- ...an dem Merkel Schwarz-Gelb aufkündigt
Rund um den Jahreswechsel blickt Cicero Online nach vorne und entwirft Szenarien für das Jahr 2013, die auf den ersten Blick unrealistisch wirken und doch einen Kern von Wahrheit in sich bergen. Heute: Merkel schmeißt die FDP aus dem Kabinett
So also findet eine zerrüttete Ehe ihr Ende. Unspektakulär, mit einem handschriftlichen Brief der Kanzlerin an den Bundespräsidenten, drei knappe Zeilen, in denen die Bitte formuliert wird, die Bundesminister Christian Lindner, Guido Westerwelle, Dirk Niebel und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu entlassen. Begründung? Keine. Nach Artikel 64 des Grundgesetzes ist dies das uneingeschränkte Recht der Kanzlerin. Dass damit auch die Koalition zwischen Union und FDP zerbricht, folgt unausweichlich.
Hop oder Top, die Kanzlerin steht am Scheideweg. Mit der Aufkündigung der schwarz-gelben Koalition und der Entlassung der drei FDP-Minister riskiert Angela Merkel viel, um nicht zu sagen alles. Die verbleibenden Monate bis zur Bundestagswahl im September will sie nun mit einer Minderheitsregierung durchstehen. [gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]
Sie habe keine andere Wahl gehabt, erklärt Merkel in einer knappen Stellungnahme am späten Abend im Kanzleramt. Die FDP sei zu einem Risiko für die politische und wirtschaftliche Stabilität in Deutschland und Europa sowie zu einer Gefahr für den sozialen Frieden im Lande geworden. Viel Frust entlädt sich in ihren Worten, dann aber lässt der Wahlkampf grüßen: „So kann man nicht regieren“, sagt die Kanzlerin noch, schüttelt demonstrativ den Kopf und geht. Fragen lässt sie –entgegen ihrer Gewohnheit – keine zu.
Dabei sah es am Morgen davor in Berlin noch überhaupt nicht nach einem politischen Drama, nach einem Tag für die Geschichtsbücher aus. Nach der schwarz-gelben Kakofonie der letzten Tage standen die Signale vielmehr wieder auf Kompromiss. Im ZDF-Morgenmagazin signalisierte Fraktionschef Volker Kauder die Bereitschaft der CDU, dem Verkauf der Telekom-Aktien, die sich noch im Besitz des Bundes befinden, zuzustimmen. Auch über eine Privatisierung der Kreditanstalt für Wiederaufbau zeigte sich Kauder gesprächsbereit. Im Gegenzug sollte die FDP bereit sein, sich nicht länger gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 6,50 Euro noch in dieser Legislaturperiode zu sperren.
Einen Deal zum gegenseitigen Nutzen hatten die Unterhändler der Parteien eingefädelt. Er sollte vor Beginn des Bundestagswahlkampfes einerseits das soziale Profil der Christdemokraten stärken und zugleich ein Signal an die wirtschaftsliberale Anhängerschaft der FDP senden. Erfolgserlebnisse brauchen beide – mittlerweile ehemaligen – Koalitionspartner nach der bitteren Wahlniederlage bei der Landtagswahl in Niedersachsen ziemlich dringend.
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Am Abend sollte der Kuhhandel von den Koalitionsspitzen im Kanzleramt besiegelt werden. Doch dann gab es neue dramatische Hiobsbotschaften aus Brüssel. Neben Spanien braucht nun auch Italien neue finanzielle Hilfen. Und weil die Mittel des ESM aufgebraucht sind, muss Deutschland direkt Geld nach Rom und nach Madrid überweisen. Wie immer drängt die Zeit. Bis Ende des Monats muss der Bundestag die Mittel in Höhe von rund 50 Milliarden Euro freigeben, nicht als Bürgschaft, sondern als direkte Hilfszahlung. Auch Eurobonds sollen von der EZB kurzfristig auf den Markt gebracht werden, damit sich die europäischen Krisenländer billiger refinanzieren können. Doch damit ist für viele Liberale eine rote Linie überschritten.[gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]
Noch bei seiner Wahl zum neuen FDP-Vorsitzenden hatte Brüderle vor zehn Tagen beides kategorisch ausgeschlossen. „Keine Eurobonds und keine Bankenunion“, so hatte es dieser seinen jubelnden Anhängern versprochen, Europa dürfe nicht zur Transferunion werden und es könne nicht sein, dass deutsche Sparer für spanische Spekulanten bluten. Das war der Preis, den Brüderle nach dem Putsch gegen Philipp Rösler zahlen musste, um die Euro-Kritiker in den eigenen Reihen auf seine Seite zu ziehen. Kein liberaler Parteistratege hatte allerdings damit gerechnet, so schnell von diesem Schwur eingeholt zu werden.
Es folgen hektisch Telefonate. Merkel spricht mit Frankreichs Präsidenten François Hollande und mit dem wiedergewählten italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Sie berät sich mit CSU-Chef Horst Seehofer und Finanzminister Wolfgang Schäuble. Einen Ausweg aus ihrer vertrakten Lage findet Merkel nicht. Zuletzt senken auch Christin Lagarde und Herman von Rompuy ihre Daumen. Die IWF-Chefin hätte gerne noch geholfen und Merkel einen erneuten zeitlichen Aufschub verschafft. Doch ihr hatten die Schwellenländer untersagt, noch einmal Milliardensummen zur Rettung des Euros bereitzustellen. Auch der Präsident des Europäischen Rates kann nicht mehr helfen. Ihm sind durch die Beschlüsse des EU-Sondergipfels vom vergangenen Wochenende die Hände gebunden.
Die Vorzeichen für die abendliche Koalitionsrunde, die als entspanntes Tete à Tete geplant war, sind also plötzlich nicht mehr die Besten. Und statt über den Euro und die Hilfen für Italien sowie Spanien zu reden, präsentiert der FDP-Vorsitzende Rainer Brüderle eine neue liberale Giftliste: Halbierung der Einspeisevergütung für Solarstrom, Verkauf aller nicht selbst genutzten bundeseigenen Immobilien, Streichung des Elterngeldes. Noch vor der Bundestagswahl müsse die schwarz-gelbe Bundesregierung ein „Signal des Reformwillens“ senden, tönt Brüderle.
Merkel bittet um eine Auszeit, es gibt hektische Beratungen auf beiden Seiten. Kaum sitzen die Streithähne wieder zusammen, formuliert Rainer Brüderle überraschend ein zusätzliches Ultimatum: Entweder CDU und CSU distanzieren sich von den Eurobonds und verzichten auf die Einführung des Mindestlohnes oder die FDP werde die Koalition mit CDU und CSU aufkündigen.
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Die Antwort von Merkel fällt schnell und sie fällt anders aus als von der FDP erwartet. Vor anderthalb Jahren hatte die FDP Angela Merkel schon einmal auf ähnliche Weise erpresst und so Joachim Gauck als Bundespräsident durchgesetzt. Damals hatte sich Merkel geschworen, sich dies von dem liberalen Koalitionspartner nicht noch einmal gefallen zu lassen. Ohne noch einmal das Wort zu ergreifen, verlässt sie Kanzlerin die streitende Koalitionsrunde. Merkel schweigt und handelt. Sie eilt in ihr Arbeitszimmer und greift am Schreibtisch zu Briefpapier und Tintenfeder. Die FDP-Minister erfahren von ihrer Entlassung durch eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur dpa. Aber vielleicht ist es der FDP gar nicht so unrecht, dass sie sich nun frei von Koalitionszwängen als Anwältin des Liberalismus, Hüterin der Marktwirtschaft und als europäische Mahnerin profilieren kann. [gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]
In sechs Monaten wird abgerechnet. SPD und Grüne werden den Euro-Hilfen im Bundestag zustimmen. Die Oppositionsparteien bleiben ihrer Linie der letzten drei Jahre treu und verzichten in Sachen Europa auf parteitaktische Spielchen. Der Rest ist Wahlkampf, der nun etwas länger dauert als geplant und in dem sich nun Union und Rot-Grün im Kampf um die Macht gegenüberstehen, während die FDP ums politische Überleben kämpft.
Am 22. September wird sich zeigen, ob die Machtpolitikerin Angela Merkel an diesem Tag im Frühjahr 2013 in ihrem persönlichen politischen Geschichtsbuch ein neues Kapitel aufgeschlagen hat. Oder ob in den kommenden Monaten nur ein Epilog für ihre Kanzlerschaft geschrieben wird. Die eigene Partei und auch die CSU weiß Merkel hinter sich, Christdemokraten und Christsoziale wissen, wie sehr sie von der Beliebtheit der Kanzlerin abhängig sind. Viele Bundestagsabgeordnete fühlen sich regelrecht befreit, weil die schwarz-gelbe Qual endlich vorbei ist. Die Aussichten, dass Merkel auch die kommenden vier Jahre Kanzlerin bleibt, scheinen besser denn je.
Große Koalition und Schwarz-Grün heißen nach der Wahl allerdings nicht die einzigen machtpolitischen Alternativen. Mache CDU-Strategen schielen stattdessen insgeheim auf die absolute Mehrheit. Wenn nicht nur die FDP bei der Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde scheitert, sondern auch Linke und Piraten den Einzug ins Parlament verpassen, könnte der Coup gelingen. 43 Prozent der Wählerstimmen könnten in diesem Fall für eine Alleinregierung von CDU und CSU reichen. Bei 41 Prozent lag die Union zuletzt in Meinungsumfragen. Und das entschlossene Handeln gegen die desolate FDP könnte die Kanzlerin beim Wähler noch populärer machen.
Skeptiker hingegen erinnern nun an das Jahr 1976, als die CDU mit 48,6 Prozent eines der besten Ergebnisse ihrer Geschichte holte und trotzdem auf den Oppositionsbänken platz nehmen musste. Im Drei-Parteien-Parlament waren damals zwei andere Parteien zusammen stärker. Merkel weiß, dass der Grat zwischen Sieg und Niederlage schmal ist. Sie hat sich für „all in“ entschieden.
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