Lehrveranstaltungen, die aus Feigheit gar nicht erst angeboten werden, kann man auch nicht verbieten / dpa

Studie der ZEIT-Stiftung - Wie sich akademische Cancel-Culture wegzaubern lässt

Vor Kurzem wurde der Negativpreis Wissenschaftsfreiheit 2024 verliehen – und nahezu zeitgleich eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht. Deren Ergebnis: Es gibt kaum Probleme mit der Cancel Culture an Deutschlands Universitäten. Was stimmt denn nun?

Porträt Mathias Brodkorb

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat sich keinen Gefallen getan. Es verteilte seinen Negativpreis Wissenschaftsfreiheit gleich auf drei Personen auf einmal und raubte sich dadurch selbst die kommunikative Schlagkraft: auf Rüdiger Seesemann (Universität Bayreuth), Geraldine Rauch (Präsidentin der TU Berlin) und Carolin Wagner (SPD-Bundestagsabgeordnete). Allen Prämierten wurde der Preis außerdem dafür verliehen, dass sie entweder Mitglieder des Netzwerks angegriffen haben oder dieses selbst. Das riecht nach beleidigter Leberwurst.

Dabei waren die Anlässe der Preisverleihung durchaus nicht ganz unbegründet. Wir wollen es hier beim ersten Fall bewenden lassen – den zweiten kann man hier nachlesen, und der dritte ist in Wahrheit nicht der akademischen Rede wert: Prof. Seesemann wird in der Laudatio vom Netzwerk vorgeworfen, eine Unterschriftenkampagne gegen die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter betrieben zu haben. Ihm sei es darum gegangen, dass Schröter die finanziellen Grundlagen für ihr Institut entzogen werden. Der Grund: Der Islamwissenschaftler vertritt inhaltlich andere Positionen als Schröter. Anstatt sich mit ihr akademisch zu duellieren, setzte er auf öffentlichen Druck und Cancel Culture. Mit Wissenschaft hat das freilich nichts mehr zu tun. Man blickt stattdessen in charakterliche Abgründe.

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Wolfgang Peters | So., 27. Oktober 2024 - 09:43

Ein aufschlussreicher Artikel. Man kann ergänzen, dass deutsche Universitäten selten ein Hort der Freiheit waren. So wurde die NSDAP in vielen Universitäts-Asten bereits zwischen 1929 und 1932 zur stärksten politischen Kraft.
In den Universitäten wurde 1933 dann fleißig gleichgeschaltet oder einfach weggeschaut.
Sebastian Haffner hat das in seiner "Geschichte eines Deutschen" atmosphärisch festgehalten.
Heute kommen noch wirtschaftliche Faktoren hinzu. Eine starke Drittmittelforschung führt zu verstärkter Angepasstheit oder um es mit einem alten deutschen Sprichwort zu sagen: "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing"...

Karl-Heinz Weiß | So., 27. Oktober 2024 - 09:57

Dass sich die in früheren Jahren angesehene ZEIT für eine solche
"gelenkte" Studie zur Verfügung stellt, ist bedauerlich. Ein wesentlich größeres Problem sehe ich aber in Personen wie Greta Thunberg, denen es scheinbar mühelos gelingt, wissenschaftliche Standards zu unterlaufen und im Uni-Betrieb "Denkverbote" zu etablieren. Auch das auf Ausgrenzung angelegte Verhalten zahlreicher Wissenschaftler in der Corona-Pandemie war dafür ein Beispiel. Leider ist dies ein weltweites Phänomen, etwa in Großbritannien und den USA.

Gerhard Fiedler | So., 27. Oktober 2024 - 11:42

Wer fragt, warum es in Deutschland mit Politik und Demokratie so erbärmlich bestellt ist, erhält die Antwort von diesem Beitrag von Mathias Brodkorb. Die Universitäten mit ihren sozialistischen Rede- und Diskursverboten prägen Wissenschaft, Politik, Parteien, Medien, ÖRR, Schulen, Behörden und selbst die Kirchen. Wer anders denkt, hüllt sich in Schweigen, um nicht seine Existenz zu gefährden. Ich kenne dieses Verhaltensmuster noch aus Hitler- und DDR-Zeiten und erlebe nun seine Wiederkehr im heutigen Deutschland. Traurig, aber wahr! „Da kannst du auch nichts ändern“, war immer die gängige Reaktion von Feiglingen zu meiner nicht ungefährlichen Kritik an den Zuständen und dem System der DDR. Am Ende blieb mir nur die Flucht. Doch wohin soll man heute fliehen?

Volker Naumann | So., 27. Oktober 2024 - 12:04

Vielleicht hätte man auch die
Wissenschaftler:außen befragen sollen?

MfG

Martin | So., 27. Oktober 2024 - 12:06

Passt zur Zeit und zur generellen Ausrichtung unter dem ehemaligen büroleiter der grünen, Bernd Ulrich. Da kann nicht sein, was nicht sein darf. Man, was habe ich Glück, dass mein Studium der Betriebswirtschaft mehr als 25 Jahre vorbei ist. Naja, eher sowieso ein eher konservativer Studiengang.
Ich kann mit postkolonialismus, gender Studies, woke sein und Butler Gedanken rein gar nichts anfangen. Und in meinem biologieunterricht gab es immer nur 2 Geschlechter. Zum Glück gab 3s da noch nichts wie "gefühlte Geschlechter". Mit Wissenschaft hat das alles überhaupt nichts mehr zutun. Das gilt vor allem für die Fächer, die man "Geisteswissenschaft " nennt. Get woke. Go broke. Hoffentlich.

Ernst-Günther Konrad | So., 27. Oktober 2024 - 12:07

Ich weiß nicht, ob es jemals oder noch neutrale Studien gibt bzw. gegeben hat. Ich bin inzwischen so misstrauisch h ob der Einflussnahme derjenigen, die solche Studien in Auftrag geben und demnach auch ein "passendes" Ergebnis erwarten.
Wenn man inzwischen sieht, wie Ideologen in der Politik in fast allen Bereichen ganz offen Einfluss in Entscheidungen nehmen, über die asozialen Medien sich äußern und Kritiker nieder machen, wenn man sieht, das in fast allen Schaltstellen der Institutionen die führen Köpfe gleichgeschaltet oder entsprechend ausgetauscht wurden, das selbst die Justiz dermaßen beeinflusst ist, dass selbst die jahrzehntelang im Volk verankerte Akzeptanz deshalb weicht, weil man wider dem Volkswillen mithilft, Recht und Gesetz gegen dieses Volk einzusetzen, geht alle Zuversicht und Vertrauen verloren. Was von dem Herr Brodkorb, was die Studie uns vermitteln will ist noch neutral und ehrlich? Das muss jeder für sich entscheiden. Und das ist schwer genug.

Helmut Bachmann | So., 27. Oktober 2024 - 14:43

wird ja auch gezielt vom Denken abgelenkt. Es gilt Erbsen zu zählen. Zunächst ermöglicht dies, Macht über den Diskurs zu behalten. Es entwickeln sich Erbsenzähler, die an den Unis bleiben und lenkbar sind.
Manche machen absichtlich „Studien“, die „beweisen“, was jemand bewiesen haben will, manche wundern sich, dass die Erbsen, die man ihnen hingelegt hat, doch tatsächlich das beweisen, was sie beweisen sollen. Aber sie bleiben Erbsenzähler.

Brigitte Miller | So., 27. Oktober 2024 - 17:33

über die Richtung, in die es geht und zwar global:
Climate: The Movie (Deutsche Untertitel) youtube

Markus Michaelis | So., 27. Oktober 2024 - 18:45

Egal, was solche Studien sagen, scheint es mir offensichtlich, dass sich nicht nur an Unis, sondern auch in der "staatstragenden Bevölkerung" mehr Gruppen und Ansichten sehr unversöhnlich gegenüberstehen - viel mehr als etwa in den 90er und 0er Jahren. Ich denke, niemand von denen, denen es wichtig ist, dass wir derzeit keine Cancel-Culture haben (was ok ist - das ist ohnehin oft Wortklauberei), wird doch bestreiten, dass man alle möglichen anderen gesellschaftlichen Gruppen schärfstens ablehnen sollte, weil die rechts, antisemitsch, pro-Putin, Klimaleugner und und und sind. Die Liste wird länger, die Schärfe der gegenseitigen Ablehnung auch. Egal, wie man das nennt, scheint es doch Dinge zu geben, über die man reden sollte?

Ein gutes Beispiel ist etwa die Frage nach der Ablehnung des GG und dass es um die Qualität der Gründe dafür geht und welches Handeln abgeleitet wird. Dass das GG abgelehnt werden kann, wäre für mich eine sehr wichtige Eigenschaft unserer Gesellschaft.

Markus Michaelis | So., 27. Oktober 2024 - 18:53

Weil das bei uns so eine heilige Kuh ist, möchte ich hier mal Gründe aufführen, warum man das GG ablehnen kann und das zB an Unis diskutieren möchte - ich teile keine der Auffassungen, halte sie aber alle für zulässig.

Das GG steht einer weiteren EU-Integration im Weg. Die Aufteilung in Bundesländer mit ihren jetzigen Befugnissen hält man für dysfunktional. Man glaubt ein starker Präsident, wie in Frankreich wäre besser (viele Franzosen glaub(t)en das und wir wollen trotzdem eine ever closer Union mit ihnen). Das GG wurde (fast) nur von Männern geschrieben. Das GG setzt die Familie auf ein besonderes Podest - man glaubt, dass wir heute andere ges. Strukturen brauchen. Grundrechte werden heute nicht mehr als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden, sondern als staatlicher Auftrag diese bei seinen Bürgern (und global) durchzusetzen. Es gibt tausende mehr Punkte. Auch die Unis wollen aber Dinge (wie GG) als heilig betrachten - man betet sie an, aber man diskutiert das nicht.

Markus Michaelis | So., 27. Oktober 2024 - 19:07

Ein Grund, warum ich eine kritische Betrachtung des GG wichtig finde, ist unsere vielfältige Migrationsgesellschaft heute.

Es gibt dazu verschiedene Weltbilder - das ist schon eines der Probleme. Eines der Weltbilder geht in die Richtung, dass wir alle Menschen sind und nach denselben universellen Werten leben (wollen). Als Metapher dafür (oder im Ernst so gemeint) steht das GG. In dem Moment, in dem man das GG zum Nachdenken freigibt, stellt sich die Frage, was eine global-vielfältige Gesellschaft zusammenhalten könnte.

Mein Eindruck ist, dass unsere Gesellschaft solchen Fragen ausweicht - sie machen Angst, sie tun auch zu weh, wenn Grundsätze des eigenen Weltverständnisses zur Diskussion freigegeben sind. Gerade in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft stellen sich aber solche Fragen, weil die Menschen eben nicht von Natur aus eine gemeinsame Weltsicht teilen. An den Unis gibt es dazu eher die genannte Diskursverweigerung - ob man sie Cancel-Culture nennt, ist weniger wichtig.

Volker Naumann | Mo., 28. Oktober 2024 - 11:24

Antwort auf von Markus Michaelis

Das sind zwei Sachen, die sich gegenseitig ausschließen.
einmal, "unsere vielfältige Migrationsgesellschaft"
und zum anderen, "eine gemeinsame Weltsicht".

Größte Bedenken bekomme ich, wenn z. B. solche Argumente
kommen, "das Zusammenleben müsse täglich neu ausgehandelt
werden" oder das Grundgesetz in Frage zu stellen.

Ich befürchte, so kommen wir nicht zu einer "neuen Ordnung"
sondern landen in der Anarchie. Ihre Vermutung, dass alle
Menschen nach den gleichen universellen Werten leben wollen,
kann ich nicht nachvollziehen, das wird so nie kommen.

MfG

M. Möller | Mo., 28. Oktober 2024 - 09:39

Herr Brodkorb hat eigentlich schon alles relevante gesagt, aber ich will noch mal ein alternatives Gedankenexperiment anstoßen: Einfach alle feuern, die nicht im Gleichtakt marschieren! Dann kriegen wir das auf 0% runter. Das ist sogar auch eher nur ein halbes Experiment, denn wenn ich, selber Wissenschaftler, Kollegen frage, die die Wissenschaft verlassen, dann ist die momentan erdrückende Wissenschaftskultur oft einer der Gründe.

S. Kaiser | Mo., 28. Oktober 2024 - 10:08

Die beschriebenen Phänomene zeigen sich nicht nur in der Wissenschaft. Sie zeigen sich auch in den Medien und im Kulturbetrieb.
Aber nur der wirklich freie Diskurs bringt einer Gesellschaft Erkenntnisgewinn und damit Fortschritt. Das sich freimachen von „Haltung“. Nicht umsonst kennt man den „Advocatus Diaboli“ als rhetorische Figur. Man muss auch „verteufelte“ Positionen diskutieren, um diese zu entkräften zu können. Deshalb trifft die Aussage „Es kommt in akademischen Kreisen nicht in erster Linie darauf an, welche Position man vertritt, sondern auf die Qualität der dabei mobilisierten Argumente und Methoden“ zu 100% zu.
Was momentan aber passiert ist ein infantil-ängstliches, worüber ich nicht spreche, geht von allein wieder weg‘. Das Eingrenzen von Diskurs in totalitären Regimen hat schon immer den Fortschritt verhindert. Man braucht sich nur in der Welt umzusehen, wo prosperierende erfolgreiche Gesellschaften entstanden sind. Es wird dringend Zeit für akademische Freigeister.

Eselsbrücke | Mo., 28. Oktober 2024 - 10:40

Es ist m.E. auch ein Problem, dass die sog. "Geschwätzwissenschaften" im öffentlichen Raum extrem stark überrepräsentiert sind. Man kann deren Arbeitsweise nicht mal im Ansatz mit der von MINT-Disziplinen vergleichen.
Nicht, dass ich sie komplett ablehnen würde, aber es kann einfach nicht sein, dass Professorentitel wie Bonbons an Karneval verschenkt werden. Einfach einen Lehrstuhl über Drittmittel finanzieren, und Zack hat man einen Professor, der die gewünschte Meinung öffentlich vertritt. Dass diese Person einen solchen Titel nicht ansatzweise verdient hat, geschenkt. Dem Normalbürger ist dies nicht bewusst, er sieht nur den Titel. Ein besonders schönes und auch aktuelles Beispiel ist Mario Voigt, der seinen Professorentitel an einer Einrichtung gemacht hat (Quadriga Hochschule Berlin), die alles andere als ein Hort der Wissenschaft ist. Es lohnt sich den Wikipedia-Artikel dazu durchzulesen!

Martin Beckmann | Mo., 28. Oktober 2024 - 12:14

Was ist das für eine Sprach- und Kulturverhunzung: Wissenschaftler : innen. Wieso druckt CICERO diesen Müll ab?

Heidemarie Heim | Mo., 28. Oktober 2024 - 15:50

Ich denke nicht nur in der Wissenschaft wird die Zahl jener immer höher, die sich bis zum bitteren Ende, bzw. bevor sie nur noch einer Brühwurst ähneln akklimatisieren und ihrer Umgebung anpassen um ja nicht den Sprung ins Ungewisse außerhalb des Kochtopfs wagen zu müssen. Wie überall, die meisten quaken lieber als zu springen. Und wie Frau/Herr Möller, selbst Wissenschaftler/in bemerkt, sind es scheinbar laut solcher "Sumpf-Studien" nur
Wenige, die ihr akademisches Heil in der Flucht suchen. Und man darf zumindest vermuten, dass diese Flüchtigen;) wiederum in der Mehrzahl nicht den Geisteswissenschaften angehörten. MfG