- Die Soundwerker Europas
Im Jahr 2013 wird der 200. Geburtstag von Richard Wagner gefeiert – und der von Giuseppe Verdi. Die Rollen scheinen schon verteilt: Verdi als Latte-Macchiato-Komponist mit schmetternden Melodien, Wagner als deutschtümelnder Sinnsucher mit harmonischem Tiefgang. Doch die Geschichte zeigt, dass eine politische Vereinnahmung der beiden Jahrhundert-Künstler töricht ist. Denn keiner von ihnen hat je auf einen universellen, europäischen Geist verzichtet
Im Januar 1901 rang Giuseppe Verdi in der Suite seines Mailänder Hotels mit dem Tod. Nach einer Gehirnblutung war er halbseitig gelähmt und fiel ins Koma. Journalisten hatten die Lobby zum Nachrichtenzentrum verwandelt und schickten täglich Gesundheitsbulletins über die Ticker. In Paris, München, St. Petersburg und Wien verfolgten die Menschen den Todeskampf. Am 27. Januar starb Verdi, und mehr als 200 000 Menschen nahmen am Trauerzug in Mailand teil. Es war die größte Massenversammlung in der Geschichte der Stadt. König Viktor Emanuel III rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Der 17-jährige Benito Mussolini hielt eine ergreifende Trauerrede im Stadttheater von Forlimpopoli in Verdis Heimat, der Emilia-Romagna. Danach trat er, begleitet von Verdis Musik, den „Marsch auf Rom“ an und beerdigte das 19. Jahrhundert endgültig. Das Zeitalter der Extreme begann.
18 Jahre vorher, am 13. Februar 1883, glitt Richard Wagner im Palazzo Vendramin in Venedig die Taschenuhr aus der Hand. Eine Ruptur des Herzens. Er starb mit den profanen Worten: „Meine Uhr.“ Auch seine Beerdigung war ein europäisches Großereignis. Wagners Frau Cosima lag stundenlang weinend auf dem Leichnam. Am nächsten Tag trug sie das Barett ihres Mannes und beobachtete am Canale Grande, wie Richard Wagner seine letzte Reise in einem Bronze-Sarkophag auf einer schwarzen Gondel antrat. Ein italienisches Orchester spielte Siegfrieds Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“. Der Leichnam wurde zunächst nach München gebracht, wo der längst lethargische Märchenkönig Ludwig II Abschied von seinem Freund nahm, bevor der Komponist im Garten seiner Bayreuther „Villa Wahnfried“ neben seinem Hund begraben wurde. Cosima erhielt ein Kondolenzschreiben von Bismarck und Wilhelm II. Als der Kaiser 1941 starb, befahl Wagner-Fan Adolf Hitler, dass die deutschen Volksempfänger Siegfrieds Tod spielen.
Verdi und Wagner haben im 19. Jahrhundert gelebt, und das 19. Jahrhundert lebte in ihnen. Beide Komponisten haben den Soundtrack des nationalstaatlichen Europa geschrieben. Sie waren Kinder einer neuen Weltordnung, die nach ihrem Tod auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusteuerte. Ihre Musik besingt den Urmythos der Einheit aller Menschen und aller Nationen als Brüder Europas. Auch deshalb wird das kriselnde Europa der Ton-Titanen 200 Jahre nach ihrer Geburt im Jahre 1813 nun wieder gedenken. Galakonzerte in Riga, Bayreuth, Mailand, Dresden, Paris und Wien sind anberaumt. Kanzlerin Angela Merkel wird im Sommer Frank Castorfs „Ring“ bei den Bayreuther Festspielen besuchen und Italiens Staatspräsident Mario Monti eine Verdi-Gala in Mailand. Noch einmal wird die Politik die ganz große Oper anstimmen.
Die Rollen für das Jubiläumsjahr sind verteilt: Auf der einen Seite Verdi, der Latte- Macchiato-Komponist mit schwungvollen Melodien und schmetternder Italianità, auf der anderen der seelensuchende Wagner als deutschtümelnder Gesamtkunstwerkler. Verdi versus Wagner ist ein nationaler Showdown: Choco-Crossies-Reklame („Ach wie verführerisch!“ aus „Rigoletto“) gegen den Soundtrack von Apocalypse Now („Walkürenritt“). Melodie gegen Harmonie. Der Katholik Verdi gegen den Protestanten Wagner, der seine Musik in Bayreuth letztlich als Privatreligion inszenierte. Das kriselnde Schlageritalien Berlusconis gegen Angela Merkels europäische Vorherrschaft der Vernunft. Schon zu Lebzeiten haben die Komponisten Europa in einen ästhetischen Glaubenskrieg verwandelt, der selbst Monarchien spaltete: Während Österreichs Kaiser Franz Joseph Verdi allerhand Orden um den Hals hängte, schwärmte seine Frau Sissi für Wagners Seelenwelten.
Wenn sich unsere Blicke nun wieder auf Verdi und Wagner richten, taugen nationale Stereotype allerdings nur wenig. Die Wirtschaftskrise und der Zerfall Europas in Nord und Süd, seine uferlose Ausweitung gen Osten, die aufkeimenden Neo-Nationalismen und das Ringen um Stabilität sind im 19. Jahrhundert ebenfalls angelegt. Für Merkel, Monti und alle anderen Europäer ist es hilfreich, in der Musik der Komponisten nicht das spaltende Nationale zu suchen, sondern das verbindende Europäische – denn beide haben sich zwar als Italiener beziehungsweise als Deutscher verstanden, aber als Europäer gelebt und musiziert. Beide haben das Ende Napoleons, die Vereinigung der Einzelstaaten, den Untergang der Monarchie und die Gründung einer neuen, europäischen Balance of Power miterlebt. Ihre Biografien sind die Geschichten des ständigen Wandels unseres Kontinents.
Seite 2: Rolando Villazón: Verdi als internationaler Menschenversteher
Der Tenor Rolando Villazón ist gerade als Verdi-Botschafter unterwegs und sitzt in einem Wiener Café. Für ihn ist Verdi ein internationaler Menschenversteher: „Egal, an welchem Ort in Europa ich bin, Verdi war schon da. Hier in Wien, in Paris, wo ich wohne, und natürlich in Mailand – er war sogar in St. Petersburg. Von ihm zu lernen, heißt zu begreifen, dass seine Opern etwas in uns ansprechen, das größer ist als eine Nation. Es geht bei ihm – egal, ob er Könige auf die Bühne stellt oder Prostituierte – immer um eine aufgeladene Politik der Gefühle.“
Ähnlich sieht es Christian Thielemann. Der wohl beste Wagner-Dirigent unserer Zeit sitzt in seinem Dresdener Dirigentenzimmer: „Natürlich bedient Wagner urdeutsche Sehnsüchte, die aufwühlende Harmonie statt die schmissige Melodie. Aber der eigentliche Spielort seiner Opern lässt sich nicht geografisch fassen. Wagner nannte ‚Tristan und Isolde‘ eine ‚innere Handlung‘. Sie findet in den Köpfen seiner Charaktere statt. Das mag typisch deutsch sein – aber an diesem Ort, in der Nation der Seele, sind Franzosen, Italiener und Engländer ebenso zu Hause.“
Verdi wurde in Le Roncole in Parma geboren, das von Napoleons Truppen besetzt war. Wagner im französisch belagerten Leipzig, wo – kurz nach seiner Geburt – eine halbe Million Soldaten aus über zwölf Ländern den Untergang Frankreichs eingeläutet haben. Beide wuchsen in einer Welt auf, die 1815 bei Walzer und Champagner am Grünen Tisch des Wiener Kongresses neu geordnet worden war. Österreich, Preußen, Russland und die neue französische Monarchie hatten zunächst kein Interesse an einer Einigung Italiens und Deutschlands. Italiens Norden, die Lombardei, Venedig, die Toskana, Salzburg und das Innviertel gingen an die Habsburger, in den südlichen Regionen, Neapel, Sardinien und Genua wurden die alten Dynastien wieder eingesetzt. Und auch Deutschland blieb zwischen Österreich, Preußen und zahlreichen Einzelstaaten geteilt. Eine wackelige Europäische Union, die bereits zerfiel, als Wagner und Verdi erste Erfolge feierten.
Die beiden haben dem Protestbürgertum ihrer Zeit den Marsch geblasen. Sie haben die Emotionen als historische Größe begriffen und ihren Nationen eine Stimme für Europa gegeben. Chöre wie „Va, pensiero“ aus „Nabucco“ oder die in Verträgen verstrickten Götter des „Ringes“ waren das Echo einer Bevölkerung, die von der Politik ausgeschlossen wurde.
Italien und Deutschland saßen damals am Katzentisch Europas. Erst langsam entstanden nationale Identitäten. Wer Europa heute als Währungs-, Handels- oder politische Union versteht, muss begreifen, dass seine eigentliche Ordnung zunächst ein kultureller Prozess war. Die Italiener sprachen Anfang des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Dialekte und dienten unterschiedlichen Herrschern. Höchstens die Opern Rossinis, Bellinis und Donizettis wurden als nationale Werke akzeptiert, mit denen sich ganz Italien identifizieren konnte. In Deutschland erweckten die Bücher der Gebrüder Grimm, die Opern Carl Maria von Webers und die Erinnerung an Mittelalter und Mythenwelten das nationale Bewusstsein. Erst aus dieser kulturellen Erweckung leitet sich der Anspruch auf eine politische Rolle der beiden Länder in Europa ab.
Seite 3: Verdi und Wagner haben nie auf einen universellen europäischen Geist verzichtet
Verdi und Wagner haben an die Geschichte und die Kultur ihrer Nationen appelliert. Sie haben schwarz-rot-goldene und grün-weiß-rote Töne geschrieben. Aber sie haben nie auf einen universellen, europäischen Geist verzichtet. Wagners Opern spielen nicht nur in Brabant und Nürnberg, sondern auch in England oder in der Mythenwelt. Verdi wählte Spanien, Ägypten oder Paris als Szenarien. Ihre Vorlagen fanden beide in der gesamteuropäischen Kulturgeschichte. Verdi bei Victor Hugo („Ernani“ und „Rigoletto“), Shakespeare („Macbeth“ und „Otello“) und Schiller („I masnadieri“ und „Giovanna d’Arco“); auch Wagner ließ sich von Shakespeare, Schiller und Edward Bulwer‑Lytton inspirieren.
„Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts lässt sich nicht mit dem Nationalismus des 20. Jahrhunderts vergleichen – er ist die Perversion eines guten Gedankens“, sagt Thielemann. „Dass Hitler die Ouvertüre zu ‚Rienzi‘ auf Reichsparteitagen gespielt und die Bayreuther Festspiele zum nationalsozialistischen Wohnzimmer gemacht hat – all das kann man Richard Wagner nicht anlasten.“ Und Villazón glaubt: „Dass Verdi den Menschen mit seiner Leidenschaft in den Vordergrund gestellt hat, macht ihn natürlich spannend für jeden Herrscher. Seine Musik ergreift uns, bewegt uns und stellt etwas mit uns an – aber die Geschichte hat gezeigt, dass sowohl die politische Okkupation Verdis als auch die von Wagner keinen Bestand hatten. Ihre Opern sind größer als jede Ideologie.“
Weder Verdi noch Wagner haben nationalistische Machwerke oder tagespolitische Polit-Opern komponiert. Verdi hat mit „La battaglia di Legnano“ zwar den Sieg Italiens über Barbarossa gefeiert und damit ein Statement für den Risorgimento, die italienische Einheitsbewegung, abgegeben; Wagner hat in „Rienzi“ die Stimmung des Vormärzes aufgegriffen und in den „Meistersingern“ Deutschland über das welsche Frankreich erhoben. Aber beiden war – trotz unterschiedlicher musikalischer Mittel – eine andere Vision wichtiger: die Ausweitung des kulturellen Ausdrucks, die Verbindung von Schauspiel und Musik, von Geschichte und Gegenwart, von Kulisse, Malerei und Klang. Ihr Theater sollte bewegen. Das Publikum sollte zum Teil der Aufführung werden. Es ist kein Zufall, dass beide für den sozialistischen Theoretiker Giuseppe Mazzini schwärmten. Er verfasste – natürlich auf Französisch – eine „Philosophie der Musik“ und forderte die „Vereinigung der Jugend Europas“. Seine Grundidee war nicht nur der Nationalstaat, sondern eine uralte, europäische Philosophie des antiken Griechenlands: Kunst und Musik sollten Teil der Politik werden.
Verdi nannte diese neue Form der Oper „Musikdrama“, Wagner bevorzugte das Wort „Gesamtkunstwerk“. Beide meinten die kulturelle, politische Verantwortung der Kunst – und forderten damit auch die ästhetische Verantwortung der Politik. Verdi und Wagner haben keine Musik-Politik im Sinne von Merkel, Monti oder Hollande gemacht. Sie waren eher Aktivisten von Attac, Occupy und Amnesty International.
Schließlich waren selbst nationale Revolutionen im 19. Jahrhundert auch internationale Revolutionen. Der russische Freiheitskämpfer Michail Alexandrowitsch Bakunin, ein vollbärtiger Grantler, war einer dieser Terrorismus-Touristen. Er hatte in Russland gezündelt und tingelte von Prag über Polen nach Italien. In Dresden traf er auf Wagner und machte ihn zum Mitorganisator des schwarz-rot-goldenen Aufstands. Die europäischen Nationalrevolutionen waren Proteste gegen die Politik des Grünen Tisches vom Wiener Kongress. Italiener und Deutsche forderten neue Grenzen. Und wenn Europapolitiker heute von Griechenland-Hilfe, Spanien oder Italien reden, lohnt es sich, bei Wagner und Verdi nachzuhören: Sie wussten, dass sich Europa keine Völker „zweiter Klasse“ leisten konnte.
Seite 4: Das Politische war für Wagner häufig privat begründet
„Man darf nicht vergessen, dass das Politische für Wagner oft privat begründet war“, sagt Christian Thielemann, „er hat Allianzen mit den Revolutionären des Vormärzes oder mit Königen wie Ludwig II geschmiedet, um sein eigentliches, persönliches Ziel voranzutreiben: das Gesamtkunstwerk. Und dieses Verständnis von Politik hat er auch in seinen Opern behauptet. Wotan scheitert nicht an einem politischen System. Er scheitert als Gott an seiner Zerrissenheit zwischen menschlichen Gefühlen und Macht.“ Ähnlich sieht es Rolando Villazón: „Verdis Kunst besteht darin, Machtpolitik auf private Emotionen zu reduzieren: Radames, Ernani und Otello sind Politiker, die als Menschen vor Konflikten stehen. Politik war für Verdi nicht, was wir heute als Politik begreifen. Es ging ihm nicht um Parteien und Regierungskoalitionen. Der Anfang aller Politik war für ihn der Umgang eines Menschen mit einem anderen.“ Kurz gesagt: Ein König, der seine Frau schlägt, kann kein Land regieren.
Und so ist es kein Zufall, dass sich Wagners und Verdis Biografien dort trennen, wo sie privat werden. Wo zwei verschiedene Lebensumstände auf die gleiche Weltpolitik treffen. Wo jener „Weltgeist“ entstand, den die beiden bei Hegel kennengelernt haben und in ihre Opern holten. Verdi war ein erfolgreicher Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, seine Opern waren längst Bestseller, und er hatte allerhand zu verlieren. Also setzte er in Zeiten der Revolution seinen Zylinder auf und schloss realpolitische Kompromisse. Zwar besorgte auch er tödliche Gewehre für den Risorgimento, pflegte aber gleichzeitig weiter Kontakte zu Königshäusern in ganz Europa. Richard Wagner steckte derweil in einer privaten Schuldenfalle. Seine Verschwendungssucht überstieg das Kapellmeister-Gehalt in Dresden. Und während Verdi gemütlich durch die Pariser Wirren schlenderte, Zeitung las und Kaffee trank, hoffte Wagner, dass die Revolution seine privaten Probleme lösen würde. Er forderte unter Pseudonym die Abschaffung des Geldes, setzte sein Barett auf, stieg auf Gottfried Sempers Revolutions- Barrikaden, besorgte Handgranaten mit fataler Wirkung und floh schließlich gemeinsam mit Bakunin auf einer Kutsche aus der Stadt. Während der Profi-Revolutionär gefasst wurde, rettete sich Wagner ins Zürcher Exil.
Nach den Aufständen erhoben beide die Provinz zum Zentrum ihrer Welt und verlegten die Revolution ins Private. Verdi hatte sich ein Landgut in Sant’ Agata gekauft. Wagner bezog die „Villa Rienzi“ in Zürich, die er sich von Franz Liszt und seinem Gönner Otto Wesendonck finanzieren ließ. Während der Italiener als komponierender Großbauer lebte, schrieb der Deutsche in parfümierter Seidenwäsche zunächst einmal kunstästhetische Traktate und flirtete mit seiner Nachbarin Mathilde Wesendonck. Verdi holte derweil seine Geliebte, die Sängerin Giuseppina Strepponi, aufs Land. Wagners Affäre sorgte für die Trennung von Ehefrau Minna, und Verdis Liebschaft dafür, dass die Kirchenbank neben Giuseppina an Sonntagen leer blieb.
Letztlich inspirierte Wagner und Verdi nicht die Politik, sondern das Private zu den größten musikalischen Revolutionen: Verdi schrieb – mit Blick auf Giuseppina – „La Traviata“, eine Oper über die wahre Liebe einer Lebedame. Wagner ließ sich von seinem Zürcher Techtelmechtel mit Mathilde zu „Tristan und Isolde“ inspirieren. Ein Epos über die Unmöglichkeit der irdischen Liebe. Für Christian Thielemann liegt hier die eigentliche Revolution. „Ich halte nichts davon zu wissen, ob Wagner Verdauungsstörungen hatte, um seinen ‚Tristan‘ zu erklären. Mir geht es um die Musik. Und wenn wir über Revolutionen sprechen, müssen wir über den ‚Tristan‘-Akkord reden! Hier, ausgerechnet in seiner intimsten Oper, hat Wagner den größten Affront hingelegt: Er hat das alte System von Dur und Moll aufgelöst und die Musiktheorie in eine neue Dimension katapultiert. Er hat den Klangkosmos so weit geöffnet, dass wir noch heute dastehen und staunen.“
Von Verdi und Wagner zu lernen, bedeutet zu erkennen, dass das Private das Politische bestimmt. Und das Geld ein zentraler Teil des Privaten ist. Mehr noch: Wenn man Verdis und Wagners private Finanzsituation kennt, versteht man auch die Mechanismen der europäischen Währungsunion. Sowohl der sparsame Verdi als auch der verschwenderische Wagner wussten, dass sie sich gar keinen Nationalismus leisten konnten, wenn sie mit ihrer Kunst Geld verdienen wollten. Sie waren gezwungen, als europäische Weltbürger zu agieren. Ägypten zahlte Verdi eine astronomische Summe für „Aida“, und Wagner bot seinen „Tristan“ sogar in Brasilien an. Die Oper im 19. Jahrhundert funktionierte wie die Fußball-Champions-League; Ablösesummen und Marktwert kennen keine Grenzen. Verdi und Wagner kämpften um die gleichen Orte: Wien, München, St. Petersburg und vor allen Dingen: Paris!
Seite 5: Das Bürgertum bestimmte die Musik
Heute ist Europa ohne Berlin und Paris nicht zu denken, damals waren Wien und Paris die strategischen Zentren. Lange regierte der Italiener Gioachino Rossini an der Seine, dann der Deutsche Giacomo Meyerbeer. Die Könige hatten sich aus ihrer kulturellen Verantwortung zurückgezogen, und das Bürgertum bestimmte die Musik. Meyerbeer, der konvertierte Jude aus Tasdorf bei Berlin, schrieb gemeinsam mit seinem Librettisten Eugène Scribe populäre Ausstattungsopern. Paris erinnerte damals an das Berlin nach der Wende: Eine neue Stadt entstand, der Architekt Georges-Eugène Haussmann errichtete Markthallen, Bahnhöfe und – natürlich – Theater.
Den ersten Angriff auf Meyerbeers Paris wagte Wagner. Aber er scheiterte und zog mit sarkastischen Grüßen von Heinrich Heine zurück in das „Kartoffelland“. Verdi plante seine Eroberung besser, nahm Meyerbeers Star-Librettisten unter Vertrag und wurde zum unangefochtenen Herrscher von Paris. Dabei kämpfte auch er mit heute fragwürdigen Mitteln. Von Wagner ist bekannt, dass er jüdische Zeitungen und Komponisten verantwortlich für sein Scheitern machte. Verdi selbst äußerte sich nie antisemitisch, das überließ er lieber seinem Verleger Léon Escudier. Der lästerte über die „Scharlatane“, die „mit einem Lächeln verzerrt vor Eifersucht“ die Boulevards „verseuchten“. Auch diese dunkle Geschichte des internationalen Antisemitismus’ gehört (Verdis Preisung Jehovas am Ende von „Nabucco“ zum Trotze) zur Gründung Europas im 19. Jahrhundert.
Wagners zw eiter Sturm auf Paris scheiterte ebenfalls. Sein „Tannhäuser“ floppte und wurde von Mitgliedern des reaktionären Jockey-Clubs sabotiert. „Allein daran sieht man, welche gesellschaftliche Wirkung die Musik haben kann“, sagt Christian Thielemann. „Plötzlich stritt Europa um Fortschritt oder Tradition. Die Musik hat eine Diskussion angezettelt, in der sich Paris, Mailand und Wien auch ästhetisch positionieren mussten.“ In den Salons wurde der Skandal der „Zukunftsmusik“ debattiert, und Wagner, der Querulant, war plötzlich interessant. Auch, weil er zum Gegenentwurf Verdis stilisiert wurde. Dabei ging es nicht um Deutschland oder Italien, sondern um die Musik als Systemfrage: Wie wollte Europa leben? Mit Sinn für Innovation oder mit Bewahrung des Alten?
Jahrelang hatte Richard Wagner seinem Konkurrenten dessen fast spielerischen Erfolg geneidet, sich mit öffentlicher Kritik aber zurückgenommen. Und auch Verdi konnte sich Großmut leisten. Wagner schien keine Gefahr für ihn zu sein – eine intensive Beschäftigung mit ihm und seiner Musik schien nicht nötig. Wagners musiktheoretische Schriften lagen nach Verdis Tod noch immer mit ungeöffneten Seiten im Regal. Erst als die öffentliche Meinung kippte, Wagner als „fortschrittlicher Musiker“ in Paris gefeiert wurde und Verdi sogar in Italien als rückständig galt, nahm er sich die Partitur des „Lohengrin“ vor und kommentierte einzelne Passagen. Nach Wagners Tod hat Verdi mit „Otello“ und „Falstaff“ noch einmal eine Kraftanstrengung unternommen, um das Gesamtkunstwerk in seinem Sinne zu revolutionieren.
Wagner und Verdi waren Titanen ihrer Zeit. Zu Mythen aber wurden sie erst nach ihrem Tod. Doch während Wagners Annektion durch Hitler heute allgegenwärtig ist, macht die Forschung einen Bogen um Verdis Vereinnahmung durch Mussolini. Schon als Kind schwärmte der „Duce“ für den Komponisten, lernte Geige und betrieb auch nach der Trauerrede im Stadttheater von Forlimpopoli – nun vom Kommunisten zum Faschisten gewandelt – die Heroisierung des Komponisten: Zwischen 1922 und 1943 erschienen über 20 faschistische Verdi-Biografien in Italien. Unter ihnen jene von Alessandro Luzio, der den Komponisten zum Vordenker des nationalistischen Italiens erhob. Vor jeder Verdi- Oper wurde die Faschisten-Hymne „Giovinezza“ gesungen. Der Dirigent Arturo Toscanini war einer der wenigen, die das irritierte. Er brach mit Mussolini und dessen Italien und weigerte sich auch, in Bayreuth zu dirigieren, wo Winifred Wagner Hitler längst als „Onkel Wolf“ empfing. Während die Diktatoren Verdi und Wagner vereinnahmten, hielten Dirigenten wie Toscanini ihre eigentlichen Werte aufrecht, als sie deren Opern nun in New York dirigierten. Der Umgang mit den Komponisten im 20. Jahrhundert wurde zur Frage von Anstand und Moral.
Seite 6: „Musik ist eine Kunst mit zwei Schöpfungen”
„Wie wir Verdi heute verstehen, sagt mehr über unsere Zeit aus als über das 19. Jahrhundert“, sagt Rolando Villazón. „Das Besondere an der Oper ist, dass wir jeden Abend die gleichen Noten spielen – aber immer anders. Eine Partitur stellt uns jedes Mal vor die Aufgabe, eine Position zu beziehen. Musik ist eine Kunst mit zwei Schöpfungen. Eine hat in der Vergangenheit stattgefunden, eine zweite muss in der Gegenwart stattfinden. Und so sind die Partituren von Verdi ein historischer Fixpunkt. Die unterschiedlichen Interpretationen sind eine Möglichkeit, unsere Werte von Freiheit und Menschlichkeit zu überprüfen. Denn im Zentrum seiner Opern steht der Mensch mit seinen Emotionen – und der ist überzeitlich.“
Auch Christian Thielemann hält die Musik lieber aus der Politik heraus: „Es ist doch Fakt, dass Wagners CDur immer gleich klingt – egal, ob Hitler in der Loge sitzt oder wir. Wir haben es mit einem kulturellen Erbe zu tun, das wir nur bewahren, wenn wir es spielen. Es ist unsere Verantwortung, Wagners Noten hörbar zu machen. Wie das Publikum auf die Musik reagiert, welche Aspekte es beschäftigt, und welche Konsequenzen es daraus zieht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das hat mehr mit unserer Zeit als mit der Musik zu tun. Unsere Zeit wird vergehen, Wagner aber wird bleiben.“
Heute sind die Werke Wagners und Verdis Mythenschwämme. Sie haben den Ersten Weltkrieg, den Faschismus, den Kalten Krieg und das moderne Europa aufgesogen, wurden aus ihrer historischen Bedeutung herausgerissen und immer wieder in die Gegenwart geholt, annektiert, umgedeutet und zurückerobert. Die Phalanx der Staatschefs, unter denen die Komponisten dienen mussten, mutet absurd an: Könige stehen neben Diktatoren und Demokraten. Ludwig II erfüllte Wagners Opernträume, Bismarck erhob ihn zum Nationalkünstler, Hitler annektierte ihn als arischen Meister, und heute sucht Angela Merkel seine demokratischen Wurzeln und beschreitet den roten Teppich auf dem Grünen Hügel als Kultur-Catwalk der Bundesrepublik.
So wie die Opern der beiden klingen, hört sich unsere Zeit an: Carusos Schmetterei auf dem Vorkriegsvulkan, Lauritz Melchiors Dreißiger-Jahre-Heldentum, Maria Callas’ Nachkriegs-Expressionismus, René Kollos Wirtschaftswunder- Glanz und Anna Netrebkos perfekte, moderne Pop-Oberfläche sind die Stimmen von Epochen. Bis heute zeigen Regisseure Verdi und Wagner gern als Revolutionäre bürgerlicher Konventionen. Türenschlagen und Gesellschaftsdebatten gehören zu jeder Inszenierung: Hans Neuenfels hat Aida 1981 in Frankfurt als Putzfrau gezeigt, Peter Konwitschny das Autodafé aus „Don Carlos“ in Hamburg als Pausen-Divertissement mit Champagner inszeniert, und Calixto Bieito den „Trovatore“ zum Baracken- Flüchtlingsdrama stilisiert. Patrice Chéreau hat Wagners „Ring“-Götter vermenschlicht, Christoph Schlingensief reiste mit „Führerwein“ nach Bayreuth und suchte in Afrika nach Mythenwurzeln. Stefan Herheim hat seinen „Parsifal“ in der Villa Wahnfried unter dem Hakenkreuz angesiedelt, und Frank Castorf wird Wagner nun als Chefankläger der Ölmultis in Szene setzen.
Oft sind von den Revolutionären des 19. Jahrhunderts heute nur noch Bühnenblut, Sängerschweiß und Regiesperma übrig. Auch, weil die Revolution im heutigen bürgerlichen Europa domestiziert ist. Weil der Skandal in die Kultur integriert wurde. Und: Weil Europa nach zwei Kriegen eine Balance gefunden, seine wirtschaftliche Abhängigkeit erkannt und seine gemeinsame Tradition entdeckt hat. Angela Merkel, Mario Monti und wir werden auch heute noch von Verdi und Wagner herausgefordert. Unser Blick auf sie bestimmt unseren Blick auf unsere Nationen und ihre Rolle in Europa. Ihre Opern zeigen uns, dass Politik mit dem Individuum beginnt, dass sie die souveräne Kulturnation braucht und eine Stabilität der einzelnen Staaten. Denn am Ende ist Nation keine Frage von nationaler Überheblichkeit, sondern von kultivierter europäischer Identifikation jedes Einzelnen.
Axel Brüggemann ist Journalist und Buchautor. Ende Januar erscheint von ihm „Genie und Wahn – Die Lebensgeschichte des Richard Wagner”
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