- Im Reich der räudigen Hunde
Von den Schrecken und der Faszination einer (a)sozialen Handlung
Tiere können nicht verraten. Diese Fähigkeit ist dem Menschen eigen, sie gehört wie das bewusste Täuschen, das Lügen und Hintergehen zu seiner psychosozialen Grundausstattung. Dabei mästet sich der Verräter an Wahrheit und Vertrauen, indem er als Parasit des Sozialen Nähe und Loyalität vortäuscht und missbraucht. Er gilt daher als Zerstörer jeden gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Für diese Ausbeutung des Vertrauens, des Grundstoffs aller Gemeinschaft, gibt es ein aktuelles Beispiel – jene Stasi-Agenten, die die Aufgabe hatten, alleinstehende Chefsekretärinnen aus Bonner Ministerbüros in ein Liebesverhältnis zu verstricken und schließlich zur Beschaffung geheimer Informationen zu bewegen. «Unternehmen Romeo» nannte das Ministerium für Staatssicherheit in geheimdienstlich-zynischer Manier dieses Vorgehen, das Elisabeth Pfister in ihrer gleichnamigen Dokumentation beschreibt.
Scham und Schuld bedrängen nicht nur jene, die zum Verrat gezwungen wurden. Das Bewusstsein, verraten worden zu sein, peinigt und traumatisiert auch die Opfer. Von solchen existenziellen Versehrungen zeugen viele Berichte von Opfern, die entdecken mussten, dass sie von Freunden, Verwandten, Ehepartnern bespitzelt worden waren.
Die Verstörungen wirken tief, wie etwa bei Uwe Johnson, dessen Frau offenbar jahrelang ein Verhältnis mit einem Angehörigen des tschechischen Geheimdienstes hatte, der ihn ausforschen sollte. Persönliche Treulosigkeit, Liebesverrat und politische Bespitzelung fielen hier zusammen und bewirkten beim Autor eine jahrelange Schreibblockade, aus der er sich erst mit der «Skizze eines Verunglückten», dem Bericht über die Ermordung der verräterischen Ehefrau eines Dr. J. Hinterhand, mühsam befreien konnte: «Er (Hinterhand) sei mit einer Art von Entsetzen gefragt worden, wie denn er sich habe einlassen können auf einen anderen Menschen so ganz und gar, ohne einen Teil der eigenen Person in einem Versteck zu halten!, worauf er schon aus Verständigkeit zugestanden habe, er sei in der Tat auf der Strecke geblieben mit seinem Entwurf von einer Liebe sonder Vorbehalt.» Die Verstörung des Verratenen ist groß, weil im Vertrauensbruch die Grundordnung jeglicher menschlichen Existenz zerstört wird.
Auf dem Verrat liegt ein schwerer Makel, zu ihm muss man in der Regel verführt, gekauft oder erpresst werden. Weder Gesellschaft noch Politik können ihn ignorieren. Entsprechend schwer wird er bestraft. Dem FBI-Beamten Robert Hanssen, der kürzlich in den USA wegen Spionage für Russland verhaftet wurde, droht die Hinrichtung – und das zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, da doch die Hysterien des Kalten Krieges abgeflaut sind.
Hanssens mögliches
Ende ist keine Ausnahme beim «zweitältesten Beruf der Welt», wie
etwa Margret Boveris bis heute gültige Universalgeschichte des
«Verrats im 20. Jahrhundert» beweist. Und wer nicht den leiblichen
Tod erleidet oder im Kerker verkommt, der stirbt sozial. Wir kennen
viele Berichte jener, die Gesinnungsgenossen denunzierten und als
«Kronzeugen» auftraten, entweder durch Haft und Folter dahin
getrieben oder infolge freiwilligen Sinneswandels. Alle drücken das
Leid der Stigmatisierten nach
ihrer Konversion aus, mit denen der Rest der Gesellschaft nichts
mehr zu tun haben will. Und diese Verachtung bestimmt auch das
Selbstbild des Verräters aus niedrigen Beweggründen wie Geld oder
Furcht, hält er doch seine eigene Isolation für gerecht.
Sehr viel besser kommt mit seinem Seitenwechsel derjenige zurecht, der glaubt, im Verrat wenigstens sich selbst treu geblieben zu sein. Dafür steht die Lebensgeschichte des Klaus Fuchs, über den es leider immer noch keine deutschsprachige Biografie gibt. Fuchs, 1911 geboren, schloss sich als Student der Mathematik und Physik der KPD an und machte nach seiner Emigration nach England und dem Erwerb der britischen Staatsbürgerschaft schnell akademische Karriere. Sie trug ihn bis in die Forschungslabors von Los Alamos, wo in geheimer englisch-amerikanischer Kooperation die Atombombe entwickelt wurde. Von dort informierte er die Sowjetunion über alle Entwicklungsfortschritte. 1950 wurde Fuchs enttarnt und in England zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt; aber er selbst sah sich nie als Verräter. Er betonte im Gegenteil die Kontinuität seiner politischen Überzeugungen. Nach Verbüßung seiner Haft ließ er sich folgerichtig in der DDR nieder, wo er in der Nuklearforschung arbeitete und 1988 starb.
Wer nicht das Glück hatte, im unübersichtlichen Gelände von Staatsbürgerschaften und politischen Bindungen Loyalität unabhängig von Pass und Wohnort beanspruchen zu können, dem blieb nur ein Weiterleben in Selbsthass und Bußritualen oder der Selbstmord. Dafür, dass Verrat nicht gelebt werden kann, steht die Figur des biblischen Judas Ischariot, zur Metapher geworden für die verachtenswerte Käuflichkeit des Untreuen und seine existenzielle Ausweglosigkeit. An ihn und seine «30 Silberlinge» erinnert Karol Sauerland in seiner neuen vergleichenden Studie über die Denunziation. Zum Verrat gehört, dass auch dessen Auftraggeber den Verräter gering schätzen. So teilt er das Schicksal der Prostituierten, die benutzt und verachtet werden.
Die Faszination des Seitenwechsels
Doch der Verräter ist nicht nur ein Gezeichneter, er ist auch ausgezeichnet, weil er in seinem Treubruch über ein zweites Geheimnis verfügt. Als Schmarotzer von Loyalitätserwartungen hat er Teil am Geheimnis der von ihm Verratenen, und gleichzeitig besitzt er weitgehend allein das Wissen von seinem Doppelspiel. Vor allem vom ideologisch legitimierten und bewusst begangenen politischen Verrat geht eine doppelte Faszination aus. Da ist zuerst die Anziehungskraft auf den Verräter selbst. Im verborgenen Engagement gegen die eigene Seite erfährt er nicht nur den Reiz des riskanten Spiels mit Identitäten und Tarnungen, sondern auch die Macht der Besonderheit. Im Geheimnisbruch als spezifischer Form des Verrats steigt er auf zum Herrscher zweier arkaner Räume und verfügt über zwei Orte des Geheimnisses: Zum einen bewegt er sich als loyaler Gefolgsmann seiner Seite, und zum anderen lebt er in der Welt seines Vertrauensbruchs.
Hinzu tritt das Pathos der Konversion. Der Verräter wird ja nicht als solcher geboren. Er entscheidet sich in einer bestimmten sozialen, politischen, historischen Situation gegen gesellschaftlich und staatlich definierte Loyalitätsbindungen. Diese Entscheidung symbolisiert auch im Selbstbild des Seitenwechslers Kraft und Größe. Im Verrat wird der Einzelne scheinbar zum Herrn über Geschichte und Politik.
Die Vorstellung, im Verrat Führungstugenden, Mut, Entscheidungskraft, Nervenstärke für die richtige politische Sache einsetzen zu können, hat in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die britischen Dandy-Spione Donald Maclean, Guy Burgess oder Kim Philby angetrieben, zu den Sowjets überzulaufen und sich in den Dienst Stalins zu stellen. Sie alle waren Oberschicht-Verräter – an den Eliteschulen von Eton und «Oxbridge» erzogene Diplomaten wie Burgess und Maclean, hochrangige Geheimdienst-Beamte wie Philby oder gar, wie Anthony Blunt, Verwalter der königlichen Gemäldegalerien und dadurch Mitglied des königlichen Haushalts. Jahrelang hatten sie ihren sowjetischen Auftraggebern geheime Informationen zugetragen, ehe sie ihrer drohenden Enttarnung zuvorkamen und sich nach Moskau absetzten, wo sie mit hohen militärischen Orden als «Kundschafter des Friedens» ausgezeichnet wurden.
Das Schicksal der britischen «Maulwürfe» ist beispielhaft für die Verbindung von Schrecken und Faszination des Verrats. Sie konvertierten zum sowjetischen Sozialismus, weil sie an der Schwäche der britischen Innen- und Außenpolitik verzweifelten. Erzogen als Gentlemen, also bestimmt zur sozial-patriarchalen Führung von Gesellschaft und Staat, sahen sie sich in ihrem Land mit Chaos, Machtverfall und Führungsschwäche konfrontiert. Die bürgerliche Gesellschaft schien ihnen wegen ihrer schreienden sozialen Ungleichheit und ihrer ökonomischen Krisen zum Untergang verurteilt, die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre bestätigte ihnen den Zusammenbruch der alten Welt. Diesen innenpolitischen Konflikten entsprach das feige Appeasement nach außen – die englische Beschwichtigungspolitik gegenüber den faschistischen Mächten Deutschland, Italien und Japan.
Verglichen damit bot sich die Sowjetunion als eine Ordnungsmacht an, die nach innen den menschlichen Fortschritt in allen Bereichen vorantrieb und in der Außenpolitik einen klaren antifaschistischen Kurs steuerte. Selbst den Hitler-Stalin-Pakt deuteten die britischen Nobelspione noch als geschicktes Manöver, um Zeit zu gewinnen für die Entscheidungsschlacht mit dem Faschismus.
Burgess und Blunt bereisten in den dreißiger Jahren die UdSSR und wurden sogar, wie Burgess immer behauptete, von Stalin persönlich empfangen. In Russland gab es weder Arbeitslosigkeit noch Alkoholismus und Homosexualität – das freute Blunt und Burgess weniger; Vergewaltigung und Kindesmissbrauch waren unbekannt, angeblich wegen der fortschrittlichen Sexualerziehung. Kurz: Die Sowjetunion versprach die Rettung aller Mühseligen und Beladenen. Nur in der fröhlichen Naivität einiger Aufklärer des 18. Jahrhunderts finden sich ähnliche Hoffnungen auf ein Ende allen menschlichen Unglücks.
Der Magnetismus der Glücksversprechungen
Die Rede vom «Jahrhundert des Verrats» wird jetzt deutlicher. Denn eine solche Konstellation von Loyalitätsbindungen angesichts antagonistischer Gesellschaftssysteme und ihrer jeweiligen Glücksversprechungen hat es vorher nicht gegeben. Das Bündnis gegen Hitler verstärkte diesen Magnetismus noch. Der gemeinsame Antifaschismus erleichterte den Übertritt aus der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft in die sowjetische Zukunft. Im politischen Seitenwechsel findet der Einzelne neuen Sinn und neue Stärke.
An dieser Stelle wird auch verständlich, warum im britischen Laboratorium des Verrats kaum jemand mit einem Seitenwechsel zu den Faschisten experimentierte, wenn man von den spätpubertierenden Mitford-Schwestern Unity Valkyrie und Diana absieht, die als Oberschicht-Girls germanophil erzogen worden waren, von Wagner träumten und kurzzeitig mit Hitler flirteten. Politisch konnte der Faschismus keine globalen Glücksversprechen machen, sondern allen anderen nur Unterdrückung und Auslöschung prophezeien. Ins Lager der Deutschen liefen nur die wenigen über, die England hassten. Wie etwa jener William Joyce, der aus den USA nach Großbritannien einwanderte, sich dort nicht zurechtfand, sich als «Lord Haw-Haw» während des Weltkriegs mit anti-britischen Propaganda-Sendungen aus Berlin einen fatalen Namen machte und dafür 1946 in England hingerichtet wurde. Aber Joyce war eine mittelmäßige Figur, voller Ressentiments, mit der «falschen» Schulausbildung und dem «falschen» Akzent – «very un-British».
Dass die pro-sowjetischen Verräter der Oberschicht entstammten, hat die britische Öffentlichkeit hart getroffen. Zwar hingen Burgess, Maclean und Philby nach ihrer Flucht in die Sowjetunion immer noch nostalgisch an England und ließen sich sogar ihre ehemaligen Schulschlipse nachschicken, gleichwohl hielt die englische Öffentlichkeit ein Scherbengericht über sie, als ihr das ganze Ausmaß des Verrats bewusst wurde. Die Verfemung traf diejenigen, die nicht geflohen waren. «Der Unberührbare», John Banvilles Schlüsselroman zur Blunt-Affäre, dekodiert die Angstlust des Verrats in ihrer Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Angst vor Entlarvung: «So am Pranger zu stehen, in aller Öffentlichkeit, das ist schon seltsam. Ein Flattern in der Zwerchfellgegend und ein Gefühl, als ob man am ganzen Leibe zittert, als ob sich das Blut schwer wie Quecksilber direkt unter der Haut entlangwälzt. Eine Mischung aus Aufregung und Entsetzen, starker Tobak. Anfangs bin ich nicht darauf gekommen, woran mich dieser Zustand erinnert, dann fiel es mir ein: an meine ersten nächtlichen Streifzüge, nachdem ich mir endlich den Hang zum eigenen Geschlecht eingestanden hatte. Derselbe heiße Schauer von Vorahnung und Angst, dasselbe verzweifelte Grinsen, das sich nicht heraustraut.»
Ein Wechsel des Fußballklubs kann tödlich sein
Die widerwillig zugegebene Attraktion des Verrats prägt auch die Gesellschaft, die von ihm versehrt wird, schockiert und fasziniert sie. Die Verratsliteratur füllt ganze Bibliotheken. Ihre Anziehungskraft rührt auch daher, dass der Verrat vermeintlich gesicherte Loyalitäten in Frage stellt. Der Verratsdiskurs dreht sich immer um gesellschaftliche und politische Selbstvergewisserung, er will erklären, warum diese Erwartung enttäuscht wird. Die faszinierende Angstlust am Loyalitätswechsel hat also zwei Seiten: eine individuelle, die den Verräter betrifft, und eine öffentliche, die den Staat und die Gesellschaft berührt. Erst die Untersuchung dieses Doppel-Aspekts ermöglicht es, die Frage nach der Bedeutung des Verrats zu beantworten.
Was als Verrat wahrgenommen wird, ist von der Mechanik der eigentlichen Verratshandlung relativ unabhängig. Der gesellschaftliche Diskurs greift nicht nur reale Verratsfälle auf, sondern produziert auch selbst ihre «Schwere» und «Bedrohlichkeit». Der Verrat als soziale Konstruktion erscheint losgelöst von den Handlungen des Einzelnen. Politische Herrschaft brandmarkt den Abweichler als Verräter und macht sich dann sein Stigma der Asozialität zunutze, um Gefolgschaft herzustellen. Der staatlich erhobene Vorwurf des Verrats wird zur Instanz gesellschaftlicher Uniformierung.
Diese
Loyalitätsmaschine zieht auch solche in ihr Mahlwerk, die sich in
den Augen der Disziplinarmacht nur «falsch» verhalten haben. Wer
einfach nur das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort
zu
sein, kann dem Verratsvorwurf verfallen und schwebt in
Lebensgefahr. So beging der Fußballer Lutz Eigendorf keine andere
Sünde wider die Gefolgschaftserwartungen seiner Oberen als diese:
Er verließ 1979 den Lieblingsklub Erich Mielkes, den BFC Dynamo
Berlin, und floh in die Bundesrepublik, um hinfort für
Kaiserslautern und Braunschweig zu spielen. Heribert Schwan kann
jetzt nach Auswertung der Gauck-Akten zeigen, dass Eigendorfs
Unfalltod im Jahr 1983 offenbar eine Mord-Aktion der Stasi war. Der
Verrat führt also ein Eigenleben als politische
Phantasie.
Phantasien vom Reich des Bösen
Für das 20. Jahrhundert bilden die Großideologien von Nationalismus, Faschismus und Kommunismus den Rahmen für solche politischen Imaginationen. Ein Hauptmotiv ist die verweltlichte Heilsgewissheit der sozialistischen Utopie und ihr Anspruch, Gegenentwurf zur belasteten bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Dieses Wahrnehmungsmuster liegt auch dem Ost-West-Konflikt in seiner Bipolarität zugrunde und spitzte sich im Kalten Krieg so zu, dass man sich wechselseitig jede gesellschaftliche und politische Legitimation absprach. Beide Systeme pflegten «ihre» Überläufer zu präsentieren, um damit auch den sozialen und politischen Verfall des Gegners bloßzustellen.
So war der Systemkonflikt mehr als ein Machtkampf von Großmächten und Staatenbündnissen. Solche Machtkämpfe hatte es vorher auch gegeben, und immer wurden darin auch Verräter instrumentalisiert. Man denke an die Dreyfus-Affäre vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Gegensatzes und des französischen Antisemitismus. Man denke auch an den Skandal um den österreichischen Oberst Redl, der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs für Russland spionierte. Im Ost-West-Konflikt wurden solche Machtkämpfe zwischen Staaten totalisiert: Sie wurden zu einer Existenzfrage, die die gesamte Bevölkerung und jedes Individuum betraf. «Kapitalismus» und «Kommunismus» wurden die modernen manichäischen Prinzipien: Das Reich des Bösen wurde jeweils in der Zitadelle des Feindes vermutet.
In dieser Bilderwelt erfüllt der Verräter zwei Funktionen. Zum einen überwindet er die antagonistische Trennung: Er erprobt den Übertritt, die Konversion. Als Grenzgänger beweist er die gefährliche Anziehungskraft des jeweils anderen Gesellschaftssystems. Andererseits symbolisiert der Verräter die untergründige Bedrohung durch den Systemgegner. Durch ihn hat dieser mitten im eigenen Lager Fuß gefasst.
In den Großideologien des 20. Jahrhunderts wird das Politische theologisiert: Es bietet umfassenden Sinn an und mobilisiert die Unmittelbarkeit des Glaubens gegen den nagenden Zweifel der prüfenden Vernunft. Deshalb ist der Verratsdiskurs erfüllt von den Geständnissen der Konvertiten, die abschworen und zu fanatischen Gegnern ihrer ehemaligen Kirchen wurden. Die Ex-Kommunisten treibt eine aggressive Enttäuschung angesichts des «Gottes, der keiner war» (Arthur Koestler), dem sie zu lange gedient hatten. Die Zurückgekehrten wie Ignazio Silone, Manès Sperber, Jorge Semprún oder eben Arthur Koestler geißeln nach ihrer Re-Konversion nicht nur den sowjetischen Staatssozialismus, sondern vor allem jene, die sich erst nach ihnen von ihm abwendeten. Vielleicht lassen sich die zahllosen Streitereien im Lager der enttäuschten Ehemaligen als Schuldprojektionen deuten: Ihren eigenen Verrat an der Utopie lasten sie den anderen an. Dass gerade die ominöse Klasse der Intellektuellen für solche Konversionserlebnisse empfänglich war, überrascht nicht. «Denken im Zwiespalt» haben allerdings nur die kühlen Vivisektoren der gesellschaftlichen Verhältnisse gelernt; wer vom Glauben an die Heilsbotschaft beseelt war, der kam oft unter die Räder.
Folgerichtig nimmt es mit ihm meist ein schlimmes Ende in den Spionageromanen, den Fiktionen des sozial-imaginären Verrats. Wenn er nicht ohnehin stirbt, so bezahlt er seinen Übertritt in das «Schwarze Schloss» (John le Carré) des Systemgegners mit Isolation und Vereinsamung. Bei den nach Moskau geflohenen «Oxbridge»-Agenten ist immer wieder nach Anzeichen physischer, psychischer und sozialer Verelendung gesucht worden, meist ohne Erfolg.
Spionageromane ersetzen die Kriegsberichterstattung
Der Verräter verkörpert die unsichtbare Gefahr: Er ist das «Andere», das sich als das «Selbe» tarnt. In ihm spiegelt sich die Eigentümlichkeit des Ost-West-Konflikts, in dem die klare Trennung und das deutliche Feindbild nicht zum offenen militärischen Konflikt trieben. Mit ihren Geschichten von Gewalt und Tod verdeutlichen die Verratsromane diesen unscheinbaren Frontverlauf im Konflikt der Gesellschaftssysteme. Sie ersetzen die Kriegsberichterstattung. In der Grauzone des gebremsten Antagonismus, der nicht kriegerisch ausbricht, behalten nur die Verräter und ihre jeweiligen systemkonformen Gegenspieler, die Spy Catcher, die Übersicht.
Beim Verratsdiskurs geht es im Kern um das Ausmessen und Normieren von Treue und Untreue. Schrecken und Bedrohung werden mythisiert, aber die Bekämpfung des Verrats ist rational. Schon die Verschwörungsobsessionen rund um den Verrat zeigen, dass von einer «Opposition von Mythos und Realität» keine Rede sein kann. In der Vermessungsarbeit der Spy Catcher wird zwar Aufklärung manifest, aber die Arbeit der Agentenjäger kann auch hysterische Formen annehmen, wie der McCarthyismus in den USA und die Verschwörungsobsessionen des Stalinismus belegen.
So forderte der Ankläger der Moskauer Schauprozesse, Andrej Wyschinski, die Verräter «müssen wie räudige Hunde erschossen werden! Unser Volk fordert das eine: Zertretet das verfluchte Otterngezücht!». Dabei hatte das einzige Verbrechen der unschuldig gebrandmarkten treuen Bolschewiken darin bestanden, von Stalin für Machtrivalen gehalten zu werden. Wyschinski klang nicht weniger geifernd und menschenverachtend als der NS-Richter Roland Freisler gegenüber den Attentätern des 20. Juli 1944.
Wo ist der Verrat geblieben?
Solcher Furor kennzeichnet nicht nur totalitäre Systeme. Der Prozess gegen Ethel und Julius Rosenberg setzte 1951 in den USA ähnliche Aggressionen frei, wenngleich – und dies ist der Unterschied zwischen Totalitarismus und demokratischem Rechtsstaat – die Angeklagten nicht gefoltert und ihre Familien nicht verfolgt wurden und der Prozess rechtsstaatlichen Regeln folgte. Die Rosenbergs hatten einen Verwandten, der in Los Alamos arbeitete, zur Spionage angeworben und diese Atomgeheimnisse an die Sowjets weitergegeben. Obwohl die Rosenbergs nicht viel mehr waren als Boten im Kampf der Geheimdienste, galt ihr Vergehen dem US-Richter Irving Kaufman «schlimmer als Mord». Sie wurden hingerichtet. Präsident Eisenhower hatte ein Gnadengesuch abgelehnt.
Und heute? Ist mit dem Ende des ideologischen Zeitalters auch der Verrat zu Ende? Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gibt es keine großen Konversions-Erlebnisse mehr, aber die Mechanik des Verrats, seine gesellschaftliche Konstruktion als Mittel zur Disziplinierung funktioniert ungebrochen. In allen Konfliktzonen, von Nordirland über das Baskenland bis zum Balkan, werden Verräter produziert und verfolgt. Selbst in der befriedeten Bundesrepublik tauchen immer wieder Verratsvorwürfe auf, wie die Parteitage der Grünen zur Kosovo- oder Atompolitik gezeigt haben. Gut erinnerlich ist auch noch, dass einige Sozialdemokraten nach dem Koalitionswechsel der FDP von Schmidt zu Kohl von einem «Verrat in Bonn» sprachen, ohne dass dies für die zukünftigen Bündnis-Überlegungen beider Parteien heute noch eine Rolle spielte.
Der Verrat erscheint heute domestiziert. Er hat seine existenzbedrohende Kraft verloren, er ist banal geworden. Dennoch ist mit seinem Verschwinden aus dem Repertoire der Konstruktionen sozialen Handelns nicht zu rechnen. Der Zusammenhang von Vertrauen und Verrat lädt immer zu politischen Aufladungen ein. Die anthropologische Konstante, vertrauen zu müssen und verraten zu können, kann nicht zerbrochen werden, solange es Menschen gibt, die auf Gesellschaft angewiesen sind, und solange die Welt nicht aus Klonen besteht, denen man die jeweilige Loyalität in die Gene pflanzt.
Thomas Noetzel ist Hochschuldozent für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Zuletzt veröffentlichte er die Studie «Authentizität als politisches Problem».
Zitierte Literatur
John Banville
Der Unberührbare. Roman
Aus dem Englischen von Christa Schuencke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987. 544 S., 49,80 DM
Werner von Bergen / Walter H. Pehle (Hg.)
Denken im Zwiespalt. Über den Verrat von Intellektuellen im
20. Jahrhundert
Fischer TB, Frankfurt a. M. 1996. 143 S., 18,90 DM
Margret Boveri
Der Verrat im 20. Jahrhundert
Rowohlt, Reinbek 1976 (vergriffen)
Uwe Johnson
Skizze eines Verunglückten
Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1981. 74 S., 18,80 DM
Norman Moss
Klaus Fuchs. The Man who Stole the Atom Bomb
Grafton Books, London 1987. 216 S., 12,95 £
Elisabeth Pfister
Unternehmen Romeo. Die Liebeskommandos der
Stasi
Aufbau TB, Berlin 2000. 207 S., 16,90 DM
Karol Sauerland
30 Silberlinge. Denunziation – Gegenwart und
Geschichte
Volk & Welt, Berlin 2000. 381 S., 44 DM
Heribert Schwan
Tod dem Verräter. Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz
Eigendorf
Droemer Knaur, München 2000. 333 S., 16,90 DM
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