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Hans Christoph Buch - „Der Literaturbetrieb hat das Lesen verlernt“

Die Kritiker haben die Kritik verlernt, klagt der Schriftsteller Hans Christoph Buch (Bild: picture alliance) in seinem Essay für Cicero Online. In den Schulen werde statt Goethe nur noch Harry Potter gelesen. Ist der Literaturbetrieb denkfaul?

Autoreninfo

Hans Christoph Buch ist Schriftsteller und lebt in Berlin.

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Hat der Literaturbetrieb das Lesen verlernt? Die Frage impliziert nicht, dass deutsche Kritiker Analphabeten sind, die vor den Zumutungen der Rechtschreibreform kapitulieren – das wäre keine Schande. Es geht um weniger und mehr zugleich: Um die Fähigkeit, literarische Texte zu dekodieren – das heißt um das Literarische an der Literatur, das auf dem langen Marsch durch die Medien auf der Strecke blieb: Wie und warum soll hier erörtert werden.

Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass die Fähigkeit zu lesen nicht nur im deutschen Sprachraum rückläufig ist. Die Dreieinigkeit von Handy, I-Pod und Internet zeugt davon – Linguisten sprechen von der „Halloisierung“ des Deutschen: Statt Guten Tag sagt man Hallo oder Hi, und der Verlust der Sprachkompetenz geht einher mit dem Erwerb technischer Fertigkeiten, die es früher nicht gab. Kein Wunder, dass dieser Prozess sich auf die Lesefähigkeit auswirkt, die Frankreichs Erziehungsministerium im Curriculum für die Grundschulen so definiert:

  • Einen Text aus bekannten Wörtern mit klarer und korrekter Aussprache unter Beachtung der Interpunktion zu lesen;
  • zu erklären, wovon der Text handelt; im Text selbst oder in Sekundärtexten Antworten auf Fragen zu dem Gelesenen zu finden;
  • ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen und den Inhalt sinngemäß wiederzugeben.

Unter dieser als „Sockelkompetenz“ bezeichneten Fähigkeiten steht die Beherrschung der französischen Sprache an erster Stelle, eng verknüpft mit der Kenntnis der Literatur, deren Kanon aufgrund des zentralisierten Bildungswesens in Frankreich intakter ist als bei uns, wo klassische Texte kaum noch behandelt werden: Meine Tochter, selbst Lehrerin, hat nach eigener Aussage in der Schule weder Goethe noch Kleist oder Kafka gelesen.

Dem Deutschunterricht fehlen die Klassiker
 

Die Ausgrenzung der Literatur aus dem Deutschunterricht begann mit den hessischen Rahmenrichtlinien (eine monströse Wortschöpfung, bar jeder sprachlichen Sensibilität), in denen nicht nur kein deutscher, sondern überhaupt kein Dichter mehr vorkam – ausgenommen Raymond Queneau, dessen Stilexerzitien „Zazie dans le métro“ in den siebziger Jahren unverzichtbar schienen. Statt Goethe, Kleist oder Kafka wurden Werbe- und Gesetzestexte analysiert, und Günter Wallraffs Industriereportagen oder Erika Runges „Bottroper Protokolle“ avancierten zum Nonplusultra ästhetisch und politisch fortgeschrittener Literatur. Das war keine bloße Geschmacksverirrung, auch kein individuelles Fehlurteil, sondern die Anwendung der antiautoritären Revolte auf den Deutschunterricht. Goethe, Kleist und Kafka galten als bürgerliche Autoritäten, die vom Sockel gestoßen werden mussten, Brecht wurde gerade noch geduldet, aber die politisch reine Lehre war in den Direktiven des Vorsitzenden Mao oder in Arien der Peking-Oper zu finden – nachzulesen im Kursbuch, wo der Carl Schmitt-Schüler Joachim Schickel seine Chinoiserien auf dem Silbertablett präsentierte. Dass der Bildersturm ein fernes Echo des rechten und linken Futurismus war, der unter Berufung auf die moderne Technik – und später auf die Oktoberrevolution – die Klassiker über Bord werfen wollte („Puschkin vom Dampfer der Gegenwart stoßen“) war den Akteuren von 1968 nicht bewusst.  

Auch nach dem von Hans Magnus Enzensberger propagierten Tod der Literatur wurde weiter geschrieben, sogar mehr denn je, aber wer sich (wie der Autor dieser Zeilen) zu Goethe, Kleist und Kafka bekannte, also zur bürgerlichen Literatur, hatte einen schweren Stand. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass viele Altachtundsechziger, damals die schärfsten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, heute den Verlust des kulturellen Gedächtnisses und der literarischen Bildung beklagen, die mit ihren Trägern, den Bildungsbürgern, im Orkus verschwand: Nicht der Klassenkampf - die neuen Medien, allen voran das Internet, machten dem Bildungsbürgertum den Garaus, weil auch das entlegenste Spezialwissen heute per Mausklick abrufbar ist: Wikipedia hat Reclams Universalbibliothek verdrängt.

1995 publizierte Uwe Wittstock, Literaturkritiker und Lektor der „collection fischer“, ein Thesenpapier, das den Wandel auf den Punkt brachte, der sich in dieser Zeit in der deutschen Literatur vollzog: Weg von einer Avantgarde aus zweiter und dritter Hand, die sich in sterilen Experimenten erschöpfte - hin zu einer leserfreundlichen Literatur, die es nicht unter ihrer Würde fand, das Publikum mit gut erzählten Geschichten zu unterhalten. Die Einteilung in anspruchsvolle, schwer verständliche Texte einerseits und Trivialliteratur andererseits wurde damit ebenso hinfällig wie die Selbststilisierung der Schriftsteller zu Sinnstiftern oder zum Gewissen der Nation. Mit dem von Uwe Timm und anderen propagierten Realismus der an DDR-Vorbildern orientierten Autorenedition hatte dieser Paradigmenwechsel nichts zu tun. Wittstocks Thesen verstärkten einen Trend, den die etablierte Kritik negiert und ignoriert hatte: Die schleichende Aufwertung als kommerziell verpönter Bestseller - von Stephen King und Dan Brown bis zum Welterfolg der Harry Potter-Romane, mitsamt den dazugehörigen Erzählformen und Verkaufsstrategien.         

Hat der Literaturbetrieb das Lesen verlernt? Nein, wenn man an die sensiblen und kompetenten Kritiker denkt, die es heute noch gibt – ja, wenn man unter Kritik die Fähigkeit versteht, komplexe Texte zu interpretieren, die durch irritierende Signale die Leser verunsichern. Letzteres weist nicht auf ein Defizit oder Versagen des Autors hin – die daraus resultierende Ambivalenz ist vielmehr ein Kennzeichen anspruchsvoller Literatur. Wer diese Doppelbödigkeit nicht zu erkennen und differenziert zu deuten vermag, ist kein Rezensent, um einen Gedanken von Herder aufzugreifen, der nicht nur Dichter und Kritiker, sondern auch Pädagoge war. „Arbeiten des Fleißes wollen eine treue Bestimmung dessen, was der Fleißige geleistet; ihre Rezension setzt eine genaue Kenntnis dessen voraus, was vor ihm geleistet worden. Wer diese Kenntnis nicht hat, oder die fleißige Arbeit genau durchzugehen nicht Zeit, nicht Lust hat, ist kein Rezensent.“

Die Kritiker haben die Kritik verlernt
 

Das beginnt schon bei der Frage, um was für eine Textsorte es sich handelt: Erzählung oder Roman, Kurzgeschichte oder Novelle, Reportage oder Bericht – um Zeit zu sparen, lassen wir Lyrik und Drama weg. Wenn ich zum Beispiel lese, der Autor eines Romans hätte keine neuen Erkenntnisse beizutragen über das Attentat auf John F. Kennedy oder das Leben nach dem Tod, dann ist das doppelt absurd bei einem Text, dessen Verfasser im Jenseits hätte recherchieren müssen, um die Forderung des Kritikers zu erfüllen. Noch dazu handelt es sich um Fiktion, nicht um ein Sachbuch, das ungelöste Fragen zu beantworten versucht.

Doch die Wiedergabe der Fabel oder Handlung eines Romans ist schwieriger, als es auf Anhieb scheint; nicht bloß tadelnde, auch lobende Kritiken fassen den Inhalt oft missverständlich oder falsch zusammen. Wenn es in einer Buchkritik heißt, der Protagonist des Romans sei verstorben und ein Radfahrer habe seine von Wildschweinen angefressene Leiche auf die Stange seines Rennrads gesetzt, so ist das nicht nur schwer vorstellbar, sondern schlicht falsch, denn im Text heißt es, dass ein Schafhirte den Toten entdeckte - der Radfahrer hingegen wird vom Autor kenntlich gemacht als Inkarnation des Voodoo-Totengotts. Die Rede ist von meinem in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienenen Roman „Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod“.   

Die Methode der Schmähkritik ist der Umkehrschluss: Alles, was ein Autor schreibt, wird gegen ihn gewendet, und der Rezensent macht keinen Unterschied zwischen Erzähler und Held, weil beide aus seiner Sicht deckungsgleich sind. Wenn der Erzähler sich selbst als Dieb und Lügner bezeichnet, hat er sich somit hinreichend charakterisiert – so wie bei Lesungen der Gruppe 47 der Satz „Warum schreibe ich das?“ Heiterkeit und Beifall hervorrief, als habe der Autor sich dadurch entlarvt. Uneigentliches Sprechen, das das Gegenteil von dem meint, was es sagt, setzt für Zwischentöne empfängliche Zuhörer voraus – Ironie ist der Fachausdruck dafür. Vor vielen Jahren fragten mich Deutschstudenten in Iowa nach der Lektüre von „Tod in Venedig“, ob Thomas Mann schwul gewesen sei oder nicht: Dass Literatur und Kunst im gleichen Atemzug etwas verhüllen und enthüllen können, dass Hinschauen und Wegschauen zwei Seiten derselben Sache sind – diese Ambivalenz war ihnen schwer bis gar nicht begreiflich zu machen. Ein anderes Beispiel hierfür ist die Aussage der First Lady Japans, ihr Mann sei ein Ochse: Kein Zweifel an der politischen Qualifikation ihres Gatten, sondern ein diskreter Hinweis auf die Samurai-Sippe, der er entstammt, nach der auch in Japan gültigen Devise „Selbstlob stinkt“.

Ist es erlaubt und statthaft, dass Schriftsteller sich in eigener Sache zu Wort melden? Marcel Reich-Ranicki beantwortete diese Frage stets mit NEIN, wenn durch unfaire Kritiken verletzte oder durch Verrisse gekränkte Autoren sich Hilfe suchend an ihn wandten: Nicht zu reagieren, war sein Rat. Dafür spricht einiges, denn wo kämen wir hin, wenn … So wird gemeinhin argumentiert, aber anders als jede Schreibmaschine weist der Literaturbetrieb keine Korrekturtaste auf, um Fehlurteile zu korrigieren – auf die Nachwelt ist kaum Verlass, und mit postumer Rehabilitierung ist Autoren nicht gedient. Wirtschaftsbosse und hochrangige Politiker, Abgeordnete und Unternehmer stehen heute unter Korruptionsverdacht und müssen geradestehen für Fehlentscheidungen im Berufs- wie Privatleben - ihre Doktorarbeiten werden nachträglich auf Plagiate durchkämmt. Auch Kunstkritiker und Kuratoren müssen erklären, wie und warum sie auf Fälscher hereingefallen sind und fragwürdige Werke für echt erklärt haben. Reporter und Journalisten sind gezwungen, falsche Behauptungen richtig zu stellen, nur Literaturkritiker unterliegen keiner Qualitätskontrolle: Es gibt keinen Ethikrat und keinen Ombudsmann, der ihnen bei der Arbeit auf die Finger schaut, und eine solche Institution wäre nicht einmal wünschenswert.

Der Literaturbetrieb muss mehr nachdenken
 

Muss ein Autor sich alles gefallen lassen? Wo liegt die Grenze zwischen Kritik, Polemik und übler Nachrede? Es ist nur ein schwacher Trost, dass die hier angeführte Mängelliste nicht repräsentativ ist für den Literaturbetrieb, und dass es immer auch Gegenbeispiele gibt: Skrupulöse Kritiker, die ihren Beruf ernst nehmen und sich ihrer Verantwortung bewusst sind – nicht gegenüber dem einzelnen Autor, sondern mit Blick auf die Literatur, der alle Beteiligten, Buchhändler und Verleger, Schriftsteller wie Kritiker verpflichtet sind.    

P. S.

Immer öfter bekomme ich Anrufe von Unbekannten, die wissen wollen, was ich mir beim Schreiben eines Texts gedacht habe bzw. darin zum Ausdruck bringen will. Meist sind es Schüler oder Studenten: Statt sich über den Text Gedanken zu machen, recherchieren sie die Adresse des Autors – im Internet kein Problem – und können sicher sein, vom Lehrer belobigt zu werden, weil die Aussage des Autors als unwiderlegbar gilt. Aber ist sie das wirklich? In Wahrheit sind Selbstauskünfte keine Lösung, sondern Teil des Problems: Anstatt Texte kritisch zu hinterfragen, werfen sie neue Fragen auf, und es ist symptomatisch, dass und wie die Denkfaulheit auf den Literaturbetrieb übergreift, der lieber Autoren interviewt, als sich der Herausforderung ihrer Bücher zu stellen – doch das nur als Fußnote.   

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