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Neujahrsansprachen - Liebe Landsleute, es geht abwärts

Neujahrsansprachen gleichen einander? Das sagt sich so leicht, schreibt Wulf Schmiese in seiner Kolumne

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Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Es sagt sich leicht, Neujahrsansprachen seien alle gleich. Man denke nur an Silvester 1986: Die Kurzform der Tagesschau ist gerade vorbei, es ist 20.05 Uhr, und Bundeskanzler Helmut Kohl beginnt seine Rede ans Volk. Aber was für eine! Die gab es doch schon einmal – 1985. Und niemand scheint es zu merken außer Kohl selbst. Erst um 21.25 Uhr reagiert die ARD. In das laufende Silvesterprogramm wird eingeblendet: „Durch ein Versehen ist die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers heute Abend verwechselt worden.“

Zur Jahreswende 2012/13 kam die Neujahrsüberraschung ausgerechnet aus einem Land mit anderer Zeitrechnung. Nordkoreas Jungdiktator Kim Jong Un hat radikale Reformen angekündigt, und alle Welt rätselt hoffend: Entpuppt sich da ein kleiner Gorbatschow?

Der doppelte Kohl vor 26 Jahren und nun der zwielichtige Kim – solche Neujahrsgrüße zeigen: Wir sollten diese politischen Auftaktreden nicht unterschätzen. Obwohl Angela Merkel auch in ihrer achten Neujahrsrede als Bundeskanzlerin nicht wirklich Schlagzeilen lieferte, sind sogar ihre Worte historisch. Allein schon, weil das Format Tradition hat. Deutschlands Jahreswechselreden lesen sich rückblickend wie das nationale Geschichtsbuch eines Jahrhunderts. [gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]

Vor 90 Jahren begann in Deutschland die öffentliche Rede der Regenten über den Rundfunk ans ganze Volk. Am 25. Dezember 1923 um 20 Uhr zur Eröffnung des Abendprogramms der „Radiostunde AG“ aus dem Voxhaus Berlin knarrte durch den Äther mit Reichskanzler Wilhelm Marx der allererste dieser Neujahrsgrüße. Der Zentrums-Politiker Marx dankte dem Ausland für die Unterstützung der Notleidenden in Deutschland.

„Der Katalog der deutschen Not und Nöte ist unabsehbar. Wollte ich ihn reihen, so würde es eine Kette grauen Elends sein.“ So wurden die Bürger der jungen Bundesrepublik das erste Mal zum Jahreswechsel gegrüßt - von Bundespräsident Theodor Heuss am Silvesterabend 1949. Nur drei Jahre später wünschte Heuss frohgemut – und erstmals auf dem Bildschirm – den Deutschen alles Gute für 1953.

Sein Nachfolger Heinrich Lübke, der ansonsten als grauenhafter Redner in Erinnerung blieb, machte auffallend kluge und hochpolitische Silvesteranmerkungen zur Lage der Nation. Drohte eine Krise, sprach er Klartext: Die „lieben Landsleute“ müssten befürchten, dass es im kommenden Jahr „abwärts“ gehe mit Deutschland wegen der „gespannten finanziellen und wirtschaftlichen Situation“, mahnte der Bundespräsident Silvester 1966.

Lübkes Worte bezogen sich auf das erste wirtschaftliche Krisenjahr der Bundesrepublik. Nach hohen Wachstumsraten von fünf Prozent war die Konjunktur zum Jahresende 1966 derart eingebrochen, dass Kanzler Ludwig Erhard aufgeben musste.

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Die Wirtschaft schrumpfte 1967 um 0,3 Prozent – die erste Rezession der Bundesrepublik. Ein Jahr später folgte die Entwarnung durch den Bundeskanzler: „Diese Bundesregierung, die Regierung der Großen Koalition, hat nun das Gröbste geschafft, das, was unverzüglich getan werden musste, vor allem die Verhinderung eines wirtschaftlichen Abstiegs und die Ordnung der öffentlichen Finanzen.“ So lobte Bundeskanzler Kiesinger in seiner ersten Jahresabschlussrede die eigene Arbeit.

Damals sprachen der Kanzler noch zu Weihnachten und der Präsident zu Neujahr. Erst seit 1970 ist der Bundeskanzler für den politischen Rück- und Ausblick zuständig. Willy Brandt und Gustav Heinemann hatten die Sendeplätze einfach getauscht.

Krisen-Klartext gab es erst wieder zum Jahresende 1975 - von Kanzler Helmut Schmidt. Hatte das Wachstum 1973 noch bei fünf Prozent gelegen, war es wegen der Ölkrise 1974 auf 0,9 Prozent gefallen. 1975 schrumpfte die deutsche Wirtschaft; und zwar um fast ein Prozent – die zweite Rezession. „Wir haben Probleme“, sagte Schmidt zu Silvester 1975. Doch 1981 schimpfte er in seiner letzten Neujahrsrede auf die „Schwarzmaler im eigenen Lande“ und sagte trotzig, „dass wir wirtschaftlich nicht so schlecht sind, wie wir glauben“. Gleichwohl steckte die Bundesrepublik in ihrer dritten Rezession.[gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]

1993, nachdem der Einheitsboom sich zur nächsten Rezession gewandelt hatte, klagte Kohl zum Jahresende: „Wir haben die weltweite Konjunkturflaute voll zu spüren bekommen.“

Weitere zehn Jahre später stand Kanzler Gerhard Schröder vor ganz ähnlichen Problemen. Die New-Economy-Blase war geplatzt und das Land in seiner fünften Rezession. „Wir haben darauf reagiert, dass die Globalisierung auch unsere Wirtschaft immer stärker beeinflusst“, rechtfertigte Schröder seine Agenda 2010. „Eigenverantwortung ist das Codewort“, sagte er und wünschte „Vertrauen und Zuversicht“ für das neue Jahr, in dem sein Niedergang begann.

Die Staatsmänner gaben selten eine Vorausschau auf Krisen. Wie einst Lübke wagte das allerdings Angela Merkel. In ihrer jüngsten Silvesteransprache hält sie die Krise noch nicht für überwunden. Kühn ist das nicht, wie schon Kanzler Erhard wusste: „Wenn es besser kommt als vorausgesagt, dann verzeiht man sogar dem falschen Propheten.“

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