- Abschied von Machiavelli
Früher galt in der Politik nach der Wahl das Motto: Grausamkeiten sofort, Wohltaten später. Doch die klassische Regel der Machtpolitik gilt nicht mehr, weil der Wähler nicht mehr mitspielt.
Drei Monate. Drei Monate hat es gedauert, bis Deutschland nach der Bundestagswahl nun endlich eine neue Regierung bekommt. Drei Monate hat die SPD die Republik mit ihrem quälenden Selbstfindungsprozess unterhalten. Die CDU schaute geduldig zu. Am Ende, nach Miniergebnis, Mindestlohn und Mitgliederbefragung, setzte doch die CDU das letzte überraschende Signal der Regierungsbildung: Ursula von der Leyen wird Verteidigungsministerin.
Die Chauvis in der CDU feilen bereits an ihren Männerwitzen, die Konservativen empören sich über die Nicht-Gediente an der Spitze der Truppe. Trotzdem ist die Berufung von Ursula von der Leyen zur Verteidigungsministerin vor allem ein doppeltes christdemokratisches Signal. Erstens stehen für Frauen nicht nur in Aufsichtsräten, sondern auch in anderen Männerbastionen zukünftig die Türen weit offen. Und zweitens muss die Republik mit dieser Frau noch rechnen.
Unterschiedlicher hätten die Akzente somit nicht sein können, die CDU, CSU und SPD zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen setzten. Die Programmpartei SPD feiert das „Ja“ der Basis, in der CSU geht es weiter zu wie am Fürstenhof, der Kanzlerinnenwahlverein CDU setzt auf eine spektakuläre Personalentscheidung. Das politische Muster, das schon den Wahlkampf bestimmt hat, prägte nun auch die Regierungsbildung. Die SPD müht sich um Inhalte, die CDU profiliert sich mit Köpfen.
Kohl war ein Machiavellist alter Schule: durchtrieben und skrupellos
Wenn es darüber hinaus einen politischen Trend gibt, der CDU und SPD zu Beginn der Regierungsbildung verbindet, dann ist es die Abkehr von klassischen machiavellistischen Tugenden. Lange Zeit galt in der Politik das Motto, politische Grausamkeiten müssen sofort erledigt werden, unpopuläre Entscheidungen zwischen Machtpolitik und Staatsräson sollten am Beginn der Legislaturperiode stehen. Anschließend war dann genug Zeit, die Wähler mit gefälliger Politik und erfolgreichen Wirtschaftsdaten wieder zu besänftigen.
Kohl war ein Machiavellist alter Schule, er war durchtrieben und skrupellos, errichtete in der CDU ein perfektes System der Abhängigkeiten und Begünstigungen. Der Zweck heiligte die Mittel. Illegale Parteienfinanzierung inklusive. Kohl scherte sich nicht um sein Geschwätz von gestern, um seine Wahlversprechen. Dass er beispielsweise die Wiedervereinigung ohne Steuererhöhungen „aus der Portokasse“ finanzieren wollte, hatte Kohl bereits acht Wochen nach der Bundestagswahl 1990 vergessen. Ihm schadete nicht einmal die Schlagzeile „Der Umfaller“ auf dem Titel der Bild-Zeitung.
Auf seine Art war Gerhard Schröder dann der letzte Machtpolitiker alter Schule im Kanzleramt. Der Sozialdemokrat zog 1998 in den Kosovokrieg und profilierte sich 2002 im Wahlkampf trotzdem erfolgreich als Friedenskanzler und Gegner des Irak-Krieges. Seine Basta-Politik war umstritten, aber erfolgreich, bis er am Ende angesichts einer rebellierenden SPD-Basis die Nerven verlor und sich in vorgezogene Neuwahlen flüchtete. Helmut Schmidt wäre das vor drei Jahrzehnten nicht passiert. Peer Steinbrück hingegen, der in diesem Jahr gerne in die Fußstapfen von Schmidt und Schröder getreten wäre, kam beim Wähler nicht mehr an.
Die klassische Regel der Machtpolitik taugt nicht mehr. Machtpolitiker alter Schule haben es mittlerweile schwer. Die Parteien haben verstanden. Seit die traditionellen Parteienbindungen erodiert sind und eine wachsende Zahl von Wechselwählern den Wahlausgang entscheidet, nimmt der Wähler vor allem unmittelbar nach der Wahl gerne und nachhaltig Übel. Nach dem Besuch in der Wahlkabine wollen die Wähler das Gefühl haben, dass sie richtig gewählt haben, die Wahlversprechen haben sie schließlich noch in guter Erinnerung. Bereits unmittelbar nach der Wahl können die Parteien deshalb entscheidende Fehler machen. Machiavelli hat ausgedient.
Die FDP zum Beispiel hat sich in der vergangenen Legislaturperiode nie von der Steuersenkung für Hoteliers erholt. Der Ruf der Liberalen war ruiniert, Westerwelles Gerede von der spätrömischen Dekadenz tat dann ein Übriges. Der Parteivorsitzende wurde zum Rücktritt gedrängt. Die FDP fiel in der Wählergunst erstmals unter die Fünf-Prozent-Hürde. Das Image der kalten und käuflichen Klientelpartei ohne Empathie klebte nachhaltig an den Liberalen und endete am 22. September mit dem tiefen Fall in die außerparlamentarische Opposition.
Schröders Basta-Politik beerdigt
Die Sozialdemokraten hatten in der Legislaturperiode zuvor eine ähnliche Erfahrung gemacht. Im Jahr 2003 stimmte die SPD in der Großen Koalition der Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte zu, obwohl sie eine solche im Wahlkampf noch vehement bekämpft hatte. Hinzu kam die Rente mit 67. Binnen weniger Monate stürzte die SPD in der Wählergunst um zehn Prozentpunkte ab. Sie konnte das Vertrauen vier Jahre lang nicht mehr zurückgewinnen. Am Ende blieben 2009 für die SPD 23 Prozent und auch 2013 war das Ergebnis nicht viel besser.
Sigmar Gabriel hat daraus die Konsequenzen gezogen. Der SPD-Vorsitzende hat Schröders Basta-Politik beerdigt und die Basis in die Koalitionsverhandlungen eingebunden. Drei Monate lang konnte die ganze Nation mitverfolgen, wie die Sozialdemokraten um ihre politischen Akzente in der Großen Koalition rangen. Drei Monate lang demonstrierte die SPD, dass ihr Wahlversprechen heilig sind. Von politischen Grausamkeiten war keine Rede mehr.
Die CDU hatte im Wahlkampf nicht besonders viel versprochen und sie konnte deshalb dem Ringen der SPD um Inhalte ziemlich gelassen zusehen. Die CDU musste nur darauf achten, dass sie nicht ihr entscheidendes Kapital verspielt: das Vertrauen der Wähler in Angela Merkel. Das ist ihr ganz ohne Machtworte gelungen. Und weil die CDU glaubt, bei der Sicherung der Macht auch in den nächsten Jahren ohne Machiavelli auskommen zu können, gibt es am Ende der Regierungsbildung neben Sigmar Gabriel und Angela Merkel noch eine dritte Gewinnerin: Ursula von der Leyen.
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