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(picture alliance) "Julia Timoschenko hatte ihre Position als Gesicht der Opposition schon verloren"

Schauprozess - „Timoschenko könnte taktisch gehandelt haben“

Julia Timoschenko ist in einem international beachteten Prozess zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Warum das Verfahren auch sein Gutes für die ehemalige ukrainische Regierungschefin haben kann, erklärt Ursula Koch-Laugwitz aus dem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew.

Frau Koch-Laugwitz, die ehemalige ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko wurde in einem spektakulären Schauprozess, der ihr auch gesundheitlich zusetzte, zu sieben Jahren Haft verurteilt. Jetzt droht ein zweites Verfahren, weil sie als Gasmanagerin Gelder veruntreut haben soll. Will sich Präsident Viktor Janukowitsch damit an seiner ärgsten Konkurrentin rächen?
Wenn es so wäre, wäre das doch sehr dumm. Bei den Wahlen 2010 hatte das Volk sein Urteil über das Team des Ex-Präsidenten Viktor Juschtschenko und seiner Ministerpräsidentin Timoschenko schon gesprochen – und sie abgewählt. Die Leute hatten einfach die Nase voll. Der jetzige Präsident Janukowitsch hat also davon profitiert, dass die Amtsführung dieser beiden Ikonen der Orangen Revolution so chaotisch war. Timoschenko hatte ihre Position als Gesicht der Opposition im Prinzip schon verloren. Wer sie aus politischem Kalkül als Wettbewerberin ausschalten will, hat sich sehr verschätzt. Sie war schon auf dem Weg in die Geschichtsbücher. Der Prozess könnte also ihr politisches Schicksal aber nochmal wenden.

Was war denn so schlecht an ihrer Regierungsführung?
Ich bin im Frühjahr 2009 in die Ukraine gekommen – das Land ist eigentlich kaum noch regiert worden. Die Ukraine war neben Island das europäische Land, das von den Turbulenzen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa am härtesten getroffen wurde. Das Bruttosozialprodukt brach um etwa 15 Prozent ein. Anstatt sich jeden Tag mit kleinlichen Vorwürfen zu beharken, wäre es notwendig gewesen –  so wie das damals die große Koalition in Deutschland gemacht hat – von dem kleinen politischen Hickhack abzusehen und die strategische Zukunft des Landes zu bedenken. Ich denke, man muss weltweit  von verantwortlichen Politikern verlangen, dass sie persönliche Animositäten nicht zum Maßstab ihres Tageshandelns machen.

Dennoch: Die EU und die USA halten den ganzen Prozess für politisch motiviert.
Aspekte davon gibt es sicherlich. Die Grundlage des jetzigen Urteils ist ein Gesetz aus Sowjetzeiten. Demnach kann die Staatsanwaltschaft aufgrund von schlechter Regierungsführung auf eigene Initiative hin tätig werden, ohne Anzeige. Natürlich hätte dieses alte Gesetz schon eine ganze Reihe von Verfahren auslösen können.

Wurde es denn schon einmal angewandt?
Nein.

Also wurde die Staatsanwaltschaft mindestens mit Billigung der Regierung aktiv?
Ich glaube nicht, dass die Staatsanwaltschaft so unabhängig ist, dass sie in so einer wichtigen Frage ohne eine informelle Unterredung oder Abstimmung vorgehen wird.

Janukowitsch hatte aber eine mögliche Reform des Gesetzes angekündigt.
Das halte ich für sehr bedenklich. Denn wenn man jetzt nicht nur Missbrauch der Regierungsmacht, sondern im gleichen Atemzug auch noch Aneignung und  Vermögensveruntreuung straffrei stellt, würde das heißen, Leute, die nach heutiger Rechtslage wirtschaftliche Straftaten begangen und sich bereichert haben, zu entkriminalisieren.  Was wäre das denn für eine Botschaft an die Bewohner des Landes?  Man sollte klären, wer von dieser Veränderung profitiert und danach erst entscheiden. Und was denkt der Normalbürger, wenn Timoschenko dadurch zwar eine Haftstrafe erspart würde und viele andere auch straffrei blieben? Ich habe mal gelernt, dass vor dem Gesetz alle gleich sind.

Wollen Sie damit sagen, es wäre nur rechtens, wenn Timoschenko jetzt erst einmal sitzt?
Das Urteil ist längst nicht rechtskräftig. Ihre Anwälte haben sowohl in der Ukraine als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt.

Und solange das dauert, sitzt sie in Untersuchungshaft.
Ja, das steht zu befürchten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich die Ukraine mit dem Urteil nicht selber schadet.

Das Europäische Parlament sollte eigentlich bis Jahresende ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnen. Mit dem umstrittenen Urteil hat das Land eine mögliche EU-Mitgliedschaft aufs Spiel gesetzt. Schadet es sich damit nicht selbst?
Das sehe ich ein bisschen anders. Erstens schadet der Rückschlag nicht nur der Ukraine, sondern auch europäischen Interessen. Zweitens: Hatte die Ukraine vor Timoschenkos Prozess für die nächsten 15 Jahre überhaupt eine Mitgliedsperspektive? Ich denke, nein. Die EU-27 steht trotz des Lissabon-Vertrags vor großen Problemen, besonders jetzt in der Finanzkrise. Zudem hat eine EU-Perspektive für die Ukraine bislang noch nie eine europäische Mehrheit gehabt. Denn eine weitere Osterweiterung – die ja dann auch andere Länder wie etwa Moldawien umfassen würde – würde die politischen und finanziellen Probleme der EU noch vergrößern. Deswegen ist die Ukraine, ob mit oder ohne Assoziierungsabkommen, genauso weit oder nah an einer Mitgliedschaft in der EU, wie sie das vor sechs Monaten auch war.

Zudem treibt die EU mit ihrer Kritik die Ukraine stärker in die Arme Moskaus…
Genau. Bevor man Türen zuknallt, sollte man sorgfältig seine eigenen Interessen langfristig bedacht haben. Die Europäer brauchen an ihren Ostgrenzen eine Brücke – für die Weißrussland wohl absehbar ausfällt. Von allen sowjetischen Nachfolgestaaten ist die Ukraine der einzige, der ein paarmal einen Machtwechsel erlebt und mehr oder minder friedlich gestaltet hat. Im Vergleich mit Staaten wie Armenien, Aserbaidschan und Georgien gibt es, trotz der aktuellen Entwicklungen, in der Ukraine latent noch Hoffnung.

Also ist die Aufregung um Julia Timoschenko eigentlich übertrieben?
Timoschenko ist als öffentliche Figur eine der perfektesten Medieninszenierungen, die ich je in meinem Berufsleben erlebt habe. Sie ist begabt, sie ist gutaussehend, eine Frau, die sich medial hervorragend darstellen kann. Aber genauso gehört sie zu einer alten, postsowjetischen Elite von Oligarchen, die ihr nicht unerhebliches Privatvermögen in den wilden 90ern mit Energiegeschäften gemacht haben. Sie ist und bleibt das Gesicht der orangenen Revolution, aber sicher ist sie keine Musterdemokratin nach den strengen europäischen Maßstäben.
Laut veröffentlichter Steuererklärungen besitzt sie kaum mehr als ein gebrauchtes Auto und eine Zwei-Raum-Wohnung. Für wie dumm halten Politiker eigentlich ihre eigenen Mitbürger? Ich mache mir heute in der Ukraine mehr Sorgen um gute Regierungsführung, um die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit.

Sehen Sie Signale für neue Proteste, für eine neue Orangene Revolution?
Das Gericht ist nur einen Steinwurf von unserem Büro entfernt, so dass man den ganzen Tag notgedrungen mit einem Ohr beteiligt war. Im Moment gibt es kaum jemanden, der ohne Bezahlung für oder gegen etwas demonstrieren gehen würde. Der Tarif liegt meistens bei etwa 12 Hriwna die Stunde. Das macht mir Sorge.

Was ist aus den Menschen geworden, die 2004 freiwillig auf die Straße gegangen sind?
Viele dieser Oppositionellen wurden in den Jahren der Ära Juschtschenko/Timoschenko mehr oder minder ernüchtert. Deswegen halte ich es nicht für realistisch, dass sich die Massen noch einmal für Timoschenko begeistern.
Ich kann mich noch an den ersten Tag erinnern, als Timoschenko in Untersuchungshaft kam. Da unterhielten sich zwei Männer auf der Straße darüber: ‚Sie hat es gewollt, sie hat es bekommen.‘ Damals dachte ich: Wie kann man sich wünschen, in einem solchen Land in U-Haft zu kommen? Ich will nicht ausschließen, dass es auch Bestandteil eines taktischen Kalküls war.
Timoschenko hatte immer sehr stark für dieses Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU geworben. Auch noch, als der Prozess schon im Gange war. Als klar wurde, dass die Staatsanwaltschaft unbeeindruckt blieb und eine Verurteilung wahrscheinlicher wurde, rief sie aus der Untersuchungshaft dazu auf - auch in Europa, in Brüssel - diese Verhandlungen auszusetzen, solange sie nicht auf freiem Fuß ist.

Sie sagen, Timoschenko hat den ganzen Prozess provoziert?
Nein, das nicht. Aber sie hat im Gericht die politische Auseinandersetzung mit Janukowitsch, dessen knappen Wahlerfolg sie nie anerkannt hat, gesucht. Sie hat aber wohl nicht damit gerechnet, dass die andere Seite es wirklich stur durchzieht.

Wird sich die Ukraine jetzt mehr in Richtung Europa oder mehr in Richtung Russland orientieren?
Ich glaube, das ist längst entschieden. Die Menschen, auch in der Ostukraine, schauen sehnsüchtig nach Europa. Viele Millionen Ukrainer arbeiten im Ausland, gerade die gut Ausgebildeten. Europa ist wegen seiner Chancen und der Freiheiten populär. Aber gleichzeitig legt eine Mehrheit genauso Wert auf eine gute Nachbarschaft mit Russland.

Frau Koch-Laugwitz, vielen Dank für das Gespräch.

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