- Aus dem Leben eines Sonderlings
Auf der Suche nach Ursprünglichkeit: Was der dänische Philosoph Søren Kierkegaard dem modernen Individuum zu sagen hat
Keine Szene aus der Kindheit eines großen Philosophen ist beklemmender und rührender zugleich als jene, die sich um 1820 in Kopenhagen, im Hause Nytorv 2 zutrug. Dem Jungen, der dort aufwuchs, wurden nicht viele Zerstreuungen gewährt; er war früh gewohnt, sich mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken zu befassen. Erbat er Ausgang, so wurde ihm dies meist verweigert, doch gelegentlich war es so weit: Dann bot ihm der Vater an, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Sie betraten damit eine virtuelle Welt, und der Junge durfte wählen, ob der Ausflug etwa zum nahe liegenden Lustschlösschen oder zum Strand gehen sollte. Während sie hin- und hergingen, erzählte der Vater dann alles, was sie sahen, grüßte die Vorübergehenden, schwärmte von den Früchten am Marktstand. Für den Jungen war es, als «entstünde die Welt mitten unter dem Gespräche, als wäre der Vater der Herrgott und er selber sein Liebling, der Erlaubnis erhielt, seine törichten Einfälle dreinzumengen».
Wir betreten auf den Spuren Kierkegaards eine strenge Welt, abgeschlossen nach außen, aufgeladen im Innern. Das Leben findet statt im Intérieur, aber ganz ohne schwülen Pomp. Der Vater ist ein wandelnder Befehl, dem das Kind ausgesetzt ist wie der Verhaftete dem Licht der Schreibtischlampe beim Verhör. Und doch ist da die Liebe, und immer heftiger blüht die Phantasie, wenn der Druck sich erhöht.
Die suspekte Gemütlichkeit der Existenz
Søren Kierkegaard: der Philosoph, der aus der rigorosen Kälte und der romantischen Hitze kam. Er war weltfremd und geistesgegenwärtig, überwältigt von Moral und zurückgezogen auf Innerlichkeit, verstrickt ins Rollenspiel und beharrlich im Ernst, überspannt und gebrochen. So beherrschend war diese Kindheit, dass nicht daran zu denken war, sie wie ein lästiges Insekt abzuschütteln. Während einer seiner Nachfahren, Martin Heidegger, in der «Herkunft» die «Zukunft» sah, und ein anderer, Hans-Georg Gadamer, es sich in den «Vorurteilen» der Tradition so bequem machte, als wären sie ein Sofa, saß Kierkegaard die eigene Vergangenheit im Nacken. «Gemütlichkeit in der Existenz» fand er suspekt. So hatte er schon eine erste Person gefunden, mit der er über Kreuz lag: sich selbst.
«Es ekelt mich des Daseins, welches unschmackhaft ist, ohne Salz und Sinn … Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? … Warum hat man … mich hineingesteckt in Reih und Glied, als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? … Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst.»
Der Streit mit sich war die Vorschule zum Streit mit anderen, in den sich Kierkegaard verstrickte. Sein Hass auf Journalisten, seine Auseinandersetzung mit der Kirche, die unglückliche Liaison mit Regine Olsen sind jeweils auch Etappen im Leben eines Sonderlings, der sich darin suhlt, von der Welt missverstanden zu werden. Wenn sie nichts wären als nur dies, dann könnten wir Kierkegaard allerdings vergessen. Doch das können wir nicht.
Zu singen ist vielmehr das Loblied des Sonderlings. «Ich passe mich nicht unter die Menschen», heißt es in einem Brief Heinrich von Kleists. Doch gerade er findet, wie all die anderen schrägen Vögel, das Wort, das zur Welt passt wie die Faust aufs Auge: das Wort also, das trifft und schmerzt. Der Sonderling hat Abstand, und wenn uns die Lagebeschreibung, die er von seinem extremen Winkel aus vornimmt, berührt, kann dies nur daran liegen, dass an der Welt, wie sie ist, selbst etwas Sonderliches ist. Etwas Unerträgliches. «Harpuniert ist die Gegenwart, sie läuft bloß noch mit der Fangleine», sagt Kierkegaard. «Daß es ‹so weiter› geht, ist die Katastrophe», heißt es bei Walter Benjamin. Kierkegaard pflegte die Allergie gegen seine Zeit. Er wollte die Geschichte erzählen «von dem Schuh, der drückt».
Dazu unternahm er «eine Inlandsreise innerhalb seines eigenen Bewußtseins» und versuchte, «was man vielleicht beschränkt und armselig nennt: sich selbst zu verstehen». Dabei wollte er sich «in seinem Mikrokosmos so makrokosmisch wie möglich gebärden», und das heißt: er stellte die allgemeine Frage, was es überhaupt heißt, ein Selbst zu werden und ein Individuum zu sein.
Diabolisch ergriffen von «Don Giovanni»
So hat Kierkegaard die Karriere des Subjekts, die bei Hegel ihren Höhepunkt erreicht hat, auf die individuelle Lebens-Geschichte umgelenkt, während sie zur selben Zeit von dem anderen großen abtrünnigen Hegelianer, Karl Marx, auf die Welt-Geschichte bezogen wurde. Aus dem Riss, der auf diese Weise zwischen Welt und Selbst entstand, ist inzwischen ein klaffender Abgrund geworden: Auf der einen Seite steht die globalisierte Welt, die sich in ihrer Dynamik verselbständigt hat. Auf der anderen Seite stehen die Individuen, die nicht aus der Haut ihrer Nöte und Hoffnungen kommen und allein deshalb schon von Kierkegaards «Protest gegen das System» eingenommen sind.
Die fröhlichen Individualisierer, die sich darauf kaprizieren, anders zu sein als die anderen, sind von dessen «Lehre vom Einzelnen» freilich weit entfernt. Kierkegaard erhebt die Forderung, dass man die «Anstrengung des Ideals» auf sich nimmt und für sein Leben unbedingte Verantwortung übernimmt. Gemäß dieser Ethik will sich das Individuum von den Wechselfällen und Reizen des Lebens nicht beeindrucken lassen; die feindliche Schwester der Ethik findet sich demnach auf der passiven, sinnlichen, genießenden, verspielten Seite des Lebens: Es ist die Seite der Ästhetik.
Der Streit um das wahre Leben schwelt in Kierkegaard selbst. Wenn er 1835, als 22-Jähriger, schreibt: «Was mir eigentlich fehlt, ist, dass ich mit mir selbst ins reine darüber komme, was ich tun soll … Das ist es, wonach meine Seele dürstet wie Afrikas Wüsten nach Wasser», dann hat er doch erst mal anderes zu tun, als diesen Seelendurst zu stillen. Lieber greift er zum Seidenschal, schlüpft in den zitronengelben Mantel, zieht eine Zigarre der Marke Las tres Coronas aus dem Futteral und lässt sich im Fiaker ins Theater fahren, wo «Don Giovanni» gegeben wird – eine Oper, welche «mich so diabolisch ergriffen hat, dass ich es niemals vergessen kann». Kierkegaards Rang hängt nicht daran, dass er fest im Sattel der Moral sitzt, sondern daran, dass die Spannungen, die sich im Feld zwischen Ethik und Ästhetik entladen, in seinen Texten ein subtil geeichtes philosophisches Messgerät finden.
Der glücklichste Fehler seines LebensSeine Texte – das sind vor allem jene acht Bücher, die binnen drei Jahren, 1843–1846, von Kierkegaard wie von einer hochdrehenden Erntemaschine des Geistes herausgeschleudert werden. Offensichtlich sucht der Autor in diesen Büchern Schutz – und zwar sowohl als Ethiker, der sich zurückzieht, um Verantwortung zu predigen, wie auch als Ästhetiker, der sich seinen literarischen Ergüssen hingibt. Diese Bücher sind nichts anderes als das Bollwerk gegen eine Krise, die Kierkegaards Biograf Joakim Garff «den glücklichsten Fehler seines Lebens» nennt.
«Ich kam, ich sah, sie siegte» – so kommentiert Kierkegaard die Begegnung mit Regine Olsen, von der er sich hinreißen lässt, um doch zu merken, dass eine Ehe mit ihr für ihn eine innere Unmöglichkeit darstellt. Die Schule des Lebens, die Kierkegaard durchläuft, gipfelt in der scheiternden Verlobung mit Regine, in der er sich am Ende als gefühllosen Zyniker gibt, um ihr den Bruch zu erleichtern. Die literarische Krönung dieser Katastrophe ist Kierkegaards «Tagebuch des Verführers», ein Teil jenes vielstimmigen, zwischen Ethik und Ästhetik hin- und hergerissenen Hauptwerks «Entweder – Oder», das 1843 erscheint. Auch in diesem «Tagebuch» schlüpft Kierkegaard in die Rolle des Weiberhelden, während er zur selben Zeit einen Brief mit «Farinelli», dem Namen eines seinerzeit berühmten Kastraten, abzeichnet.
Soll man sich darüber freuen, dass dieses «Tagebuch» soeben einzeln, schmuck gebunden, erschienen ist? Nein, dieses Buch ist überflüssig wie ein Kropf. Das ganze Werk «Entweder – Oder» ist für exakt denselben Preis in derselben Übersetzung, mit denselben Kommentaren erhältlich; das der Einzelausgabe beigefügte Nachwort, das John Updike mit der feinsinnigen Routine, die man von ihm gewohnt ist, beigesteuert hat, kann den Band schon deshalb nicht retten, weil es nicht umhin kommt, deutlich zu machen, dass das «Tagebuch» eben nur einen kleinen Ausschnitt des Spannungsfelds der Lebensformen abdeckt, das in «Entweder – Oder» ausgemessen wird.
Am Schreibtisch sezierte Spießbürger
Immerhin kosten zwei andere Neuerscheinungen, Joakim Garffs
große Biografie und ein Band mit Kierkegaards «Geheimen Papieren»,
eben dieses Spannungsfeld aus; beide vollziehen jedenfalls den
langen Bogen des Lebens respektive des Werkes nach. Garffs
Biografie muss mit einem Einwand rechnen, der üblicherweise gegen
ein Buch mit 958 Seiten erhoben wird, nämlich: dass es 958 Seiten
hat. Erstaunlich ist, dass Garff trotz der üppigen Komposition der
eigentlichen Philosophie Kierkegaards vergleichsweise wenig Platz
einräumt. Erstaunlich ist aber auch, dass man sich daran gar nicht
so sehr stört. Mag
das Kopenhagen des 19. Jahrhunderts auch eine kleine, ferne Welt
sein, man lässt sich von Garff gern dort herumführen, zumal er dies
mit großer sprachlicher Eleganz und Lust an kleinen vielsagenden
Geschichten tut.
So gelingt ihm etwas, um das sich Kierkegaard mit weniger Erfolg bemüht hat, nämlich: «Intimität mit Distanz zu kombinieren». Es entsteht das Bild eines Menschen, der auf seinen Spaziergängen in freundliche Gespräche mit seinen Mitbürgern verwickelt war und an seinem Schreibtisch die Spießbürger sezierte, einen unerbittlichen Kampf um das rechte Verständnis des Christentums führte und mit den Abgründen seines eigenen Lebens haderte.
Zeugnis von der Lust am Sezieren und vom Leiden an der Welt legen auch die 62 Notizbücher ab, die Kierkegaard bei seinem Tod 1855 hinterließ. Vor Jahren ist eine fünfbändige Auswahl von ihnen auf Deutsch erschienen; in der neuen Gesamtausgabe, die bei de Gruyter vorbereitet wird, sollen sie offenbar vollständig veröffentlicht werden. Zwischendurch erreicht uns eine knappe Auswahl daraus unter dem irreführenden Titel «Geheime Papiere». Ganz deutlich wird das Ziel, dem sich die Auswahl verdankt, nicht. Starkes Gewicht legt der Herausgeber Tim Hagemann auf die Journalistenschelte, die bei aller Brillanz doch – wie Klaus Harpprecht in seinem schönen Nachwort bemerkt – einer «Blütenlese des Ressentiments» gleicht. Wenn im Klappentext gar behauptet wird, hier werde «hellsichtige» Medienkritik geübt, so ist dies eben die aufgeblasene Rhetorik, die Kierkegaard an den Pranger stellt. Kurz: mit der Balance dieser Sammlung hapert es, und doch verdankt man ihr den Genuss, Kierkegaard wieder neu zu lesen.
Ein Kommentar zu Mel Gibson
In diesen «Geheimen Papieren» nicht abgedruckt ist eine späte Notiz aus dem Jahr 1854, in der Kierkegaard gegen diejenigen wettert, die «die Welt nehmen, wie sie ist»: die «Exemplar-Menschen», die sich an «Schick und Brauch» halten und nur «geschäftig» sind, «um Vermögen zu sammeln, etwas zu werden, sich zu verheiraten usw. usw. … Sobald hingegen ein Mensch kommt, der eine Ursprünglichkeit mit sich führt, so dass er also nicht sagt, man muss die Welt nehmen wie sie ist …: im selben Augenblick, da dieses Wort gehört worden ist, geschieht eine Art Verwandlung im ganzen Dasein!» Diese Notiz ist übrigens in die Geistesgeschichte eingegangen: Franz Kafka hat sie begeistert zitiert, und in Siegfried Kracauers weithin unterschätztem letzten Werk «Geschichte. Vor den letzten Dingen» firmiert sie als Epilog.
Kierkegaards eigenes Bollwerk der Ursprünglichkeit war das Christentum. Ihm galt als Christ, wer «mit dem neuen Testament in seiner Hand, alles wagend und bereit, alles zu leisten, sagt: Nein, meine liebe Welt, ich gedenke nicht, dich zu nehmen, wie du bist, nein, hier ist die Weisung dafür, wie du sein sollst. Schau, das ist ein Ereignis, welches das Dasein berührt.» Auch im Glauben sah er den großen Streit zwischen Ethik und Ästhetik aufflammen, denn hier wird nicht nur das Lehrstück, «wie du sein sollst», aufgeführt, sondern auch «das Gaunerstück der Christenheit», in dem «man Christentum spielt, wie man Soldat spielt».
Bei einer solchen
Inszenierung des Glaubens wird nach Kierkegaard das, «was
Wesensverwandlung sein sollte, ein ästhetisches Auflodern».
Übrigens: in dieser Kritik steckt auch ein vorsorglicher Kommentar
Kierkegaards zum Leid-Stil von Mel Gibsons Film
«Die Passion Christi»: ein Einwand gegen Blut-Optik und
Prügel-Zeitlupe. Das Ursprüngliche, mit dem die radikale
Infragestellung und Verwandlung der Welt einsetzt, soll – folgt man
Kierkegaard – eben das genau nicht sein: eine ästhetische
Erfahrung.
Wem die Stunde schlägt
In den «Geheimen Papieren» abgedruckt ist eine Notiz, in der Kierkegaard mit einem bestimmten Geschichtsverständnis ins Gericht geht. Vielen Menschen ergeht es, so sagt er, «wie jemandem, der auf seinem Weg eine Kirchenuhr schlagen hört; aber da er gegangen ist, kann er insoweit nicht wissen, ob die Uhr mit dem ersten Schlag, den er hörte, zu schlagen begann; in dieser Illusion (daß es der erste Schlag ist) geht er nun, und die Folge ist leicht, daß er zwei zählt, während die Uhr sieben ist usw.» So kann man sich vertun.
Bei den Menschen, die heutzutage durch die Gegend hetzen, tickt es also nicht ganz richtig. Hörten sie nur genauer hin, dann würden sie merken, dass die Stunde Kierkegaards geschlagen hat. Und damit die Stunde all derer, die denken, dass heute zwar dauernd von Individualisierung die Rede ist, aber kaum jemand weiß, wer er ist. Dass die Halbnackten im Dschungel und die Nackten im Container Probleme mit der Garderobe haben, weil ihnen der Mantel der Geschichte ein paar Nummern zu groß ist. Dass es bei der Selbstwerdung nicht nur auf die Herstellung der Marktfähigkeit ankommt, sondern auch auf die éducation sentimentale. Dass es manchmal gut ist, sich schwer zu tun und sich ernst zu nehmen.
Dieter Thomä lehrt Philosophie an der Universität St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er den Band «Vom Glück in der Moderne» und ein «Heidegger-Handbuch».
Erwähnte Bücher
Søren Kierkegaard
Tagebuch des Verführers
Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck. Mit einem Nachwort von John
Updike.
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004. 199 S., 18 €
Søren Kierkegaard
Entweder – Oder. Teil I und II
Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck. Hg. von Hermann Diem und
Walter Rest.
dtv, München 1975. 1038 S., 18 €
Joakim Garff
Kierkegaard. Biographie
Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid.
Hanser, München 2004. 958 S., 45 €
Søren Kierkegaard
Geheime Papiere
Aus dem Dänischen und hg. von Tim Hagemann. Mit einem Essay von
Klaus Harpprecht.
Eichborn, Frankfurt a. M. 2004. 232 S., 27,50 €
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