- Der Trümmermann
Auf dem Parteitag wurde Sigmar Gabriel erneut zum Parteivorsitzenden der SPD gewählt. Er hat der Partei vor allem Selbstbewusstsein eingeimpft. Doch noch immer haftet ihm ein Hauch von Heimat-, Ort-, Rastlosigkeit an. Gabriel ist da- und doch noch nicht ganz angekommen
Die Troika ist der Trumpf, Sigmar Gabriel ahnt oder weiß es. Ziemlich genervt würde er also normalerweise zurückblaffen, wenn versucht wird, daran zu rütteln. Zuerst erteilte Helmut Schmidt Peer Steinbrück per Spiegel („Er kann es“) seinen Segen. Das ließ dieser sich gerne gefallen, auch wenn er abmoderierte, die Frage bereite der Republik heute „keine schlaflosen Nächte“. Dann aber drängte Gerhard Schröder, und das ausgerechnet vor dem Berliner Parteitag, auf eine „rasche Entscheidung“. Das Argument, ein Kandidat würde auf so langer Strecke kaputt gemacht, ließ er nicht gelten. Wer das nicht überstehe, schob der alte Fuchs nach, ohne Namen zu nennen, sei kein guter Kandidat.
Alles „hoch ehrenwerte“ Ratschläge, muffelte Gabriel zurück, beim Fahrplan aber bleibe es. Anfang 2012 werde die SPD über ihren Kanzlerkandidaten entscheiden. Eine Proklamation jetzt würde nicht nur die Troika – Gabriel, Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier – auflösen, die sich gleichsam von alleine zusammengerüttelt hat, sondern ihm selbst auch die Regie entwinden. Wenn er selbst als Parteivorsitzender keinen Anspruch anmeldet, so muss er wenigstens ein Wort mitreden können. So weit ist das nachzuvollziehen.
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Nüchtern genug beurteilt er obendrein die Lage seiner Partei: Leidlich erholt habe sich die SPD, mehr sogar, als er bei seiner Wahl an die Parteispitze zu träumen gewagt hätte, wie er einräumt. Aber im Gespräch fügt er gleich hinzu, die 23 Prozent bei der Bundestagswahl steckten ihm „noch ziemlich in den Knochen“.
Erholt ist sie einigermaßen mit rund 30 Prozent bei den Umfragen, ein bisschen – nicht wahnsinnig viel – Parteireform traut sie sich tatsächlich zu. Von einem großen Comeback der Volkspartei SPD aber spricht er noch lange nicht. Noch vor kurzem sah es zumindest so aus, als könnten die Grünen sie überholen, wenn sie bloß einen „Kretschmann für Berlin“ fänden. Zum relativen „Hoch“ habe auch die Schwäche der Regierung viel beigetragen, warnt er Übermütige. Immerhin: Einen ordentlichen Beitrag zur Stabilisierung bescheinigen ihm inzwischen auch diejenigen, die seine Wahl im Oktober 2009 an die Spitze der demoralisierten „Volkspartei“ misstrauisch begleiteten. Mehr noch: Erfolgreich hat er einiges vom eigenen Image korrigiert, gar zu sehr in taktischen Winkelzügen zu denken und das Machtinteressen-Ego irgendwie nicht zügeln zu können. Dieser Gabriel I, hieß es, konterkariere nur zu oft den Gabriel II.
Geblieben ist Gabriel natürlich die Unruhe in Person. Aus seiner Haut heraus kann er nicht, auch nicht als „Vorsitzender“, ein Amt, das er sichtlich ganz ernst nimmt. Seit man ihn auf der Bühne erlebte, zuerst als jungen, von Schröder handverlesenen Ministerpräsidenten in Hannover, der sang- und klanglos verlor, dann als Umweltminister in der Großen Koalition, der sich erstaunlich rasch kompetent machte und bald als lernfähiges System galt – seitdem also gewann er neu Kontur, man hörte ihm zunehmend zu, er produzierte nicht nur Ideen, er suchte auch Kontinuitäten. Und trotzdem: Ein Hauch von heimatlos, ortlos, rastlos war immer zu spüren, und das sind Assoziationen, die sich auch weiterhin einstellen. Dieser Gabriel ist da – und doch nicht ganz angekommen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Gabriel meint, wenn er sich eine "atmende Partei" wünscht.
Aber die Lehrzeit im Amt hat er, erstens, nun hinter sich, und zweitens steht derzeit Europa zur Disposition, nicht die Seele. Auf die Befindlichkeiten von Sigmar Gabriel, heißt das, kommt es nicht so sehr an. Dass er kein Willy Brandt ist, wusste man und hat er selber gesagt. Brandt als Messlatte – das wäre aber auch deshalb unfair, weil die Verhältnisse sich grundsätzlich gewandelt haben: Wer heute „auf den Zinnen der Partei“ steht, um es in Brandts pathetischen Worten zu sagen, blickt auf eine vollkommen unübersichtliche Welt.
Brandt war nicht nur „hineingeboren in die SPD“ als Lübecker Arbeiterkind, wie er selber sagte, er war auch der letzte Vertreter einer internationalen Arbeiterbewegung, und dieses Milieu gab Halt und Rahmen. Undenkbar weit ist das weggerückt. Neun Parteivorsitzende seit 1987 später muss Sigmar Gabriel selber suchen, ob er Boden unter die Füße bekommt; er bewegt sich nicht in einem sozialen Milieu, das den Rahmen abgibt. Wie schwer das ist, konnte man besichtigen: Engholm, Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck – in atemberaubend kurzen Abfolgen stellten sich die Burn-outs ein, einer heftiger als der andere.
Über „Autorität“ reden wir noch. Aber allein daran gemessen, ist Gabriel weit gekommen. Er wackelte nicht als Vorsitzender, wurde sang- und klanglos wiedergewählt, den Platz machte ihm auch niemand streitig. Mit Steinmeier und neuerdings auch Steinbrück koordiniert er sich. Manchmal klingt er politischer als die beiden, Steinmeier bleibt ohnehin der umsichtige Tretminenentschärfer, und Steinbrück klingt forscher als er ist – wie einst Helmut Schmidt. Angetreten ist Gabriel als Trümmermann: Eine „atmende Partei“ wünschte er sich, die wieder neugierig auf das Leben sei. Die Diagnose klingt plausibel. Aber wie kommt man dahin? Man zaubert aus der 150-Jahre-Partei nicht über Nacht „Piraten“, selbst wenn man sich einen Schuss davon wünschte. Oder, noch lieber, von „Occupy“.
Durchlüften ist eine Sache, schwer genug, wie sich zeigt. Als noch komplizierter allerdings erweist sich die inhaltliche Trümmerbeseitigung und das Neuaufbauen. Die Schwierigkeiten beginnen schon mit einem ganz prinzipiellen Befund, dass nämlich die Rolle der Politik selbst infrage steht. Das beispielsweise war zu Brandts, Schmidts und Wehners Zeiten vollkommen anders. „Ohnmachtsgefühle“ seien heute „der größte Gegner der SPD“, urteilt Gabriel. Der Ruf nach mehr Staat sei zwar wieder lauter geworden, zumal in der Finanzmarktkrise, aber die Politik entdecke, dass sie kaum Hebel in der Hand hält.
Seit 2008 steckt der „Kapitalismus“ in der Krise, das Wirtschaftssystem selbst ist aus dem Lot geraten. Gemeinhin würde man sagen, das seien Hoch-Zeiten für Europas Sozialdemokraten, mithin auch für die SPD. Aber gefehlt: Mitte-Links befindet sich erst recht in der Defensive, nahezu in ganz Europa. Zufällig, weil die Sozialdemokraten halt gerade praktisch überall dran waren und überall abgewählt wurden?
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Gabriel diese Paradoxie erklärt und warum er es für möglich hält, dass Politik noch regulieren kann.
Wenn Gabriel diese Paradoxie erklärt, klingt es anders – und es klingt einleuchtend. Die Sozialdemokraten, findet er, haben entscheidend selbst dazu beigetragen, sich den neoliberalen Zeiten zu öffnen. Kein Interview vergeht, in dem er nicht schonungslos einräumt, alle sozialdemokratischen Parteien seien mitverantwortlich für den „neoliberalen Mainstream“. Zwar sei die Epoche des Marktradikalismus zu Ende, die Liberalen kämen nicht zuletzt deshalb auf keinen grünen Zweig, und die Konservativen versuchten – siehe Mindestlohn, siehe Finanztransaktionssteuer – sich sozialdemokratisch zu drapieren, als wäre es das Natürlichste der Welt. Man kann ihn aber auch anders verstehen: Die Sozialdemokraten leiden darunter, dass sie sich am Neoliberalismus infizierten.
Auch er, Gabriel weiß es, scherte seinerzeit aus dem Mainstream-Konsens mit Steinbrück und Steinmeier keineswegs aus. Aber was Selbstkritik betrifft, geht Gabriel weiter, spürbar weiter jedenfalls als die beiden anderen aus der Troika. Mit der Vorgeschichte hängt es zusammen, wenn er gelegentlich ärgerlich reagiert auf tief pessimistische Urteile wie: Der Kampf um die strengere Regulierung der Märkte sei aussichtslos, erfahrungsgemäß hinkten die „Regulierer“ den zu Regulierenden stets hinterher. So beispielsweise schätzt Wolfgang Streeck, Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, die wahren Kräfteverhältnisse ein. Der Satz lässt sich gut belegen.
„Alles falsch!“, braust Gabriel dann gerne auf. Viele derjenigen, die ihnen einst die große Deregulierung empfohlen hätten, herrschte er jüngst den Politikwissenschaftler Herfried Münkler an, verurteilten heute die Politik als handlungsunfähig. 20 Jahre lang habe er sich den Quatsch von Wissenschaftlern angehört. Natürlich kann die Politik regulieren! Eurobonds hätte man schon vor weit über einem Jahr einführen können! Möglich wäre auch die Finanzmarkttransaktionssteuer gewesen! Gabriel: Das ist alles eine „Frage des Wollens“, nicht des Könnens!
Genauso wenig mag er die These von der „Postdemokratie“ hören, die der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch populär machte. Politik erschöpft sich danach oft in „Inszenierungen“, während Entscheidungen ausgelagert würden zu Großunternehmen und Lobbygruppen. Gabriel: Falsch, falsch! Ausdrücklich sage er nicht, es gehe darum, den „Kapitalismus abzuschaffen“, auch wenn sich das gut und modern anhöre. Die neue soziale Frage heiße „Demokratie oder Finanzherrschaft“. Kein Wort ist ihm dafür zu groß. Das Ende einer Epoche erlebten wir, sagt er dann. Aber den Einstieg in die Uraltdebatte, Sozialisten gegen Kapitalisten, den sucht er eindeutig nicht.
Lesen Sie auf der nächsten Seite über den Grundkonsens der Troika.
Worin aber, möchte man dann fragen, unterscheidet sich sein Befund wirklich von dem Colin Crouchs – beispielsweise, die Politik sei entleert, oder dem Urteil, die Deregulierer säßen erfahrungsgemäß immer am längeren Hebel? Das „Ohnmachtsgefühl“, das hat er ja selbst gesagt, sei der größte Gegner für seine Partei. Dass er dagegen anredet, ist verständlich. Aus der Welt ist es damit noch nicht. Bestärkt allerdings kann der Mann bei der Trümmerarbeit sich dadurch fühlen, dass die andere Volkspartei, die Christdemokraten, reihum fast nur Politik entdeckt, die sozialdemokratischen Ursprungs ist; oder von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der so tollkühne Sätze wie diesen formuliert: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“
Verantwortungsbewusst entscheiden, ohne formell eine Große Koalition anzupeilen – das ist der Grundkonsens in der Troika, und den trägt Gabriel konsequent mit. In der Praxis fällt es allerdings schwer, weiterhin für ein Europa zu plädieren, in dem immer größere Rettungsschirme ausgebreitet werden müssen. Seit zwei Jahren, sagt er, versuche er seine Kollegen in Europa zu überzeugen, intensiver und konkreter zu kooperieren. Aber der Zeitgeist heißt „Renationalisierung“, und wo die Linke in der Opposition ist, rückt ihr Europa nur zu häufig weit weg.
„Hoffnungsüberschuss“ brauche seine Partei. Und den möchte er ihr geben. Das sagt er nicht so, aber er meint es und landet dann ungewollt doch wieder bei Brandt.
Wie eng der Manövrierraum auch zu Hause abgesteckt ist, das hat er erfahren in der Debatte um Thilo Sarrazin. Ein Fiasko bedeutete das für ihn, wenn man ihn richtig versteht. Dass eine solche Eugenikdebatte überhaupt losgetreten werden konnte! Über nichts anderes hat er sich derart geschämt wie über diese historisch-moralische Bedenkenlosigkeit, sagt er. Man hört zu und denkt: Doch, er ist angekommen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite von großen und grundsätzlichen Fragen.
Sehr groß und sehr grundsätzlich werden die Fragen allerdings oft, mit denen er und seine Partei konfrontiert sind. Immer geht es gleich ums Ganze. Um Europa, Sein oder Nichtsein, um den „richtigen“ Kapitalismus oder eine realistische Alternative. Die Krise ist für jeden zu groß, so viel „Autorität“ bringt keiner allein auf die Waage, auch wenn die Blicke häufig auf „Krisenlöser“ gerichtet sind.
Die Occupy-Bewegung, haben zwei britische Professoren – Autoren eines Buches über den Jahrhundertökonomen John Maynard Keynes – kürzlich geschrieben, werde zwar kritisiert, weil sie keine „alternativen Visionen“ entwickle. Aber es seien doch die Ökonomen selbst, die das verlernt oder aufgegeben hätten. Im Kalten Krieg hätten sie noch beweisen wollen, was besser funktioniert; jetzt gelte die Ökonomie als Einbahnstraße, und es gehe nur um Feinkorrekturen. Wir brauchten wieder „weltliche Philosophen“ wie Keynes. Wenn die dann eine bessere Welt schaffen wollten, müssten sie zuerst die harten Fragen stellen und auch zu beantworten versuchen, wie nämlich eine „neue Vision des wahren Potenzials des Kapitalismus“ aussehe. Gut gefragt.
Das skizziert auch die Aufgabe für Gabriels Partei, wenn sie jemals wieder eine ideelle Gesamtlinke darstellen will. Dagegen ist die Frage vergleichsweise nebensächlich, ob er selbst noch höher hinauswill und – innerlich wenigstens – am Kanzleramtszaun rüttelt wie einst Mentor Schröder, oder ob er davor vielleicht sogar Angst hat, was für ihn spräche.
Er kann es, sagt Schmidt über Steinbrück. Er kann „es“ auch, könnte man über Sigmar Gabriel sagen. Er kann, was er macht. Die Sozialdemokraten haben einen postmodernen Vorsitzenden, auch wenn er das Wort nicht hören mag, einen, der nervös ist, aber Gabriel I kommt Gabriel II seltener in die Quere als früher. Voilà!
PS: Ganz abgesehen davon ist die „Troika“ wirklich das Beste, was der SPD und Sigmar Gabriel widerfahren kann.
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