lesen: Journal - Untherapierbar

Martin Mosebach liefert Röntgenbild und Diagnose einer dekadenten Gesellschaft

Man hat diesem vor drei Jahren mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten Schriftsteller allerlei vorgeworfen – einen Stich ins Epigonale, gespreizten Prunkstil, einen reaktionären Einschlag in religiösen Fragen, Talent nur im Essayistischen. Sein neuer Roman hebt nun all diese Vorurteile mit einem Schlag aus den Angeln. Martin Mosebach hat mit «Was davor geschah» einen der fesselndsten Romane der aktuellen deutschen Literatur geschrieben – ebenso grimmig wie scharfsinnig, ebenso spielerisch wie bösartig und satirisch. Dieser Gesellschafts­roman porträtiert die ersten Kreise der Frankfurter Gesellschaft und liefert gleichzeitig eine luzide psychologische Studie dieser Schicht, in der sich Ehrgeiz mit Geltungssucht paart und die Liebe im Dienste der Vermehrung von Geld und Einfluss steht. Man ist vermögend, man ist distinguiert – und man verfolgt ebenso süchtig wie strategisch die libidinös aufgeladenen Spiele von Macht, Kommerz und Dominanz. Hinter der liberalen Fassade hängen die ehrgei­zigen Akteure in den Zwängen der ungeschriebenen Gesetze fest, die das Leben auf diesem Parkett regeln.


Daheim bei den besseren Kreisen

Drehbühne des Dramas ist der «Salon» der Hopsten-Familie, die sonntags jeweils eine bunte Schar von Gästen in ihr Haus lädt, ein schönes Paar mit vollkommenen Kindern. Es ist ein Kommen und Gehen, das Mitbringen von Freunden ist gern gesehen, jedenfalls solange die Mitgebrachten den Stil des Hauses treffen. Die Gäste­liste ist zugleich eine diskrete Vermessungskarte der Einflussreichen in der Stadt. Man kann darauf problemlos den Stand der eigenen Aktien ablesen. Die Fäden im Hintergrund zieht die Dame des Hauses, Rosemarie, die ambitionierte, wenn auch emotional unterkühlte und etwas aus der Fasson geratene Gattin, die ihr robustes Selbstbewusstsein aus geerbtem Geld bezieht und ihre Machtgier in machiavellistischen Schachzügen auslebt. Der Mann an ihrer Seite, Bernward, ein gutmütiger Westfale, hat sich längst angewöhnt, die tückischen Seiten seiner Frau zu übersehen oder, wenn es gar nicht anders geht, lethargisch zu ignorieren.

Zum harten Kern dieser Gesellschaft gehört der pensionierte Minister Schmidt-Flex mit seiner längst versteinerten Gattin, ein Ausbund an Eitelkeit, gallig und übellaunig, der die «zurück­stufende» Nacherziehung seines ungeratenen Sohnes mit feinen Stichen vorantreibt und seine Schwiegertochter, eine ungebildete Brasilianerin, offen verachtet. Komplettiert wird das ständige Personal durch Josef Salam, einen dubio­sen, öligen, aber sinnesfreudigen Händler sowie durch die Stilberaterin Helga Stolzier, Freundin von Rosmarie Hopsten. Wie diese, aber ohne deren Wissen, ist auch sie von Salam ohne viel Fe­derlesens verführt worden und in eine abgründige Affäre verwickelt. Besonders Hopstens Frau pflegt die häusliche Leere mit nachmittäglichen Besuchen beim virilen Hausfreund zu kompensieren – ohne ihn dabei weniger zu verachten, als sie es schon immer tat.


Tückische Tat eines Kakadus

Martin Mosebach liefert in seinem Roman Röntgenbild und Diagnose einer dekadenten Gesell­schaft, aber er versagt dem Leser jede Andeutung einer heilenden Therapie. Auf seiner Gesellschafts­bühne entspinnt sich ein phantastisches Spiel um Liebe und Verrat, Missgunst und Gier, das er kunstvoll zu einem Vexierbild arrangiert; Lüge und Wahrheit sind dabei nur durch einen hauchdünnen Schleier getrennt. Die Fundamen­te dieser Verhältnisse sind längst morsch, am Ende krachen die Ehen zweier Paare lautlos in sich zusammen. Mosebach beherrscht die Kunst des blitzschnellen Wechsels zwischen erzählerischer Distanz und Nähe perfekt. Mal zeigt er nur die polierte Oberfläche dieses gesellschaftlichen Biotops, mal malt er winzigste Details so scharf, dass eine Atmosphäre suggestiver Intensität entsteht. Selten hat ein Autor die großen Erzählfluchten seines Romans so gewinnbringend mit Einzelstudien angereichert – die Beschreibungen des Kakadus, der durch den Salon flattert und den Schnabel hinterrücks in die Hände Helga Stolziers schlägt, die Hühner, die durch die Kind­heitsräume der naiven Silvi flattern, die Nach­tigall, die in reiner Schönheit singt, von allen unbemerkt, oder die wild-zärtliche Katze, welche durch das triste Leben der Schwiegertochter schleicht und den Ausbruch ankündigt – dies alles sind kleine erzählerische Höhepunkte.

Dabei steht Martin Mosebach eine virtuose Sprache zur Verfügung. Was ihm oft angekreidet wurde – ein zu hoher, fast schwülstiger Ton – entpuppt sich hier nun als hochentwickeltes Instrument. Es erlaubt ihm, die widersprüchlichen Schattierungen der Figuren abzubilden, in unwegsame Tiefen zu leuchten und das Chaos der menschlichen Verirrungen zu reflektieren: Mit «Was davor geschah» ist Martin Mosebach ein bedeutender Wurf gelungen.

Martin Mosebach Was davor geschah Hanser, München 2010. 336 S., 24,90 €

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