- Ein Hirngespinst nimmt Gestalt an
Offiziell wollen Union und Grüne vor der Bundestagswahl im Herbst von einer schwarz-grünen Koalition nichts wissen. Das muss für die Zeit danach nichts heißen; beide Seiten haben längst begonnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen
Die Kanzlerin war wild und entschlossen. Eine „Revolution im Bereich der Energieversorgung“, verkündete Angela Merkel, als sie im Spätsommer 2010 die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängerte. Fachlich seien „10 bis 15 Jahre“ zusätzlich „vernünftig“, und „sowohl was die Versorgungssicherheit, den Strompreis als auch das Erreichen der Klimaziele anbelangt, ist die Kernenergie als Brückentechnologie wünschenswert.“
Ein gutes halbes Jahr später fraß Merkel ihre Worte und erklärte den totalen Atomausstieg, und zwar so schnell wie nur irgend möglich.
In genau jene Hochphase ihres unerschütterlichen Glaubens an die Atomenergie fällt noch ein anderes Kanzlerinnen-Wort. Das vom Hirngespinst. Auf dem CDU-Parteitag im November 2010 in Karlsruhe erklärte sie jeden Gedanken an ein schwarz-grünes Bündnis im Bund zu einem „Hirngespinst“.
Merkels Atomausstieg ist in vollem Gange, und ihre Hirngespinste nehmen mittlerweile Gestalt an. In Gesprächen mit Spitzenpolitikern der Union begegnet einem diese Konstellation immer öfter als eine recht wahrscheinliche Option für die Zeit nach der Bundestagswahl am 22. September 2013. Und auch bei den Grünen ist das Thema nicht so tabu wie immer getan wird.
Warum ist das so?
Auf Seiten von CDU und CSU stellt sich die Lage kühl-mathematisch so dar: Vielleicht reicht es noch einmal für Schwarz-Gelb, aber sicher ist das beileibe nicht, und wenn es nicht mehr reicht, dann ist man ganz schnell bei den Alternativen Große Koalition oder eben Schwarz-Grün. Auch die Unionisten haben aber den berechtigten Eindruck, dass das Trauma der letzten Großen Koalition und deren Ausgang (23 Prozent bei den Bundestagswahlen!) bei den Sozialdemokraten sehr tief steckt und sehr wirkmächtig ist.
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74 Prozent der Grünen können sich Schwarz-Grün vorstellen
Wirkmächtiger jedenfalls als die Aversion der Grünen gegen die Union. Denn nach Lage der Dinge werden die Grünen sich entscheiden müssen, wenn sie nicht Opposition bleiben wollen: Gehen sie in eine Ampel mit der SPD (weil es für Rot-Grün pur nicht reicht), oder wählen sie den Weg Richtung Merkel?
Mit der Monotonie eines deutschen Schlagers wiederholen die Amtsgrünen in Berlin: Das wollen wir nicht, und das kriegen wir auch nie über einen Parteitag.
Ein paar Dinge aber fallen dennoch auf. Erstens: Jenseits der Funktionärsschicht findet mancher in der Parteispitze, vor allem aber die grüne Anhängerschaft ein solches Bündnis in Anbetracht der Alternativen gar nicht so schlecht. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage finden 74 Prozent der Grünen-Anhänger eine solche Koalition mit Merkel inzwischen „alles in allem gut“.
Der eigentliche Feind der Grünen heißt FDP, die Liberalen sind das Hassobjekt. Die Partei sei die „dumpfeste Kanone“ unter den deutschen Parteien, zurzeit zu nichts zu gebrauchen, wettert unlängst der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, und „deshalb passt die FDP auch nicht in Bündnisse mit den Grünen“. Wohingegen er über die Kanzlerin sagt: „Mit Angela Merkel habe ich keine wirklichen Probleme.“
Wut auf die Ego-Partei FDP eint alle Grünen
Schon gut, schon gut: Kretschmann ist Kretschmann, und Baden-Württemberg nicht der Bund, und dennoch: Der Hass und die Wut auf die öko-ignorante Ego-Partei FDP eint alle Grünen, und warum soll ein Parteitag eigentlich eher einem Bündnis mit dieser Hass-Partei den Segen geben als einem Bündnis mit Merkels CDU?
Die hat alle Hürden, die einem Bündnis der Alt-Bürgerlichen und Neo-Bürgerlichen im Wege standen, längst aus dem Weg geräumt: Wehrpflicht, Mindestlohn, Atomausstieg.
Nach der Atomkatastrophe von Japan sagte Merkel am 6. Juni 2011 in einer Regierungserklärung, man habe in Fukushima zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht beherrschbar seien. „Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequenzen ziehen.“
Das weist über den Einzelfall hinaus: Manchmal ist nach einem Ereignis alles anders als vor dem Ereignis. Was für den 11. März 2011 gilt, den Tag des Unglücks von Fukushima, kann auch für den 22. September 2013 gelten. Bei den Grünen und bei der Union. Und wer das erkennt, wird dann auch die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Egal, was vorher gesagt worden ist.
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