- Alles Retro-Politik
Union und SPD haben sich geeinigt, wenn nun auch die SPD-Basis „ja“ sagt, kommt die Große Koalition. Aber eine Zukunftsagenda hat sie nicht
Am Ende geht es immer nur mit Schlafentzug. Wenn neue Regierungen geboren werden, dann wachen die Beteiligten vorher gemeinsam eine Nacht im Kreißsaal durch. Und wenn es schon Morgen wird, dann einigen sie sich wie in Trance auch in den letzten Streitpunkten. Die gute Nachricht an diesem Mittwochmorgen heißt deshalb: Deutschland hat wieder eine Regierung, die dritte Große Koalition, die zweite unter Angela Merkels Führung. Nur bei der SPD gibt es noch einen Vorbehalt, die Mehrheit von Sigmar Gabriels Parteifreunden muss dieser Großen Koalition noch ihren Segen geben.
Große Koalition ohne Plan und Ziel
Die schlechte Nachricht: Diese Große Koalition hat keinen Plan, kein gemeinsames Ziel, keine einende Idee. Union und SPD, genauer: CDU, CSU und SPD haben Weihnachten vorweggenommen und sich wechselseitig Wünsche erfüllt. Nicht alle. Aber doch die meisten. Diese Vorgehensweise beschert der CSU ihre PKW-Maut für Ausländer und das Betreuungsgeld, der SPD ihren Mindestlohn, die doppelte Staatsbürgerschaft und die Rente mit 63.
Was die CDU herausgeholt hat, wird nicht so klar, aber es war ja auch schon im Wahlkampf nicht erkennbar, was Angela Merkel will. Eher erkennbar war, was sie nicht will. Deshalb gibt es jetzt keine Steuererhöhungen und keine vollständige Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Im Wahlkampf hat die CDU den Grünen erfolgreich das Etikett der „Dagegen-Partei“ angepappt. Die eigentliche Dagegen-Partei ist sie selbst.
Nach der langen Nacht treten die Verhandler nun vor ihre Anhänger und wedeln mit ihren Trophäen. Leider haben sich mindestens zwei der drei Verhandlungspartner den Satz von Sigmar Gabriel zu eigen gemacht, wonach es nicht mehr erst um das Land und dann um die Partei ginge, sondern umgekehrt: zuerst um die Partei und dann um das Land.
Ein fürchterlicher Satz, ein fürchterlicher Ansatz, der ein völlig falsches Vorgehen begründet. Eine Regierungskoalition ist schließlich nicht dafür da, Klientelbeglückung zu betreiben, sondern sie muss das ganze Land nach vorne zu bringen. Und davon ist nach wochenlangen Verhandlungen der angehenden Koalitionäre nichts zu erkennen.
Mit der Großen Koalition sieht Deutschland alt aus
Es ist ein Armutszeugnis, dass die Kanzlerin es nicht schafft, ihrer dritten Amtszeit über die Partikularinteressen der beiden Cheflobbyisten Horst Seehofer und Sigmar Gabriel hinweg eine überwölbende Idee zu geben, ein vorrangiges Ziel. Eine Agenda. Eine Investitionsoffensive, eine Bildungsoffensive. Deutschland hat doch nicht in erster Linie ein Sozialstaatsproblem. Deutschland hat in erster Linie ein Infrastrukturproblem. Es wurde zu lange von der Substanz gelebt, die Subtanz hat darunter gelitten. Schienen, Straßen, Schulen sind vergammelt. Das Breitbandnetz Deutschlands kann nicht mithalten mit dem anderer Staaten. Hierfür müssten zuerst Mittel in die Hand genommen werden und nicht für Mütterrenten und Betreuungsgeld. Der Koalitionsvertrag steckt voller Retro-Politik, in die Zukunft blickt er nicht - auch wenn er den Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“ trägt. Mit der Regierung, die jetzt kommt, sieht Deutschland alt aus.
Zu Beginn ihrer dritten Amtszeit wird nun deutlicher denn je: Angela Merkel regiert nicht. Sie verwaltet. Sie gleicht Interessen aus. Sie moderiert. Aber sie selber will nichts. Jedenfalls ist nichts zu erkennen.
Diese zweite Große Koalition unter Merkels Führung wird allerdings anders verlaufen als die erste. Die erste hat zwischen 2005 und 2009 der Kitt der Alternativlosigkeit zusammengehalten. Das ist jetzt anders. Beide Seiten können auch anders. Die Union ist offen für Schwarz-Grün, die SPD hat sich der Option Rot-Rot-Grün geöffnet. Das macht dieses Bündnis dieses Mal viel fragiler als das letzte Mal.
Und noch etwas wird anders sein: Wenn Sigmar Gabriel das Mitgliedervotum der SPD übersteht, geht sein Stern erst richtig auf. Der von Angela Merkel aber geht langsam unter.
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