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Vom Wandel der Literaturkritik zur Literaturperformancekultur

Der Umgang mit der Literatur hat sich verändert. Politische Wahrheitssuche ist Geschichte, der Markt sorgt heute für die Sinndebatte. Anstatt zu lesen, pilgern wir allabendlich zu Festivals und Lesereihen. Und was macht die Literaturkritik? Gedanken zum Beginn der Leipziger Buchmesse.

Was macht eigentlich die Literaturkritik? Gibt es sie noch? Nimmt sie sich eine längere Auszeit? Ja, natürlich, wenn man einzelne Exemplare sucht, kluge, umsichtige Buchbesprechungen, dann findet man sie auch. Hier natürlich. Auf den folgenden Seiten. Aber als Ganzes, als Gattung, als Garant einer Einheit von Literatur und Gesellschaft, von Lesen und Leben, als Institution?

Wann hat man eigentlich den letzten herzhaften Verriss gelesen, so ernst, böse, komisch und maliziös, dass die Sense ein sausendes Geräusch erzeugt und trotzdem alle Köpfe oben bleiben? So dämonisch wie bei Alfred Kerr, so donnernd wie bei Reich-Ranicki? Wenn wir es noch richtig ernst meinten mit der Kritik, könnte sie auch richtig Streit entfachen, die Adern schwellen lassen im Feinformulieren, Bluffen oder Anblaffen. Warum geschieht das nicht häufiger? Was ist da passiert?

Geben wir zunächst eine generelle Antwort: Der Literatur wird nicht mehr jener Wert für das Leben und die Gemeinschaft zugesprochen, den sie seit der Entstehung der bürgerlichen Lesekultur vor 250 Jahren innehatte. Die Entwertung des Geschehens, von allen Beteiligten, durchlief mehrere Stufen: Die forcierte Entideologisierung nach 1945, danach die Reideologisierung in den sechziger Jahren, gefolgt von einer Fokussierung auf Innerlichkeit und Erfahrungshunger, diese wiederum gefolgt vom Verlangen nach Coolness als Haltung, dann das Stellen erneuter politischer Ansprüche nach 1989 und schließlich die postmoderne Grenzenlosigkeit, die den alles ordnenden Punkt nicht mehr hergab, von dem aus wir die Welt sehen.

Heute bemühen wir uns gar nicht erst, einen Komplex von Bedeutung so aufzubauen, dass er die klugen Zerstörer und die nachdenklich Zornigen in Bewegung bringt. Nicht nur werden Bücher kaum noch schön verrissen, noch weniger wird sich mit ihnen wirklich auseinandergesetzt. Vielleicht am Partytisch nachts um zwei oder in der subalternen Blogosphäre, nicht aber in den klassischen Medien der Kritik. Die Auseinandersetzung braucht keiner mehr, weil keiner mehr an die moralische Sendung der Literatur glaubt, weil keiner mehr ihrem Gegenstand einen potenziellen Wahrheitswert unterstellen will. Entweder ist etwas gut für mich als Leser, es belehrt mich, macht mich klüger, unterhält mich, steigert mein Renommee – oder es kann mir gestohlen bleiben. Sagt mir, was mir guttut, und ich kaufe es, kaufe es euch ab, kaufe euch.

Nicht mehr über ästhetische und historische Zuschreibungen funktioniert die Bewertung der Literatur, sondern über Akzeptanz, messbar in Form von Verkaufszahlen und Bestsellerlisten, pseudomessbar in Form von Bestenlisten und Preisvergaben. Der Markt hat inzwischen den Raum der öffentlichen Sinndebatte besetzt. Spät, doch schließlich auch hier, möchte man hinzufügen, da sich diese Entwicklung in den meisten anderen Bereichen der Gesellschaft schon längst durchgesetzt hat.

Nun ist das alles, wohlgemerkt, kein Jammern und Zähneklappern, sondern Beschreibung. Deshalb nun eine positive Wendung der Dinge: Wenn wir davon ausgehen dürfen, dass sich kulturelle Energien nicht verlieren, sondern verwandeln, wo wäre dann die andere, die neue Sphäre, in der es weitertobt? Wo befindet sich das literarische Spielfeld unserer postkritischen Gesellschaft?

Dieses groß aufgezogene Spielfeld kennen wir alle, wir haben nur noch keinen griffigen Namen dafür. Es ist marktnah, doch von einer eigenen Logik: Es ist das weite, so nur in Deutschland entwickelte Feld der Literaturfestivals, der Literaturhäuser, der hundertfachen allabendlichen Lesungen und Gespräche, der über tausend jährlichen Preise und Stipendien und ihrer entsprechenden Veranstaltungen. Bei der Eroberung des performativen, des szenisch bestimmten Raumes durch die Literatur handelt es sich um ein flächendeckendes Phänomen. Sie findet mit einer solchen Wucht statt, dass man sich wundert, warum es die Literatur nicht zu einem gescheiten Fernsehformat bringt. Täglich sind Abertausende unterwegs zu literarischen Ereignissen. Anstatt selber zu lesen, lassen sie sich lieber in Gesellschaft etwas vorlesen.

Von Michael Krüger, dem Leiter des Hanser-Verlags, stammt das sarkastische Bonmot, dass er, wenn er abends durch Deutschland fahre, mit Schrecken hinter jedem erleuchteten Fenster einen über sein Manuskript gebeugten Dichter sehe. Mit gleichem Recht könnte man vermuten, dass unsere Innenstädte am frühen Abend deshalb so erleuchtet sind, weil dort der größte Literaturzirkus der Welt aufgezogen wird.

Und was machen Sie so heute Abend? Diese Frage braucht man einem deutschen Autor nicht zu stellen. Als wir im vergangenen Herbst in Braunschweig eine der in Deutschland so beliebten Langen Nächte der Literatur veranstalteten, rund um den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, kam mir ob der Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen die Idee eines Metafestivals: ein Treffen der Literaturpreisträger des laufenden Jahres. Also fragten wir an: Georg Klein, Leipziger Buchpreisträger (gerne ja, aber er sei an diesem Wochenende leider bei den Freiburger Literaturtagen), Melinda Nadj Abonji, Deutsche Buchpreisträgerin (eigentlich gerne, allein sie sei in Basel, bei der dortigen Buchmesse) und Ilija Trojanow, Träger des Würth-Preises (er organisiere nicht nur, sondern moderiere auch noch die üppigen Münchner Literaturtage). In Dresden, hörte ich dann, sei gerade der literarische Herbst im Gange und auch die Literatour-Nord sei in der Nähe unterwegs. Spätestens da dämmerte mir, was eigentlich los ist, und was keiner in seiner gleichzeitigen Fülle mitbekommt, eben weil es lokal oder regional ausgetragen wird: Wir leben längst in einer fidelen, föderalen Literaturperformancekultur, irgendwo zwischen Theater- und Galerienszene, aber mit weniger politischem Bohai als Erstere und mit weniger Weißwein als Letztere. Eine Szene mit einem gewissen nationalen Drive und einer globalen Rest-Aura, die sich über Verlagsnamen, Nabokov zitierende Besprechungen und einige Radiogespräche vermittelt. Hier kommt zusammen, was zusammengehört: der lauschende Leser und der redende Schreiber.

Lesen Sie im nächsten Teil, wie der Kritiker heute einem Katzendompteur gleich, sein Gegenüber zum Bauchkraulen verführt.

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