lokaler oder regionaler Ebene werden umso aussichtsloser sein, je größer die Zuversicht der Taliban ist, ihre Ziele auch ohne Verhandlungskonzessionen erreichen zu können. Nur der verhandelt erfolgsorientiert, dem klargemacht werden kann, dass ihm der Sieg nicht ohnehin in den Schoß fallen wird. Deshalb ist es so wichtig, zwar entschlossen eine „Übergabestrategie“ zu entwickeln, aber eben keine überhastete „Abzugsstrategie“, die einen Verhandlungsfrieden verhindern würde. Und deshalb werden noch viel Zeit, Geld und Ausbilder sowie Soldaten investiert werden müssen, bevor „self-sustained security“ – „selbsttragende Sicherheit“ – entsteht. Bei Exitstrategien ist es wie mit dem Krieg – sobald er anfängt, sind alle Pläne hinfällig. Kein einziger militärischer Friedens- oder Kampfeinsatz der vergangenen Jahrzehnte ließ sich punktgenau gemäß der Exitstrategie beenden: Bill Clinton sprach 1995 von einem Einsatz in Bosnien für genau ein Jahr, nicht länger. Bekanntlich sind ausländische Soldaten auch heute noch in Bosnien, genauso wie im Kosovo. Diese Einsätze sind nicht erfolglos – aber der Erfolg stellt sich oft erst nach längeren Jahren ein. Deshalb: ja zu einer Exitperspektive, aber ohne öffentliche Festlegung konkreter Abzugstermine, die nur den Taliban zu planen erleichtern würden und ohnehin nicht eingehalten werden könnten. Siebtens: Die Suche nach einem politischen Verhandlungsansatz darf sich nicht auf Kabul allein konzentrieren. Afghanistan ist nicht Frankreich, wo alle Entscheidungen in Paris getroffen werden – Afghanistan ist ein ethnischer und machtpolitischer Flickenteppich. Deshalb sollte die Suche nach lokalen Verhandlungspartnern oder Verantwortungsträgern, auch unter den Taliban, verstärkt werden. Andererseits sollte der Regionalansatz intensiviert, sollten die regionalen und globalen Mächte einbezogen werden. Dazu zählen Pakistan, aber auch Russland, Indien, China – und Iran. Kaum ein Land hat ein so massives Interesse an einer Eindämmung der Flüchtlings- und Drogenströme aus Afghanistan wie Iran. Das Land hat schon bei den Petersberg-Konferenzen vor Jahren seine Bereitschaft zu konstruktiver Mitarbeit gezeigt, daran kann angeknüpft werden. Achtens: Der Opiumanbau macht Afghanistan zu einem besonders schwierigen Fall. Heute stammen 92 Prozent der Weltproduktion von Heroin aus dem Land. Taliban und Warlords schützen den Anbau von Opium und seine Veredelung zu Heroin. Der kommerzielle Gegenwert ist enorm. Drogenkartelle und Taliban bilden eine sich gegenseitig begünstigende Allianz. Jede künftige Strategie muss daher den Zusammenhang zwischen Drogenanbau und den Entwicklungschancen des Landes in den Vordergrund rücken. Am 11. August 2009 hat der Auswärtige Ausschuss des amerikanischen Senats festgestellt: „Die Taliban können nicht besiegt werden, und es kann keine funktionierende Regierung geben, wenn nicht der Geldfluss versiegt, der aus der afghanischen Drogenindustrie stammt.“ Neuntens: Die westliche Militärpräsenz in Afghanistan wird von muslimischen Regierungen gerne kritisiert, man geißelt die Verwestlichung, fordert Mitsprache. Muslimische Mitsprache: Warum eigentlich nicht? Warum nicht auf stärkere Beteiligung muslimischer Partner an der internationalen Präsenz in Afghanistan drängen? Warum keine indonesischen und arabischen Truppenkontingente? Nicht nur zu unserer eigenen Entlastung, sondern auch zur Entkräftung des Vorwurfs, schon wieder besetze der Westen ein islamisches Land. Und warum greift eigentlich niemand in Brüssel oder Berlin den Vorschlag des britischen Außenministers auf, über eine Art Marshall-Plan für Pakistan nachzudenken? Zumal sich alle einig sind, dass ein Versinken Pakistans im Chaos von Gewalt und Fundamentalismus eine noch viel größere Bedrohung für uns alle darstellen würde als die Gastfreundschaft der Taliban für Al Qaida in Afghanistan! Zehntens: Deutschlands Afghanistandebatte braucht eine ausgeprägtere strategische Komponente. Welche Folgen hätte ein Scheitern in Afghanistan und der Zerfall Pakistans für das Verhältnis zwischen China und Indien? Und was wäre dann mit der Rolle der USA in Asien? Wenn Europa Ambitionen hat, sich zu einem „Global Player“ zu entwickeln, müssen wir dann nicht an einer eigenen aktiven Rolle in Asien interessiert sein? Wäre ein europäischer Rückzug aus Afghanistan nicht nur ein Desaster für die Nato, sondern auch ein entscheidender Schritt in Richtung globaler strategischer Irrelevanz Europas? Wenn das nicht im europäischen Interesse liegt, was folgt daraus? Solche Fragen werden bei uns zu selten gestellt. Sie verdienen aber Antworten – als Teil einer deutschen und europäischen sicherheitspolitischen Debatte, die strategisch denkt und mehr ist als kurzatmiges Reagieren auf das Tagesgeschehen. Nur so werden wir mit der Krise fertig werden können.

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