- Maulkorb für aufsässige Parlamentarier
Das Projekt „Maulkorb“ für renitente Bundestagsabgeordnete ist noch nicht beschlossen und soll „verschoben“ werden. Die beschämende Initiative der Fraktionsspitzen von SPD, CDU/CSU und FDP gehört zur bekannten Krise des Parlamentarismus. Die Piraten wird es freuen
Was für eine bizarre Maulkorb-Initiative der SPD-, Unions- und FDP-Fraktionsherren: Die Freiheit des Bundestagspräsidenten, jenen Abgeordneten das Rederecht zu erteilen, die sich aus dem nirgendwo gesetzlich geregelten „Fraktionszwang“ befreien wollen, soll mittels einer Änderung der Geschäftsordnung des Parlaments beschnitten werden. Dass dies weder der Verfassung, noch der Idee des Parlamentarismus entspricht, ist offenkundig.
Die Verwandlung des Bundestags in eine still dahinschnurrende Fraktionsmaschine, in der das Recht zum Widerspruch reduziert wird auf drei Minuten „persönlicher Stellungnahme“, die Schrumpfung des Parlamentspräsidenten zum Vollzugsorgan der Fraktionsgeschäftsführer – dies alles zeugt von einer seltsamen Unempfindlichkeit der Berliner Fraktionsspitzen angesichts des parteigewordenen Unbehagens am herkömmlichen Parlamentarismus: Die „Piraten“ hätten ein weiteres Wahlkampfthema. Die Grünen und die Linken haben das verstanden. Es geht auch um ihre Wähler. Sie widersprechen dem seltsamen Vorstoß.
Ihren Ursprung hat die Initiative im Widerstand des CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und seines Kollegen Frank Schäffler (FDP) gegen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms. Norbert Lammert, der ihnen Redezeit erteilt hatte, was sein gutes Recht als Präsident ist, zog sich – eine historische Einmaligkeit – eine Rüge des Ältestenrats zu.
Allein Lammert ist es zu verdanken, dass die Volksvertreter im Zuge der Euro-Krise nicht zum stummen Vollzugsorgan einer Exekutive geworden sind, deren Kanzlerin unter dem Banner der „Alternativlosigkeit“ die Budgethoheit des Parlaments aushebeln wollte, weil die weltweiten Aktienbörsen den Takt der Euro-Krise angäben. Lammert ist es auch, der die skandalöse Abwesenheit zahlloser Abgeordneter bei zentralen Auseinandersetzungen der Legislative beklagt.
Wer die jüngsten Haushaltslesungen im Parlamentsfernsehen beobachtete, wer notierte, mit welcher Geschwindigkeit sich die Bänke des Hohen Hauses leerten, nachdem die höheren Geweihträger ihre Reden gehalten hatten, erinnert sich an die endlosen Klagen, die seit Jahrzehnten in den eigenen Reihen des Bundestags erklangen: Keine lebhaften Debatten, keine freien Reden, kein rhetorisch eindrucksvoller Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierungsparteien, keine Anwesenheitspflichten für die Vertreter des Bundesrats, keine offenkundige, nachvollziehbare Willensbildung der Volksvertreter, die den Wählern zeigt, dass das Parlament eigentlich ein Forum der Überredung zum Besseren sein sollte.
Warum die Idee eines Maulkorbs der Demokratie schadet, erfahren Sie im zweiten Teil
Politik ist immer auch Theater, ist ernstes Spiel. Nicht jede Bundestagssitzung ist von weltbewegender Wichtigkeit. Wenn sich aber die Abgeordneten selbst bei Haushaltsdebatten vor Langeweile von der Bühne trollen in ihre Büros, in die umliegenden Restaurants und wer weiß wohin sonst noch, dann schaden sie nicht nur ihrem eigenen Ansehen, sondern dem demokratischen Prozess selbst. Dass die Ausschüsse bis auf wenige Ausnahmen nur an jedem Mittwoch tagen und keineswegs die ganze Woche lang, macht die allfälligen Ausreden „Ausschusssitzung!“ ganz und gar unglaubwürdig.
Die Ursachen für diese seltsamen Usancen sind längst bekannt: Abgeordnete, die nicht über direkte Mandate verfügen, sondern über die Partei-Listen, der camera obscura unseres Parlamentarismus, in den Bundestag gezogen sind, unterliegen nicht wirklich der Beobachtung ihrer Wähler.
Das britische Mehrheitswahlsystem, das einzig den Wahlkreissiegern ein Mandat gewährt, hat dem House of Commons eine Fülle temperamentvoller Parlamentarier beschert, denen der Fraktionszwang ebenso unbekannt ist wie die Vorstellung, vom Blatt zu lesen. Als vor Urzeiten einmal – unter Anführung von Helmut Schmidt und Rainer Barzel – zur Debatte stand, das „englische“ Mehrheitswahlrecht einzuführen (was der FDP den Garaus beschert hätte), scheiterte der Vorstoß am Selbsterhaltungstrieb der „Listen“-Abgeordneten.
Nein, die Idee eines Maulkorbs für aufsässige Parlamentarier ist ein Anschlag auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten. Und dass sie sehr wohl ein Gewissen haben – das festzustellen sollte nicht erst den Verfassungsrichtern in Karlsruhe überlassen werden.
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