
- „Die Täter wollen sich nicht integrieren“
Während die Stadt Winnenden um die Opfer des Amoklaufs vor fünf Jahren trauert, fragen sich Eltern und Lehrer im ganzen Land: Kann sich eine solche Tat wiederholen? Die Psychologin Sarah Neuhäuser hat sich in einer Studie mit Amokdrohungen und Täterprofilen befasst
Frau Neuhäuser, laut Ihrer Studie gibt es an deutschen Schulen jedes Jahr etwa 400 Amokdrohungen. Was veranlasst Minderjährige dazu?
Amokdrohungen haben immer etwas mit Machtausübung und Selbstdarstellung zu tun: Man muss sich so etwas auch erst einmal trauen, also in einer gewissen Weise „Mut“ vor sich und anderen beweisen. Das schafft eine Bühne, plötzlich wird einem zugehört. Sich auf diese Art zu profilieren und Aggressionen zu äußern, ist ein Trend, der in den vergangenen zehn Jahren vor allem von Internetmedien verstärkt wurde.
Gibt es heute also mehr Drohungen als früher?
Ja, die Zahl der Amokandrohungen ist signifikant gestiegen. In den 50er Jahren gab es so etwas so gut wie gar nicht – außer mal einen Fall an einer Universität. Durch das Internet sind die Hemmschwellen heute deutlich gesunken.
Sie beschuldigen das Internet für die Zunahme der Amokdrohungen?
Nein, ich beschuldige nicht das Internet als solches. Das ist eine ganzheitliche Entwicklung in unserer Gesellschaft, die man nicht mehr zurückdrehen kann. Das Netz bietet potenziellen Tätern eine unerschöpfliche Informationsquelle, Zugang zu Gleichgesinnten – und es dient ihnen als anonyme Plattform für Drohungen.
Frau Neuhäuser, Sie sind selbst in einer Lehrerfamilie aufgewachsen. Fürchtete man sich bei Ihnen zu Hause auch vor Amokläufen?
Absolut. In meiner Familie sind fast alle Frauen Lehrer. Ich habe schon als Jugendliche mitbekommen, wie gehäuft darüber gesprochen wurde. In der Schule meiner Schwester in Köln-Mühlheim gab es einmal eine Amokdrohung an der Tafel. Auch in der Klasse meiner Cousine. Die Angst war stets präsent – ein enormer Terrorfaktor.
Nur wenige der Drohungen werden in die Tat umgesetzt – dann aber mit teils verheerenden Folgen: Vor genau fünf Jahren kamen in Winnenden 16 Menschen ums Leben. Können Sie aus Ihren Daten über Amokläufe einen „typischen Täter“ herauslesen?
Bei dieser Frage muss man vorsichtig sein: Es gibt nicht „den“ Tätertyp, eher eine Zusammensetzung mehrerer Eigenschaften. Meist ist der Amokläufer männlich, in einem Jugendalter zwischen 14 und 25 Jahren. In der Schule hat er eher schlechtere Noten, dazu kommen persönliche Zurückgezogenheit, Scheu, Ausgrenzung. Dabei waren sich Mitschüler und Eltern meist einig, dass der Täter nicht von anderen ausgegrenzt wurde, sondern sich selbst nicht integrieren wollte. Da kommen bestimmte Persönlichkeitsstrukturen mit Erfahrungen von Kränkung zusammen – und schließlich der Wunsch, dafür Vergeltung zu üben.
An welchen Schulen gibt es denn die häufigsten Drohungen?
Die Tendenz ist klar: Zuerst an Gymnasien, dann dicht gefolgt von Real- und Hauptschulen. An der Grundschule kommt das so gut wie gar nicht vor, an Universitäten eher selten.
Woran liegt das? Am höheren Leistungsdruck an Gymnasien?
Eine solche Schlussfolgerung zu ziehen, halte ich für eher schwierig. Aber es stimmt schon: Alle Täter, die Schulanschlag durchgezogen haben, hatten signifikant schlechtere Noten als der Durchschnitt ihrer Mitschüler. Niemand war außergewöhnlich gut. Hier spielen Versagensängste zweifelsohne eine Rolle – andererseits gibt es ja auch an Real- und Hauptschulen durchaus einen Leistungsdruck.
Welche weiteren Eigenschaften teilen alle Amokläufer?
Wichtig ist bei allen, dass das soziales Umfeld in der Schule – die Peer Group – als wichtigste Bezugsgruppe wahrgenommen wird. Gar nicht mal so sehr die Eltern: Nur bei knapp der Hälfte der Täter konnten wir ein sogenanntes Broken-Home-Syndrom feststellen, also ein schlechtes Elternhaus.
Sie machen den Eltern also gar keine Vorwürfe?
Wie gesagt, die gefühlte Kränkung kommt in der Regel von den Mitschülern oder von mangelnden Leistungserfolgen. Trotzdem muss man natürlich Fragen an das Elternhaus stellen: Wo waren sie, als es zu kommunizieren, zu warnen galt? Spielt mein Sohn mit Waffen, was bewegt ihn? Sich für all das zu interessieren, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Welche Muster sind bei der Vorbereitung und Umsetzung der Tat zu erkennen?
Am Anfang steht immer die Machtfantasie, der Rückzug in Parallelwelten. Im zweiten Schritt beginnen die konkreten Planungen: Der Täter möchte jemandem schaden – und kündigt das meist konkret an. Dann folgen die Beschaffung der Waffen und die Umsetzung in die Tat.
Ein Amoklauf geschieht also nie im Affekt?
Nein. Deswegen ist „Amoklauf“ eigentlich auch ein falscher Begriff. Er kommt aus dem Malayischen „meng-amok“, das heißt so viel wie: durchdrehen. Das macht der Täter zwar, aber all die Grausamkeiten, die in der Vorbereitung geschehen, werden damit nicht erfasst. Deshalb nennen wir das in unserer Studie auch „Schulanschlag“.
Wie können Lehrer erkennen, wenn Jugendliche so etwas planen?
Sie sollten genau auf Vorzeichen achten, denn wie gesagt, Bestandteil der Planungs-Maschinerie ist, dass davon etwas durchsickert („Leaking“). Alles, was in dieser Phase geäußert wird, sollte daher ernst genommen werden. Lehrer sollten Verdächtiges an das – hoffentlich vorhandene – Krisenpräventionsteam der Schule weiterleiten. Es ist natürlich eine Abwägung: Sollte ich das zunächst mit dem Betroffenen besprechen – und so jemanden möglicherweise umgehend ankreiden – oder bei konkreten Ängsten die Polizei informieren? Die darf dann auch weitere Maßnahmen einleiten wie Gespräche oder Hausdurchsuchung.
Wurde das nach den vergangenen Schulanschlägen beherzigt?
In jedem Fall hat das Thema zurecht eine erhöhte Aufmerksamkeit erhalten. Es ist wichtig, dass Lehrer flächendeckend Leitfäden erhalten und Präventionstrainings angeboten werden. An den Schulen sollte das aber besser nicht konkret thematisiert werden, um Schüler weder zu verängstigen noch Nachahmer zu schaffen. Besser ist, einen allgemeinen Feuer- oder Rammbock-Alarm zu üben, also das Verbarrikadieren im Klassenzimmer. Allerdings ist die ganze Aufmerksamkeit durchaus zwiespältig: Man muss aufpassen, dass man diesem Thema nicht zu viel Medienpräsenz schenkt. Denn auch das könnte Trittbrettfahrer auf den Plan rufen.
Dann ist das Gespräch, das wir hier führen, kontraproduktiv?
Das ist ja nicht zu vergleichen mit täterzentrierter Berichterstattung. Was ich kritisiere, sind Berichte, in denen die Täter allzu reißerisch präsentiert werden und so ein Identifikationspotenzial für andere schaffen. Schulanschläge sind wie Terrorakte mit das empfindlichste Gebiet überhaupt. Täteranalysen sollten deshalb vor allem etwas für die Forschung sein.
Armin Himmelrath, Sarah Neuhäuser: Amokdrohungen und School-Shootings. Vom Phänomen zur praktischen Prävention, hep verlag, 176 Seiten, 19,00 Euro.
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