- Liebe zum Lesen? Eine Verleumdung
Sie bitten mich um einen Kommentar über etwas, das Sie «meine Liebesaffäre mit dem Lesen» nennen. Ich muss gleich vorausschicken, dass dies eine Unterstellung und vollkommen unwahr ist. Das Lesen und ich sind nur gute Freunde. Eigentlich nicht einmal das. Wir haben eine Geschäftsbeziehung miteinander.
Sie bitten mich um einen Kommentar über etwas, das Sie «meine Liebesaffäre mit dem Lesen» nennen. Ich muss gleich vorausschicken, dass dies eine Unterstellung und vollkommen unwahr ist. Das Lesen und ich sind nur gute Freunde. Eigentlich nicht einmal das. Wir haben eine Geschäftsbeziehung miteinander. Ich muss aus professionellen Gründen lesen – um Sachen herauszufinden, um bei dem auf dem Laufenden zu bleiben, was meine Schriftstellerkollegen tun, um in der literarischen Welt eine gute oder wenigstens irgendeine Figur zu machen.
Genau genommen, ist es nicht einmal eine Geschäftsbeziehung. Ich kann einfach fürs Lesen keine bequeme Sitzhaltung finden oder auch nur eine funktionierende Art, ein Buch abzustützen. Oft schlafe ich ein. Und wenn ich im Liegen lese und das Buch über dem Kopf halte, dann fällt es mir gern schwer aufs Gesicht, und das tut weh. Und selbst wenn ich wach bleiben kann, bin ich ein langsamer Leser. «Das ist doch gut!», sagen die Leute aufmunternd. «Dann merken Sie sich wenigstens, was Sie gelesen haben.» Keineswegs. Ich vergesse alles augenblicklich. Ich klappe das ausgelesene Buch zu und weiß nichts mehr – nicht, worum es ging, nicht, ob es ein Roman oder eine Biografie war. Natürlich mache ich mir Notizen, wenn es wichtig ist. Aber dann muss ich ja die Notizen lesen – und das gleiche Problem geht von vorne los.
Meine Beziehung zum Lesen ist seit jeher gestört. In der Oberstufe des Gymnasiums wählte ich Englische Literatur als Leistungskurs. Der Lehrer schickte eine Warnung voraus: «Dieser Kurs ist nichts für Leute, die mit Büchern nicht gut auskommen.» Am liebsten wäre ich unter mein Pult gekrochen – er hatte mein schändliches Geheimnis entdeckt. Auf der Universität wollte ich moderne Fremdsprachen studieren. Auch da ging es nur um Bücher! Um Bücher und um kritische Meinungen über Bücher – aber die hatte ich nicht. Ich musste die Sprachen aufgeben und mich auf Philosophie verlegen.
Eines Tages konnte ich beobachten, wie meine älteste Tochter mit zwölf Jahren plötzlich zur Leserin wurde. Sie lag während der ganzen Weihnachtsfeiertage unter dem Kaffeetisch, die Füße ragten beim einen Ende hervor und der Kopf beim anderen, und las in vollkommener Entrücktheit und Selbstvergessenheit den Roman «Jane Eyre», den sie gerade geschenkt bekommen hatte; und meine neunjährige Enkeltochter versucht im Blindflug mit einer Hand ihre Schuhe zu binden, während sie mit den Augen, mit der anderen Hand und mit ganzer Seele an dem Kleinmädchenklassiker «The Secret Garden» hängt, den sie bereits zum dritten Mal liest. In mir steigt eine undeutliche Erinnerung auf. Vielleicht war ich genauso in ihrem Alter – vielleicht waren wir damals ein bisschen verliebt, das Lesen und ich …
Manchmal beschleicht mich der Gedanke, ob ich nicht vielleicht ein Bücherschreiber geworden bin, um dem Bücherlesen aus dem Weg zu gehen. Das Bücherschreiben ist eine Beschäftigung, die irrwitzig viel Zeit verschlingt. Sie fesselt die Aufmerksamkeit vollkommen und macht überdies großes Vergnügen. Um aber das Geld ranzuschaffen, damit man sich dieses Vergnügen leisten kann, muss man dafür sorgen, dass die Bücher publiziert werden – und das bedeutet, dass irgendwelche Unglücksraben sich schließlich irgendwo damit abplagen werden, diese Bücher zu lesen. Sie werden in ihren Sesseln hin- und herrutschen und dabei einschlafen …
Das Bücherschreiben erfordert natürlich auch, sie selber zu lesen, und zwar immer wieder, im Manuskript und in den Fahnen. Das ist vermutlich noch schlimmer, als die Bücher anderer Leute zu lesen. Seltsamerweise gibt es aber später einen guten Moment – wenn man die Übersetzungen der eigenen Bücher liest. (In diesem Fall sind keine literarischen Urteile vonnöten und erforderlich). Sie lesen sich, als hätte die Übersetzung völlig neue Bücher aus ihnen gemacht. Ihre allzu vertrauten Umrisse sind gemildert, wie eine Landschaft im Nebel oder wie Salome hinter ihren sieben Schleiern.
Wenn ich es recht bedenke, lese ich eigentlich alle Bücher am liebsten in fremden Sprachen. Das ist eine Herausforderung der Intelligenz, und die eigene Vorstellungskraft ist angehalten einzuspringen, wo der Wortschatz und der Sprachgebrauch nicht ausreichen. Das hilft, einen wachzuhalten und stillzusitzen, viel länger als normalerweise. Zu meinem Pech gibt es nur sehr wenige Fremdsprachen, in denen ich dieses Vergnügen genießen kann; obwohl ich zugeben muss, dass ich manchmal eine gewisse Befriedigung daraus ziehe, ein paar Absätze aus einem meiner Romane in völlig undurchsichtigem Slowenisch oder Portugiesisch zu lesen.
Wir hatten schon auch manchmal unsere besonderen Momente, das Lesen und ich. Flauberts «Lehrjahre des Gefühls», Thackerays «Jahrmarkt der Eitelkeit» – in beiden Fällen bin ich von der letzten Seite sofort wieder auf die erste gesprungen und habe neu zu lesen begonnen. «Eugen Onegin», Paustovskijs Autobiografie, «Buddenbrooks» … Zugegeben, mein Geschmack ist einfach und offensichtlich, und ich werde nicht riskieren, hier mit meinen gelegentlich auch recherche-reicheren Vergnügungen anzugeben. Trotzdem möchte ich drei Titel nennen, die mich irgendwann in meinem Leben überrascht haben: «Lions and Shadows» von Christopher Isherwood, «Meines Vaters Land» von Wibke Bruhns, «Le chercheur d’or» von Jean-Marie Le Clézio.
Aber Liebe? Sollte diese Verleumdung noch einmal wiederholt werden, bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Anwälte einzuschalten.
(Übersetzung aus dem Englischen: die Redaktion)
Michael Frayn, geboren 1933 in London, ist Dramatiker, Journalist, Romancier und Übersetzer, vor allem der Stücke Tschechows. Seine Theaterstücke «Kopenhagen» und «Demokratie» sind Welterfolge. Zuletzt erschien sein Roman «Das Spionagespiel».
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