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Große Koalition - Rückschritt oder Fortschritt?

Sofern die SPD-Basis dem Koalitionsvertrag zustimmt, kommt es zur Neuauflage einer Großen Koalition. Die SPD wird mit dem Mindestlohn die Sozialpolitik auf den Kopf stellen, aber in der Finanz- und Europapolitik wird Merkel weiter freie Hand haben.

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Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Es sagt sich leicht, die Große Koalition bedeute Wandel. Ja, die SPD hat sich in etlichen Punkten durchgesetzt. Medial hat sie die 35 Tage der Koalitionsverhandlungen allemal gewonnen - vom Mindestlohn bis zum Doppelpass.

Aber es gibt Wichtigeres, jedenfalls für die Kanzlerin. Still hat Angela Merkel die meisten SPD-Pflänzchen gejätet auf zwei Feldern, wo sie nur ihre Saat ungestört weiter aufgehen sehen will: Finanzen und Europa.

Wenn Union und SPD tatsächlich die kommenden vier Jahre miteinander regieren sollten, sind die ersten wesentlichen Fragen: Wo gibt es Wandel? In welche Richtung gibt es große Schritte? Und wo nur kleine oder keine?

Ein Wandel ist bereits das Formale dieses Koalitionsvertrags. Mit 185 Seiten ist er der längste jemals in der deutschen Geschichte. Bei Schwarz-Gelb 2009 und ebenso bei der letzten Großen Koalition 2005 waren es 130 Seiten, 1998 reichten zu Rot-Grün 50 Seiten, wie auch 1994 zu Schwarz-Gelb. Zu Beginn der Bundesrepublik gab es übrigens überhaupt keine Koalitionsverträge, der erste wurde 1961 zwischen Union und FDP festgeschrieben – auf ganzen neun Seiten.

Der nichtssagende Titel des Koalitionsvertrags trügt


Die SPD hat diesmal enorm detaillierte Zusagen verlangt. Weil sie eben keine Liebesheirat einzugehen gedenkt, sondern bestenfalls eine Vernunft-Ehe. Da gilt der Rat kluger Notare: Verträge sind zum Vertragen da! Wobei hier rechtlich nichts einklagbar ist – bei der Streitschlichtung zählt im Zweifel nur die berühmte Richtlinienkompetenz der Kanzlerin.

Der Blick auf den Namen verrät auch schon etwas über die Größe der Schritte einer Regierung. 2005 gab sich die Große Koalition die Überschrift: „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit.“ Da schienen die Rollen gleich zu Beginn verteilt: Mut für Union, Menschlichkeit für SPD. Beider Hauptziel war: Haushaltskonsolidierung, große Schritte also. Es war ja noch vor der Finanzkrise, die am Ende 80 Milliarden kostete.

2009 gab Schwarz-Gelb sich die Überschrift: „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“ Wachstumsmotor in Europa, Bildungsrepublik Deutschland – daraus sollten große Schritte werden, und wurden es teils auch. Nur mit dem Zusammenhalt klappte es zwischen Union und FDP nicht – daran scheiterte das Bündnis.

Der Titel des Koalitionsvertrags 2013 wirkt bewusst nichtssagend: „Deutschlands Zukunft gestalten“. Wessen oder was denn sonst? Mit anderen Worten: Kleine bis keine Schritte scheinen geplant. Doch dieser Eindruck trügt.

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Die – wahrscheinlich - kommende Bundesregierung plant mit dem flächendeckenden Mindestlohn und der möglichen Rente mit 63 sozialpolitisch Riesenschritte – oder auch Rückschritte- jedenfalls im Vergleich zu den drei Bundesregierungen vor ihr. Keine Regierung war so weit von Schröders Reformagenda 2010 entfernt wie diese, die nun beginnen will. Das ist erstaunlich, weil die SPD diese Agenda vor zehn Jahren beschlossen und die Union sie dazu gedrängt hat.

In der Finanzpolitik sieht es auf den ersten Blick nicht nach Wandel aus. Denn Merkel setzte sich durch gegen die SPD mit den zwei Kern-Bedingungen der Union: keine neuen Schulden und keine Steuererhöhungen.

Die Kanzlerin hat viel abgewehrt an sozialdemokratischen Vorschlägen. 75 Milliarden Euro müssten an Steuern mehr eingenommen werden, sollten alle Wünsche aus dem SPD-Wahlprogramm umgesetzt werden. Im Bereich der Staatsfinanzen hat die SPD aber nichts durchgesetzt: keine Vermögenssteuer; keine Spitzensteuer; keine Abgeltungssteuer. Es wäre ein Wunder, bekäme sie das Finanzressort.

Es geht weniger ums Sparen, sondern ums Wachsen


Stattdessen vereinbarten Union und SPD, in den kommenden vier Jahren 23 Milliarden Euro mehr auszugeben; inklusive der Unionswünsche für Mütterrente und Infrastruktur. Und das alles, ohne einen Euro mehr an Steuern einzunehmen.

Dennoch wurde hier ein ganz großer Schritt getan – allerdings rückwärts: Um auf die Ausgabenwünsche der SPD wenigstens halbwegs einzugehen, hat die Union ihr Vorhaben aufgegeben, alte Schulden abzutragen. Mancher Volkswirt sagt erschrocken, die Union habe leichtfertig der Entschuldung abgeschworen und sich von der momentan guten Wirtschaftslage blenden lassen.
Denn es gibt zwei Varianten, wie ein Staat Schulden bekämpfen kann: dagegen ansparen oder dagegen anwachsen. Schwarz-Rot hält offenbar nichts vom Sparen, sondern will, dass die Wirtschaft weiter und weiter wächst.

Das bisherige, das schwarz-gelbe Haushaltsziel war es, zu sparen. 15 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen, die bis 2017 erwartet werden, sollten den mächtigen Schuldenkrater etwas zuschütten. Der Bund allein hat eine Billion Euro Schulden. Mit Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen liegen Deutschlands Schulden bei 2,3 Billionen Euro.

Das neue Ziel, das schwarz-rote, ist es, zu wachsen: Der Haushalt wird um weitere 23 Milliarden Euro mehr belastet in den nächsten vier Jahren – und da hinein fließen die 15 Milliarden Euro, die an Steuermehreinnahmen erwartet werden. Die restlichen acht Milliarden Euro erhofft man sich etwa durch Zinsersparnis.

 

Völlig unrealistisch gerechnet ist das nicht. Tatsächlich könnte Deutschland gegen die Schulden anwachsen. So steht es sogar im Vertrag. Die Schuldenquote liegt heute bei 80 Prozent, also die Schulden gemessen an der gesamtwirtschaftlichen Leistung des Landes. Diese Quote soll 2017 nur noch bei 70 und in zehn Jahren nur noch bei 60 Prozent liegen. Da keine Schulden getilgt werden, muss also die Wirtschaft entsprechend stärker wachsen.

Das wiederum klingt nach beeindruckend großen Schritten. Aber dieses Vorhaben birgt Gefahren, die im selben Koalitionsvertrag angelegt sind. Das wirtschaftliche Anwachsen gegen die Staatsschulden könnte gehemmt werden durch die sozialpolitischen Zugeständnisse an die SPD: Mindestlohn, Leiharbeitsregeln, der Anstieg der Lohnnebenkosten, die mögliche Rente mit 63 – all das würde eben Arbeitsplätze kosten, warnt die Wirtschaft, und somit das Wachstum schwächen.

Die andere Gefahr ist, dass die Konjunktur von außen belastet werden könnte. Die Pläne der Möchtegern-Koalitionäre sind eine klassische Schönwetterrechnung: Sie basieren auf steigenden Steuereinnahmen von etwa 20 Milliarden Euro pro Jahr wegen der guten Konjunktur. Keine Frankreich-Krise, kein Euro- oder Dollar-Crash, nicht einmal Zinserhöhungen kommen darin vor.

Hier also haben Merkel und Schäuble nur gegen einen Wandel spekuliert – erst 2017 werden wir wissen, ob die waghalsige Rechnung aufgegangen sein wird. Oder ob sie dann doch das ergeben haben wird, was die Union ja unbedingt verhindern will: weitere Schulden.

In der Europapolitik bleibt alles beim Alten


Gar keinen Wandel muss es hingegen in Merkels Europapolitik geben. Das ist erstaunlich und verrät viel über den Unwillen oder das Unvermögen der SPD, in der europäischen Krisenpolitik neue Wege zu gehen.

Weil sie genau hier Einfluss nehmen sollte, wurde die SPD noch am Wahlabend geradezu bedrängt von höchsten sozialistischen Freunden aus der EU. Nils Minkmar ist Zeuge und beschreibt die Szene im Willy-Brandt-Haus in seinem Steinbrück-Buch „Der Zirkus“ anschaulich:

„Bereits um kurz nach 18 Uhr und dann noch anderthalb Stunden später hatten sich der französische Staatspräsident Francois Hollande und sein deutschsprachiger Premierminister Jean-Marc Ayrault bei Sigmar Gabriel gemeldet. Ihr Wunsch war derselbe wie der anderer sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien in Europa, sogar von manchen konservativen Europäern: Beteiligt euch an der Bundesregierung und helft uns, die deutsche Austeritätspolitik zu beenden und die Not zu lindern.“

Gabriel tat wie ihm geheißen und verhandelte eine Große Koalition, nur: Er drückte keinen Wunsch der europäischen Genossen durch, keine Eurobonds und keine Lockerung von Spar- und Reformzwängen, auf die Merkel besteht. Hier hat die Kanzlerin sich völlig freie Hand ausgehandelt für ein „weiter wie bisher“.

Insofern gefiele ihr schon, wenn es nun mit dieser so anschmiegsamen SPD etwas würde. Im noch amtierenden Kabinett geht deshalb dieser Witz um: Was wünscht sich die Chefin zu Weihnachten? Eine Handtasche aus GroKo-Leder.

 

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