- Warum Marx immer noch aktuell ist
Marx is back. Nach der Finanzkrise hat Karl Marx wieder Konjunktur. Doch können wir überhaupt etwas vom alten Marx lernen? Hat nicht die Geschichte gezeigt, dass Marx Lehren zum Missbrauch einladen? Marx-Experte Andreas Arndt im Interview über das ewige Missverstehen eines großen Denkers.
Herr Prof. Arndt, nach der Wirtschafts- und Finanzkrise
gerät man plötzlich nicht mehr so schnell in Verdacht, wenn man vom
Kapitalismus spricht oder sich auf Karl Marx beruft. Werden die
Thesen von Karl Marx wieder salonfähig? Erleben wir gerade so etwas
wie eine Renaissance des Marxismus?
Es gibt nach wie vor ein anhaltendes Interesse an Marx. Ich habe in
meinen Lehrveranstaltungen die Erfahrung gemacht, dass auch kurz
nach der Wende die Nachfrage sehr stark anstieg. Damals gab es
gerade von Studierenden, die in der DDR sozialisiert worden sind,
ein großes Bedürfnis sich mit Marx auseinanderzusetzen. Sie wollten
wissen, wie sich das Bild, das in der DDR von Marx gezeichnet wurde
von dem im Westen Deutschland unterschied. Und nun gibt es eine
neue Generation, die mit Marx nicht konfrontiert wurde und sich
jetzt auch deshalb für Marx und seine Thesen interessiert, weil
nach der Finanzkrise wieder die Frage auftaucht, ob die Analysen
von Marx vielleicht doch gebraucht werden können und sinnvolles zur
Erklärung beitragen.
Was lässt sich zu Gunsten eines Mannes sagen, auf den
sich mit Mao und Stalin zwei der größten Massenmörder der
Geschichte berufen?
Stalins oder Maos Theorie der Politik finden sie bei Marx nicht.
Sein „Kapital“, war ein Teil eines großen Programms, in dem sich
nur sehr verstreute Äußerungen zu Politik und Staat finden.
Bestimmte Rezeptionslinien haben dazu geführt, dass Mao oder Stalin
meinten, sie würden einen authentischen Marxismus vertreten. Das
hatte jedoch mit dem, was Marx dachte und wollte nichts zu tun.
Sie unterscheiden zwischen einem Marxismus-Leninismus
als einem Produkt des 20. Jahrhunderts und dem was Marx
entwickelte?
Es begann ja schon in der ersten Internationale und besonders in
der deutschen Sozialdemokratie, dass Marx in einem ganz bestimmten
Sinne gelesen wurde. Marx war auch immer schon damit beschäftigt
sich gegen diese Interpretationen zur Wehr zu setzen. Derartige
Überformungen gab es von Anfang an. Nach Ende des Kalten Krieges
ergab sich die Chance, Marx Thesen weniger ideologisch aufgeladen
zu betrachten und zu schauen, was davon interessant und nach wie
vor aktuell ist.
Von Marx selbst stammt ja angeblich der Ausspruch, er
selbst sei kein Marxist.
Diesen Satz habe ich so bei Marx nie gefunden. Er ist Teil einer
gut erzählten Geschichte, die insofern richtig erzählt ist, als das
sie verdeutlicht, wie kritisch Marx mit vermeintlich
Gleichgesinnten umgegangen ist. Es gibt einen Satz, der in diesem
Zusammenhang viel entscheidender ist: „Ein Mensch, der der
Wissenschaft einen außerhalb der Wissenschaft liegenden Standpunkt
zu akkommodieren versucht, den nenne ich gemein.“ Mit anderen
Worten: Wissenschaftliche Kritik nach wissenschaftlichen Kriterien,
darum ging es Marx. Es ging ihm nicht darum, das Wünschbare zur
Grundlage einer Theorie zu machen. In diesem Punkt war er sehr
rigoros. Ein solches Verständnis erledigt bereits eine Menge von
bestimmten Dogmatisierungen.
Ist vielleicht ein Grund für ein falsches
Marxverständnis, das Marx noch nicht verstanden werden konnte, weil
ein Großteil der von Marx verfassten Schriften Anfang des 20.
Jahrhunderts noch gar nicht bekannt waren?
Das mag mit dazu beigetragen haben. Viel Stärker wirkte aber das
generelle Phänomen, das Theorien, die gerade en vogue sind, die
jeweils zeitgenössischen Rezeptionen überlagern. Heute bekommen sie
teilweise einen postmodernen Marx geliefert. Das sind
Interpretationen, die teilweise auch eine ganz andere Terminologie
benutzen. Die Rezeption wurde immer stark überlagert und oftmals
fehlte das Bewusstsein dafür, dass die Manuskripte, die Marx
hinterließ lediglich einen Ausschnitt seines Werkes waren. Band 2
und 3 des Kapitals beispielsweise beruhen auf der Redaktion von
Engels. Ein Blick auf das Originalmanuskript von Marx verrät das
Unfertige, das Experimentelle dieser Schriften. Außerdem werden
Stellen offenkundig, bei denen er selbst auch Probleme und
Widersprüchlichkeiten erkannt hat. Wenn man das sieht, dann bekommt
man auch ein völlig anderes Verhältnis zu diesen Texten. Vor diesem
Hintergrund zerbröckelt der Mythos einer geschlossenen
Weltanschauung in der Marx’schen Theorie, der sowohl von der
deutschen Sozialdemokratie als auch vom Marxismus-Leninismus
getragen wurde, sehr schnell.
Marx Stärke lag in der Analyse. Sein Verdienst war es,
den Kapitalismus als solchen zu identifizieren und ihn einer
angeblichen Naturgegebenheit zu berauben. Gleichzeitig hat Marx in
seiner Analyse den Weg vom Kapitalismus über den Sozialismus hin
zum Kommunismus zu einer Art Naturgesetz erhoben und damit seine
Theorie relativ anfällig für Ideologien gemacht. Ist das nicht der
zentrale Widerspruch bei Marx: Dass er die kapitalistische
Produktionsweise scharf analysiert, aber in einem zweiten Schritt
selbst dann dazu neigt, eine Art Naturgegebenheit zu
definieren?
Das ist die immer wiederkehrende Frage: Wie weit war Marx von einer
Naturgesetzlichkeit überzeugt? Meine These: Der sogenannte
historische Materialismus ist ein Konstrukt gegen Marx. Warum: Marx
ist ein Vertreter eines Geschichtsdenkens das ganz weit
zurückreicht. Beginnend in der Französische Aufklärungsphilosophie,
zu finden bei Herder oder Humboldt. Dort taucht immer wieder die
Idee auf, nach Naturgesetzen der Geschichte zu suchen. Es wurde
versucht Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte zu finden, die
erklären, unter welchen Bedingungen überhaupt Geschichte zustande
kommt. Marx hat keinen automatischen Geschichtsverlauf propagiert.
Marx spricht zwar von „progressiven Gesellschaftsformationen“, was
aber nicht als ein natürlicher Gang der Geschichte
fehlinterpretiert werden darf. Progressiv ist gemeint in dem Sinne,
dass etwas Neues entsteht. Viel entscheidender ist: Im Nachwort zur
zweiten Auflage des Kapitals entwickelt Marx eine rein negative
Dialektik. Marx Konzept macht keine Prognosen über zukünftige
Entwicklungen. Er versucht zu zeigen, wie die kapitalistische
Produktionsweise historisch entstanden und eben in sich historisch
begrenzt ist. Das ist für ihn das große Ideologem, das diese
Produktionsweise so tut, als sei sie naturgegeben.
Aber war Marx ein reiner Systematiker und Analytiker
oder war er nicht auch Moralist? Seine Schriften haben doch ein
immer wiederkehrendes Gerechtigkeitsideal zum
Fundament.
Ja, natürlich. Aber im Hegelschen Sinne geht es Marx nicht um
Individualmoral, es geht um das, was Sittlichkeit heißt. Natürlich
gibt es normative Aussagen und Wertungen bei Marx. Wobei Marx diese
Norm nicht als ewig und überzeitlich versteht, sondern aus dem
jeweiligen Kontext heraus. Aber natürlich hat allein der Ausdruck
„Ausbeutung“ eine normative Komponente.
Ist das strikte Systemdenken nicht auch ein
grundsätzliches Problem? Als Kommunist ist man doch quasi gezwungen
vom Ende her zu denken. Dieser Entwicklungsansatz findet sich
bereits bei Hegel. Dieses auf ein Ziel hin ausgerichtete Denken.
Von Hegels „das Wirkliche ist das Vernünftige“ hin zur „die Partei
hat immer Recht“ ist es dann nicht mehr weit.
Für Hegel ist Wirklichkeit ein normativer Begriff. Er unterscheidet
Wirklichkeit und Realität. Das wird dabei immer übersehen. Er
bezieht sich nicht auf das, was einfach besteht, auf die bloße
Existenz, die bloße Realität, sondern er bezieht sich auf eine
vernünftige Realität, das ist für ihn Wirklichkeit. Das meint
nicht, das alles was existiert notwendigerweise vernünftig ist.
Insofern lässt sich „die Partei hat immer Recht“ daraus auch gar
nicht ableiten. Was die Bedeutung des Hegelianismus für Marx
angeht, so muss festgehalten werden, dass Marx negative Dialektik
nicht verbunden ist mit einer universellen Teleologie.
Was können wir heute noch von Marx lernen? Wird man bei
Marx fündig, wenn man die Krise verstehen will?
Das, was im „Kapital“ steht, darf zumindest als ein interessantes
Angebot verstanden werden. Ob das im Einzelnen noch so
nachvollzogen werden kann oder ob das in weiten Strecken revidiert
werden muss, ist eine andere Frage. Aber vor allem der Ansatz des
Denkens ist nach wie vor interessant. Marx sagt, der Kapitalismus
scheitert von vornherein an einem Problem: Er schafft es nicht, die
Bewegung des sich verwertenden Wertes mit dem Stoffwechsel in
Einklang zu bringen. Beides zusammen geht nicht. Es kommt zu
Disproportionalitäten. Das ist schon ein spannender Ansatz. Da
entstehen in der Verwertung des Wertes Selbstbezüglichkeiten in
Abkoppelung von materieller Realität. Der durch Arbeit geschaffene
Wert, der in jeder Ware enthalten ist, ist im Geld letztlich
vollständig unsichtbar.
... Der abstrakte Tauschwert verselbständigt sich nach
Marx gegenüber dem Gebrauchswert der Ware. Marx spricht vom
Fetischcharakter der Ware…
... Das wäre schon die gesteigerte Form des Geldfetisch. Das Geld,
als ein Zeichen, ohne das es noch etwas bezeichnet funktioniert und
sich völlig verselbstständigt.
Insofern trägt der Kapitalismus doch auch Züge einer
Religion. Wir glauben an die Rationalität des Kapitals, erheben das
Geld zum Fetisch...
... Dieses Theorem Kapitalismus als Religion hat Walter Benjamin
ins Spiel gebracht und es wird derzeit wieder heftig diskutiert. Es
gibt sicherlich quasi-religiöse Züge. Es gibt auch bestimmte
Tabuisierungen: Beispielsweise ist es schwierig, den angeblichen
Ewigkeitswert unserer Gesellschaftsorganisation zu hinterfragen.
Insofern ist diese dialektische Historisierung, die Marx betreibt
so interessant. Er sagt, die kapitalistische Produktionsweise ist
in einer gewissen Zeit unter bestimmten Umständen entstanden. Es
muss nicht zwangsläufig so sein.
Herr Prof. Arndt, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo Stein
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
Die Gesellschaft hat sich verändert im psychologischen vom Mittelalter bis heute.
Aber was das Kapital angeht und deren Gleichbehandlung stehen wir auf der Stufe der Vergangenheit, eben des Mittelalters.
Das bedeutet, die Zünfte des Mittelalters konnten
,gegen die Globalisierung nicht Schrithalten.