- „Das Buch verstößt gegen kein Strafgesetz“
Ab 2016 könnte in den Buchläden Hitlers „Mein Kampf“ neben Ratgebern des Dalai Lama liegen. Der Experte für Staatsschutzdelikte, Nikolaos Gazeas, erklärt, warum sich eine Veröffentlichung der Nazi-Schrift strafrechtlich nicht mehr aufhalten lässt
In der Novemberausgabe beschäftigt sich der Cicero mit dem Streit um Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“. Das Heft ist am Kiosk und auch im Online Shop ab sofort erhältlich.
Herr Gazeas, bisher hat Bayern durch sein Urheberrecht
zivilrechtlich alle Publikationsversuche von Personen durch
einstweilige Verfügungen unterbunden. Ende 2015 erlischt das
Urheberrecht. Wird an die Stelle des Urheberrechts das Strafrecht
rücken?
Nein, das wird es nicht. Derzeit verbietet das Urheberrecht einen
Neudruck des Buches in jedweder Form. Wenn dieser urheberrechtliche
Schutz 2016 nicht mehr greift, wird das Strafrecht nicht verhindern
können, dass Hitlers „Mein Kampf“ auch in seiner ursprünglichen
Form unkommentiert neu in Deutschland verlegt wird. Die Rechtslage
ist aus strafrechtlicher Warte nicht einfach zu beurteilen. Im
Ergebnis wird man jedoch sagen müssen, dass der Inhalt des Buches
gegen kein Strafgesetz verstößt.
Ist der Weg also ab 2016 frei, ungehindert „Mein Kampf“
zu publizieren?
Beim Neudruck von „Mein Kampf“ kommen
grundsätzlich zwei Straftatbestände in Betracht: das Verbreiten von
Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen und
Volksverhetzung.
Im ersten Fall ist die Sachlage recht einfach zu beurteilen. Zwar liegt es nahe, nach dem natürlichen Sprachempfinden dieses Buch als Propagandamittel zu bezeichnen. Allerdings reicht dies für eine Strafbarkeit nicht aus; vielmehr muss es sich um ein Propagandamittel im strafrechtlichen Sinne handeln. Dies ist dann der Fall, wenn die Schriften sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Idee der Völkerverständigung richten. Denn die Strafnorm schützt nicht irgendeinen demokratischen Rechtsstaat, sondern die Bundesrepublik Deutschland als konkreten Staat. Das bedeutet, dass alle Schriften, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, also vor 1949 erschienen sind, nicht vom strafrechtlichen Begriff des Propagandamittels erfasst sind. Denn sie können sich nicht gegen diese konkreten Schutzgüter der Bundesrepublik Deutschland richten, weil sie in dieser Form noch gar nicht existierten. Dies gilt auch für unverändert nachgedruckte Schriften aus der Zeit vor 1949, weil hierdurch kein Bezug zur Verfassung der Bundesrepublik hergestellt wird. Dies hat der Bundesgerichtshof eindeutig und zu Recht so entschieden.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein rechtsgerichteter Verleger
preist in einem Vorwort für „Mein Kampf“ dies als „Programm für das
21. Jahrhundert“ an. Wäre es dann ein
Propagandamittel?
In diesem Fall sieht die Rechtslage
ganz anders aus. Ein solches Buch wäre ein strafbares
Propagandamittel, weil dem Buch durch diese Bearbeitung eine
Zielrichtung gegen die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland
gegeben würde. Auch eine befürwortende Kommentierung des Werks kann
diesen Bezug herstellen. Selbst ein einschlägiger Klappentext würde
dafür ausreichen. In all diesen Fällen würde ein aktueller Bezug
zur Verfassung der Bundesrepublik hergestellt.
Auf der folgenden Seite: Volksverhetzung als Hebel?
Und was ist mit der Volksverhetzung?
Die ist weitaus schwieriger zu beurteilen. Eine ausführliche
Diskussion hierzu hat mit Blick auf den Ablauf des
urheberrechtlichen Schutzes in der Wissenschaft bisher noch nicht
stattgefunden. Auch die Rechtsprechung hat sich hierzu noch nicht
geäußert. Man betritt hier ein wenig strafrechtliches Neuland.
Der Straftatbestand der Volksverhetzung schützt den öffentlichen Frieden und darüber hinaus nach überzeugender Ansicht auch die Menschenwürde derjenigen, die von der Volksverhetzung betroffen wären. Ob die Schrift vor 1949 oder danach entstanden ist, spielt hier keine Rolle.
Die Voraussetzungen, die das Strafgesetz an eine Volksverhetzung durch das Verbreiten von Schriften stellt, wird man hier als erfüllt ansehen können. Denn es kommt nicht darauf an, ob „Mein Kampf“ konkret geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Schon eine abstrakte Gefahr reicht aus. Die Strafbarkeit setzt also schon in einem sehr frühen Stadium ein. Es genügt, wenn mit dem Buch etwa zum Hass aufgestachelt, wird. Eine Strafbarkeit kann hier allein über die sog. Sozialadäquanzklausel ausscheiden. Ob dies die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ebenso sehen, vermag ich jedoch nicht mit Gewissheit zu beurteilen.
Aber dann bleibt es doch dabei: Auch neutrale Verleger
müssen mit einem Ermittlungsverfahren und einer Verurteilung
rechnen.
Ein Verleger müsste durchaus damit rechnen, dass gegen ihn ein
Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Ich rechne jedoch nicht
damit, dass ein Verleger wegen Volksverhetzung verurteilt wird.
Warum?
Das Gesetz kennt auch für die
Volksverhetzung die so genannte Sozialadäquanzklausel. Dient die
Schrift billigenswerte Interessen – zum Beispiel der
staatsbürgerliche Aufklärung oder der Wissenschaft – wird sie von
der Strafbarkeit herausgenommen. Die Sozialadäquanzklausel verneint
hierbei nicht die Gefährlichkeit. Sie gestattet lediglich trotz
einer – abstrakten – Gefährlichkeit die Verbreitung dieser Schrift.
Eine Strafbarkeit des Verlegers scheitert letztlich meiner Ansicht
nach an dieser Klausel. Für eine kritisch-kommentierte Fassung etwa
durch einen Historiker gilt das natürlich erst Recht.
Auf der folgenden Seite: Wieso auch neutrale Verleger straffrei bleiben werden
Warum kann aber auch der neutrale Verleger mit
Straffreiheit über die Sozialadäquanzklausel rechnen?
Diese Frage ist sehr schwierig zu beantworten. Hinter der
Sozialadäquanzklausel steckt letztlich eine Abwägung der
verschiedenen Interessen. Die Voraussetzungen für eine
Straffreiheit sind, das gebe ich zu, nicht offensichtlich.
Viele in der Klausel genannten Fälle sind bei einem neutralen
Nachdruck nicht einschlägig. Allenfalls die staatsbürgerliche
Aufklärung kommt in Betracht. Aber die Klausel führt die Zwecke
nicht abschließend auf. Sie enthält auch die sehr offene
Formulierung „oder wenn sie ähnlichen Zwecken dient“. Das
Informationsinteresse der Bevölkerung ist in einem freiheitlich
demokratischen Rechtsstaat ein solcher ähnlicher Zweck.
Bei Hitlers „Mein Kampf“ müssen wir, so abscheulich dieses Buch auch ist, berücksichtigen, dass es über 70 Jahre alt ist. Bei einem Nachdruck in den sechziger Jahren hätten wir die Frage ganz anders beurteilt: Dann wäre die Bevölkerung sicherlich – und zu Recht – um Einiges aufgebrachter gewesen, als dies heute zu erwarten wäre. Die deutsche Bevölkerung hat heute ein Recht darauf, zu erfahren, welch kranke Gedanken in Hitlers Kopf entstanden und von ihm zu Papier gebracht wurden. Wir müssen auch berücksichtigen, dass der Inhalt des Buches heute im Internet ganz einfach einzusehen ist. Auch müssen wir bedenken, dass das Buch in vielen Ländern in verschiedenen Sprachen bereits seit Langem erhältlich ist. Damit wird die Zensur ohnehin relativiert.
Ein strafrechtliches Verbot, das Buch nachzudrucken, würde in die Meinungs- und Pressefreiheit und in die Berufsfreiheit der Verleger eingreifen. Zudem wird hierdurch jedem Bürger der Zugriff auf das Buch verwehrt. Ein solcher Grundrechtseingriff wiegt schwer, und er muss verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Die abstrakt bestehende Gefahr einer Volksverhetzung, die auf der anderen Seite der Waagschale zu berücksichtigen ist, kann diese gewichtigen Grundrechtseingriffe heute nicht mehr rechtfertigen. Das Informationsbedürfnis und die Pressefreiheit sind so gewichtig, dass sie die Waage zu ihren Gunsten ausschlagen lassen.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir bei dem Einsatz des Strafrechts dem Verleger mit dem schärfsten Schwert drohen, das unsere Rechtsordnung kennt. Wir drohen ihm hier mit Gefängnis und Geldstrafe. Dies ist unverhältnismäßig.
Das heißt, ab 2016 liegt dann Hitlers „Mein Kampf“ neben
den Memoiren des Dalai Lama auf dem Büchertisch aus?
Bei diesem Gedanken ist mir, das gebe ich gerne zu, nicht ganz
wohl. Ich hätte ein mulmiges Gefühl, das Buch an exponierter
Stelle in einer Buchhandlung oder etwa auf der Bestseller-Liste des
SPIEGEL zu sehen. Ich denke hier insbesondere an die Signalwirkung,
die wir etwa ins Ausland ausstrahlen, aber auch gegenüber den
jüdischen und ausländischen Mitbürgern im Inland. Den Angehörigen
der Opfer der NSU wird man kaum verständlich machen können, warum
wir einen Nachdruck zulassen. Aber das Gefühl allein ist kein
Grund, etwas unter Strafe zu stellen. Das Strafrecht ist und bleibt
das allerletzte Mittel, das unsere Rechtsordnung kennt. Will man
einen Nachdruck verhindern, muss sich der Gesetzgeber eines anderen
Instrumentariums bedienen. Hier wird es jedoch schwierig sein,
etwas Geeignetes zu finden.
Wie sollte denn jetzt bis zum Ablauf 2016 weiter
vorgegangen werden?
Das bayerische Finanzministerium
sollte sein hartnäckiges Vorgehen gegen jedwede Veröffentlichung
überdenken. Mit dem geltenden Strafrecht wird man Verleger von
einem Nachdruck nicht abhalten können. Es wäre sinnvoll, wenn eine
kritische, wissenschaftliche Edition von „Mein Kampf“ das Licht der
Öffentlichkeit erblickt. Hervorragende Historiker, die sich dieser
Aufgabe annehmen könnten, haben wir. Auf diese Weise könnte auch
verhindert werden, dass unkommentierte Veröffentlichungen den
Büchermarkt mit Erfolg überschwemmen.
Herr Gazeas, vielen Dank für das Gespräch
Nikolaos Gazeas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht von Professor Dr. Claus Kreß an der Universität zu Köln. Er promoviert dort und forscht insbesondere im Bereich des Terrorismus- und Staatsschutzstrafrechts.
Das Interview führte Daniel Martienssen
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