- Frankreichs Adel hat sein Volk verloren
Francois Hollande wollte sich als moralisch einwandfreie Alternative zu den Konservativen präsentieren. Nun verkörpert seine Regierung die tiefe gesellschaftliche Krise des Landes
Gerade ein Jahr ist es her, dass François Hollande in seinem Wahlkampf eine exemplarische Republik versprochen hat. Nur zehn Monate liegt es zurück, dass der neu gewählte Präsident am symbolträchtigen 14. Juli eine Kommission einsetzte, die Vorschläge für eine Erneuerung des politischen Lebens liefern sollte; vor keinem halben Jahr legte diese ihre 35 Vorschläge für eine demokratische Erneuerung Frankreichs vor. Gerade nach den affärenreichen Jahren unter den konservativen Regierungen seit 1995 versuchte François Hollande, sich und seine Partei als moralisch einwandfreies Gegenbeispiel zur konservativen UMP zu inszenieren. Ein wahrlich gelungener Schachzug im Wahlkampf, sind doch beide noch lebenden ehemaligen Präsidenten des konservativen Lagers entweder rechtskräftig verurteilt (Jacques Chirac) oder es läuft ein Ermittlungsverfahren gegen sie (Nicolas Sarkozy). [[nid:54173]]
Wohltuend erschien vielen Franzosen in diesem Kontext Hollandes Versprechen einer „normalen“ Präsidentschaft. In Zeiten wirtschaftlicher Depression kündigte der neue Präsident eine Erneuerung der Demokratie und moralischer Grundregeln an und wollte den chronisch misstrauischen Franzosen auf diese Art Mut und Zuversicht vermitteln. Dass guter Wille jedoch kaum ausreicht, um die bis in die Grundfesten erschütterte französische Gesellschaft moralisch wieder aufzurichten, zeigt der aktuelle Skandal um den ehemaligen Budgetminister Jérôme Cahuzac, der monatelang ein Bankkonto in der Schweiz verheimlichte und auch nicht vor öffentlichen Lügen zurückschreckte.
Der große gesellschaftliche Aufruhr, den der Fall Cahuzac auslöste, erscheint auf den ersten Blick überraschend, denn kleinere und größere politische Skandale sind in Frankreich alles andere als selten und werden von der Bevölkerung meist mit einem resignierten Achselzucken bezüglich der laxen Werteinstellungen „der da oben“ hingenommen. Auf den zweiten Blick jedoch erscheint die Reaktion mehr als plausibel: Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Momente, in denen ein Skandal über seinen Unterhaltungswert hinaus Schlagzeilen machte, Frankreich und seine Bewohner tief berührte und Bestehendes in Frage stellte. Klar ist: Nicht das konkrete Fehlverhalten eines bestimmten Ministers ist nun Kern der Debatte. Auf dem Spiel steht vielmehr die politische Kultur Frankreichs. Doch warum eskalierte ausgerechnet im Zuge dieser Affäre die Debatte um Moral und politische Kultur?
Skandale geben Hinweise auf sich verschiebende Normen und Werte. Insbesondere ihre Häufung gilt als ein Symptom für die Krisenhaftigkeit der Lage. Und dass Frankreich auch über die wirtschaftliche Depression hinaus in einer tiefen gesellschaftlich-moralischen Krise steckt, kann spätestens jetzt niemand mehr leugnen.
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In der Wissenschaft gilt ein Skandal als Normbruch einer bestimmten Person oder Institution, die eigentlich für die Wahrung von Normen steht, also ein Vorbild sein sollte. Im aktuellen Fall fand ein doppelter Normbruch statt: Nicht nur hat der Minister Bevölkerung, Präsidenten und Nationalversammlung belogen (1. Normbruch), er hat darüber hinaus auch noch den für seine Funktion nahezu undenkbaren Fehler begangen, als Budgetminister, ein Bankkonto in der Schweiz zu besitzen (2. Normbruch). All dies blieb lange unentdeckt, nur wenige Insider wussten davon und erst durch die Veröffentlichung erster Beweise durch das auf Enthüllungsjournalismus spezialisierte Nachrichtenportal Mediapart wurde der Normbruch publik.
Diese Aufdeckung ist das zweite konstituierende Merkmal eines Skandals. Fehlverhalten führt jedoch nach seiner Aufdeckung nicht automatisch zu einem Skandal. Dafür entscheidend ist vielmehr die öffentliche Reaktion: Erst durch die Verbreitung in den Massenmedien und die Kulmination in einer kollektiven Empörung wird der aufgedeckte Normbruch zum Skandal, wie es derzeit in Frankreich gut zu beobachten ist. Nicht jedoch schon seit der ersten Thematisierung durch Mediapart (noch hielten viele Insider dicht), sondern erst seit dem wegen der Beweislage unaufschiebbaren Geständnis, diskutieren Bevölkerung, Medien und politische Eliten über potentielle Konsequenzen. Die „affaire Cahuzac“, wie der Skandal in Frankreich heißt, scheint dabei das Fehlverhalten zu sein, das das Fass der öffentlichen Duldsamkeit zum Überlaufen brachte. Denn obwohl mit dem Rücktritt des Ministers und dessen öffentlichem Mea culpa in der Dramaturgie eines Skandals eigentlich dessen letzte Stufe, die Genugtuung, hätte erreicht sein müssen, kommt die französische Gesellschaft nicht zur Ruhe.[[nid:54173]]
Dies lässt sich mit verschiedenen Argumenten begründen, die nochmals verdeutlichen, dass nicht der konkrete Skandal an sich, sondern vielmehr das, wofür er symbolisch steht - nämlich die politische Kultur - im Mittelpunkt steht. Die Erschütterung lässt sich dabei zunächst auf das „Saubermann-Image“ des Präsidenten Hollande und seiner Politik zurückführen: All die angekündigten Verbesserungen, die von den Ministern unterzeichneten Ehrenerklärungen und die Maßnahmen zur Verbesserung des Regierungsimages erscheinen in Anbetracht der immer neuen Entwicklungen als Makulatur. Dazu kommt die Enttäuschung darüber, dass auch die „Anderen“, das linke Lager, moralisch kaum besser zu sein scheinen als die Konservativen. Auch gibt es das tiefsitzende Gefühl, im konkreten Fall belogen und betrogen worden zu sein, nicht nur von Jérôme Cahuzac selbst, sondern auch von anderen Regierungsangehörigen, die nach den ersten Enthüllungen mindestens nicht genau genug hinschauten und dem Wort des Kollegen Vorrang vor recht plausiblen Beweisen gaben. Darüber hinaus entwickelt sich in Frankreich eine Art ras-le-bol-Gefühl (die Nase voll haben). In der vergangenen Zeit traten viel zu häufig Skandale auf, die außer hohler Rhetorik kaum oder keine Auswirkungen auf die politische Kultur hatten.
Während das Vertrauen in die Politik bereits im Vorfeld tief erschüttert war, ist es nun auf einen Tiefpunkt gesunken. Nur noch 21 Prozent der Franzosen vertrauen ihren Repräsentanten. Ekel und Misstrauen sind die am häufigsten genannten Gefühle, die Franzosen einfallen, wenn sie nach ihrem Verhältnis zu den politischen Eliten befragt werden. Extremistische Parteien gewinnen an Zuwachs, wenn sich ganze Bevölkerungsgruppen nicht gleich völlig vom politischen System abwenden.
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Und so macht derzeit das Wort moralisation, also Moralisierung, in Paris die Runde. Über Parteigrenzen hinweg wird sie – wenn auch mit unterschiedlichen konkreten Ausformungen – gefordert. Der Zentrumspolitiker François Bayrou hat flugs eine diesbezügliche Onlinepetition erstellt, die bereits von mehr als 50.000 Bürgern unterzeichnet wurde. Insbesondere der Aktionismus der Regierung und des Präsidenten erscheint dabei jedoch als ein Feigenblatt: Binnen einer Woche haben die Minister nun ihre vollständigen Besitzstände veröffentlicht; sie informieren darüber, dass sie Teilhaber von Garagen in der Provinz und von Wohnungen in Paris sind. Gar über Autos und Möbel geben sie Auskunft. Doch – und das fragen sich viele Franzosen – was soll diese Maßnahme - die konservative Zeitung Le Figaro nennt sie den „Striptease der Republik“ - jenseits versuchter Imagepflege bewirken?[[nid:54173]]
Denn auf den Grund der Probleme dringen diese Maßnahmen keineswegs vor. Nicht der Wohlstand ihrer politischen Eliten ist es, der die Franzosen dazu bringt, ihnen den Rücken zuzuwenden, sondern vielmehr ihr laxer Umgang mit den Privilegien der Macht, ihr elitärer Habitus, ihre langue de bois (Holzsprache, so nennen die Franzosen die Floskel-Sprache der Politik) und der gefühlte Verlust ihres Realitätssinns. Die Franzosen fühlen sich von ihren Volksvertretern weder verstanden noch angemessen repräsentiert. Die Distanz der Bevölkerung zu den Eliten ist in Frankreich traditionell groß. Auch die Parteien haben als intermediäre Organisationen durchweg einen schlechten Ruf. Das Elitenrekrutierungssystem, die übliche Ämterkumulation, Postengeschacher und die im zentralistisch-jakobinischen Frankreich räumliche wie gefühlte Distanz zum weit entfernten und abgehobenen Pariser Leben, sorgen dafür, dass die normale Bevölkerung für ihren „Staatsadel“ (Bourdieu) kaum etwas übrig hat.
So wird deutlich, dass kleine, imagepflegende Maßnahmen kaum ausreichen werden, um die politische Kultur nachhaltig zu verändern und so die tiefe Kluft zwischen Bevölkerung und Eliten dauerhaft zu überwinden. Frankreich scheint nicht nur in Bezug auf die Wirtschaftspolitik an einem Punkt angekommen zu sein, an dem kosmetische Reförmchen keinen Effekt mehr haben werden. Die „rituelle Reinigung“, die üblicherweise Konsequenz von schwerwiegenden Skandalen ist, jedenfalls hat in Frankreich gerade erst begonnen.
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