- Ein Visiönchen namens Steinbrück
Altkanzler Helmut Schmidt bringt Peer Steinbrück in Stellung – Kanzlerkandidatenstellung. Doch der Vorstoß ist verfrüht und in seiner medialen Dimension überinszeniert
„Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen“, lautete ein typischer Satz Helmut Schmidts. In ihm spiegelt sich das Schmidtsche Politikverständnis, das sich – in der Tradition Max Webers – am Ist-Zustand ausrichtet und weniger danach, was wünschenswert erscheint. Es ist ein humoriges Plädoyer für Pragmatismus und rationales Handeln in der politischen Praxis. Es siegt der Realist über den Visionär. Ein typischer Schmidt also.
Doch auf seine alten Tage trägt der utopiebefreite Altkanzler dann doch eine in die Zukunft gerichtete politische Idee mit sich. Zugegeben keine ausgewachsene Vision, aber zumindest ein Visiönchen. Eines, das auf den Namen Peer Steinbrück hört. [gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern]
Vor gut einer Woche machte er die Kanzlerambitionen Peer Steinbrücks offiziell. Im Ersten Deutschen Fernsehen – Bei Günther Jauch – begannen die „Steinbrück-Festspiele“ (FAS). Im blauen Dunstkreis wurde Peer Steinbrück von Deutschlands Überkanzler in das Rennen um die Kanzlerkandidaten-Kandidatur geschickt. Es folgte ein sechsseitiges Spiegel-Interview unter der Überschrift „Er kann es“. Auch Die Zeit befeuerte die Two-men-show und legte mit einem Schmidt-Steinbrück-Titel nach. Der CICERO setzte bereits im Mai unter dem Titel „Wer, wenn nicht Peer?“ die Kanzlerkandidatenfrage auf die politische Agenda. Die Steinbrück-Kanzlerkandidaten-Maschine läuft seither auf höchster Stufe.
Dabei war Schmidt stets bemüht zu betonen, wie fern es ihm läge, sich in Tagespolitik und innere Angelegenheiten der SPD einzumischen. Er sagt das auch jetzt, um gleichwohl in einer ihm eigenen Unangreifbarkeit und Selbstverständlichkeit das Gegenteil zu machen.
5,6 Millionen Menschen schauten sich die Inthronisierung Steinbrücks am heimischen Bildschirm an. Das sind gut eine Millionen Zuschauer mehr als beim Auftritt der Bundeskanzlerin eine Woche zuvor. Das Interesse an Helmut Schmidt ist nach wie vor so groß, wie es erstaunlich ist. Doch erklärbar ist es allemal.
Schmidt bedient deutsche Sehnsüchte nach einem überparteilichen Problemlöser, der mit väterlicher Autorität und analytischer Schärfe eine an Komplexität gewinnende Welt erklärt. Er ist ein von Amt und politischer Alltagsrhetorik Befreiter, der in großen Pinselstrichen die politische Situation zu erklären vermag und dies souverän und glaubwürdig vorzutragen weiß. Das kommt gut an.
Und in der derzeitigen Krise hört man ihnen zweimal zu. Den Genschers, Biedenkopfs und Vogels und vor allem dem Schmidt. Es sind diese von Amt und Verantwortung befreiten Postpolitiker, denen in den überfloskelierten Politrunden aufmerksam, fast ehrfürchtig zugehört wird. Es sind die letzten großen Profilpolitiker unserer Tage, die mit ihrem beherzten Auftreten vergessen machen, dass sich die volle Blüte ihres heutigen Glanzes erst so richtig in der Nachbetrachtung entfaltete.
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Auch bei Steinbrück ist das so. Sein Vorteil: Er kann bereits aus dem politischen Tagesgeschäft heraus den Altklugen spielen. Kein politisches Amt hindert ihn daran. Er kokettiert mit eben einer solchen Distanz zur politischen Klasse. Er ist nah genug dran, um im Gespräch zu bleiben und weit genug entfernt, um nicht unmittelbar in Haftung für sozialdemokratische Politik genommen zu werden. Ein gefährliches Doppelspiel. Denn: Dass er kein offizielles Amt in Partei und Fraktion bekleidet, lässt ihn zwar unabhängiger erscheinen. Doch genauso, wie es ihm jetzt hilft, könnte es ihm später schaden. Spätestens, wenn es in einem Jahr wirklich um einen Kandidaten geht, ist er von den parteipolitischen Mechanismen, denen er sich im Moment ein wenig zu entziehen versucht, abhängig.
Bis es soweit ist, führt Steinbrück die Beliebtheitsskalen an. Bis dahin überwiegt all das, was ihn vom Tagespolitiker unterscheidet und was er mit Helmut Schmidt gemeinsam hat. Beiden traut man Ausnahmezustandsbewältigung zu; beide gelten als Männer für das große Ganze. In der Krise werden Kanzler gemacht. Was für Schmidt die Sturmflut, als er in Hamburg als Innensenator seine Krisentauglichkeit unter Beweis stellte, könnte für Steinbrück die Wirtschaftskrise heute sein.
Hält die Krise an, hat Steinbrück gute Chancen. Dasselbe gilt für den Fall, dass es vor Ablauf der Legislatur Neuwahlen geben sollte. Doch die sind eher unwahrscheinlich.
Denn Merkels Regierungschaos ist zumindest eines: stabil. Das zeigen auch die jüngsten Abstimmungen im Bundestag. Zweimal hatte sie in schwierigen Fragen die Kanzlermehrheit hinter sich. So chaotisch die Koalition ist, so politisch stabil ist sie. Das liegt vor allem daran, dass, sobald es um das Fortbestehen der Regierung geht, sich rechtzeitig alle schwarzen (und gelben) Schafe hinter der Kanzlerin versammeln. Kaum jemand, vor allem die FDP nicht, hat momentan ein Interesse an Neuwahlen. Denn diese wären gleichbedeutend mit dem Verlust der politischen Existenz.
Insofern kommt die Kanzleroffensive Steinbrücks ein Jahr zu früh. Gewählter Zeitpunkt – und die Art und Weise, wie Schmidt Steinbrück in Stellung bringt – provozieren dann auch Kritik in den eigenen Reihen. Dass sich Steinbrück an den Parteigremien vorbei derart medial in Kanzlerkandidatenstellung bring, stößt vielen in der SPD bitter auf. „Der Kanzlerkandidat der SPD wird nicht in einer Talkshow bestimmt, sondern durch die Partei“, mahnte der niedersächsische SPD-Landesvorsitzende Olaf Lies. Michael Müller, Vorsitzender des Berliner Landesverbandes, erklärte, Steinbrücks Auftreten werde in der Partei als „überinszeniert“ empfunden. Er warnte vor einem „Bumerang“.
Ob Überinszenierung oder Bumerang – Schmidt kann‘s egal sein. In einem Jahr wird er hoffentlich noch immer vor einem Millionenpublikum Zigarette rauchen und Tabak schnupfen. Ob er dies allerdings dann mit einem offiziellen Kanzlerkandidaten namens Peer Steinbrück macht, ist so offen, wie es sicher ist, dass die Diskussionen um mögliche Kanzlerkandidaten erst jetzt so richtig beginnen.
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