Malu Dreyer besucht sechs Monate nach der Jahrhundertflut das Ahrtal, um Bestandsaufnahme in der Ortsgemeinde Schuld zu machen.
Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat die Verantworung, die ihre Staatskanzlei für die Todesopfer der Flutkatatrophe im Ahrtal trägt, bisher erfolgreich disloziert. / dpa

„Auf Videos keine Katastrophenlage erkennbar“ - SPD und Grüne in Rheinland-Pfalz: Kernschmelze von Verantwortung

Hätten die Behörden in Rheinland-Pfalz mehr unternehmen können, um Menschen in der Flutnacht im Ahrtal das Leben zu retten? Ja, das hätten sie – weswegen es im laufenden Untersuchungsausschuss auch um den Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung im Amt geht. Doch die heillos überforderte und ignorante Landesregierung will ihre Verantwortung bis heute nicht einmal dann erkennen, wenn sie überlebensgroß direkt vor ihr steht.

Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

So erreichen Sie Jens Peter Paul:

Stellen Sie sich vor, Sie mussten sich vor den innerhalb weniger Minuten herantobenden Wassermassen bereits in das oberste Stockwerk Ihres Hauses retten und vom Dachfenster aus mit einer Taschenlampe SOS-Zeichen geben. Ein Polizeihubschrauber naht, filmt Sie, filmt auch Ihre ebenfalls bereits in Lebensgefahr befindlichen Nachbarn, filmt noch ein kopfüber in der rasenden Flutwelle treibendes und voll beleuchtetes Auto – und dreht wieder ab, mangels Seilwinde, wie es später heißen sollte. Die Besatzung holt auch nicht etwa Hilfe. Erst recht landet die insgesamt 40-minütige Videodokumentation – Stand jetzt, Änderungen vorbehalten – nicht unverzüglich dort, wo sie selbstverständlich hingehört: Im Lagezentrum des Landesinnenministeriums und von dort unverzüglich beim Minister. Es geschieht – so der aktuelle Stand aller Aufklärungsversuche – wenig bis nichts (sehen Sie hier: Polizei-Video 1, Polizei-Video 2 und Polizei-Video 3).

Dabei hätte dieses Material jedem Merkbefreiten mit Wahrnehmungsstörung schon nach oberflächlicher Sichtung klarmachen können und müssen, dass alles, was auf diesen sieben Filmen zu sehen ist, in jener Nacht kurz darauf, also nach 22:40 Uhr, auch in den weiteren Orten an der Ahr flussabwärts geschehen wird, eine nie gesehene Flutkatastrophe, die alles wegreißt und umbringt, was ihr im Weg steht. Doch es wird – Stand jetzt, Änderungen vorbehalten – behandelt wie ein beliebiger Aktenvermerk und verschwindet für über ein Jahr in irgendeinem nachgeordneten Behördenschreibtisch. So jedenfalls bis heute die Darstellung des verantwortlichen Dienstherren, Landesinnenminister Roger Lewentz, sowie einiger Beamter, die ihn durch das Eingeständnis eigener Versäumnisse zu entlasten versuchen. Die Menschen weiter flussabwärts bleiben ahnungslos und ungewarnt, bis dieser Binnentsunami auch sie innerhalb von Minuten einschließt und elend ertrinken lässt.

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M. Bernstein | So., 9. Oktober 2022 - 16:08

Alles ist so gelaufen wie beim Hochwasser in Sachsen 2002, nur dass es im Ahrtal viel mehr Tote gab.
Ursächlich ist die Organisation des Katastrophenschutz, die kleinteilig und auf Landkreisebene erfolgt, obwohl Wasser ziemlich schnell Grenzen überschreitet. Es gibt offensichtlich keine Einsatzpläne, die Parameter vorgeben, wann der Notstand auszurufen ist, welche Gremien sofort zusammentreten müssen und welche Technik wo verfügbar ist. Das muss generalstabsmäßig geplant werden und die sogenannten "kleinen" Flüsse dürfen nicht ausgenommen werden. Diese kleinen Flüsse können nämlich ganz schnell riesig werden. Die Erstellung dieser Pläne und der Wiederaufbau muss mit Experten geplant werden. Es ist absolut enttäuschend, dass es offensichtlich keinerlei Experten mit Stimme mehr gibt und die Politik glaubt durch Schönreden alle Probleme lösen zu können.

Jens Böhme | So., 9. Oktober 2022 - 16:18

... und Wassermassen vorm Haus gehen weltkriegserfahrene Senioren in den Keller. Aha. Die Lebensweisheiten einiger, heutiger Generationen sind einfach schwachsinnigster Natur. Da hatten einige Behinderte Glück, dass der Behindertennachtdienst die Wassermassen vorm Fenster richtig deutete und noch paar Bewohner Richtung eine Etage höher retten konnte. Wobei man durchaus von Glück reden kann, denn das Gebäude hätte in Sinzig auch zusammenbrechen bzw. weggespült werden können. Aber die Helivideos geben keine katastrophale Lage wieder! Solch Landesregierung braucht kein Volk dieser Welt.

Thomas Hechinger | So., 9. Oktober 2022 - 17:02

Im Kontrafunk gibt es aktuell einen Podcast von Norbert Bolz, „Der Angriff auf die Normalität“. Darin befaßt sich Professor Bolz unter anderem mit der „teleskopischen Menschenfreundlichkeit“ (ab Minute 40:00), einem von Charles Dickens geprägten Begriff, wonach man sich etwa um Kinder im Allgemeinen kümmert, dabei aber die eigenen Kinder vernachlässigt. Diese Haltung durchzieht die gesamte linke Politik. So sorgt man sich um ein fiktives Klima der Zukunft, das, unternähme man nicht heute dies oder jenes, eine für die Menschheit katastrophale Gestalt annähme. Und dann kommt eine Flutkatastrophe direkt vor Ort, und man fühlt sich irgendwie gar nicht zuständig. Dabei ist es in diesem Moment gleichgültig, ob der Klimawandel an der Flutkatastrophe schuld ist oder einfach ein außergewöhnliches Ereignis eingetreten ist, wie es alle hundert Jahre mal vorkommt. Und nein, Herr Lewentz soll nicht im Gummistiefelmodus der örtlichen Feuerwehr Anweisungen geben, sondern die Nothilfe koordinieren.

Sehr guter Vergleich mit der teleskopischen Menschenfreundlichkeit. Wobei ich bei Klimawandelangstmache eher auf Opferbereitschaft für das vermeintlich Gute tippe. Sozusagen religiöse Opferung des Wohlstands.

Peter Sommerhalder | So., 9. Oktober 2022 - 17:52

sobald es um „schon länger hier Lebende“ geht, nimmt es die Politik plötzlich nicht mehr so genau mit der Moral. Es kommt einem sogar so vor wie wenn dies lediglich ein lästiges Thema wäre.

„Wir schaffen das“, „You‘ll never woke alone“, wen meinen die Kanzlers eigentlich mit „wir“ und mit „you“?
Alle ausser die schon länger hier Lebenden...?

Kein Wunder, dass als wie mehr Bürger das Vertrauen in die Politik verlieren...

Ingo Frank | So., 9. Oktober 2022 - 21:11

Antwort auf von Peter Sommerhalder

Nun, wen wundert das wirklich? Die Wahlbeteiligung in NS lag wohl bei etwa 63% . Das heißt auch, 37% mehr als 1/3 der Wahlberechtigten, nahmen an der Wahl nicht teil. Aber von den angetretenen Parteien wird den Wählern ein klares Votum suggeriert. Ist das wirklich so klar bei einer „Enthaltung“ von mehr als einem 1/3 des Wahlvolkes?
Prinzipiell wird der Wähler genau so ver ….. arscht wie bei den Wahlen im Osten des Landes bis 89. mit dem Unterscheid, dass es 90% der Bevölkerung gewußt haben, das die 99.98% für die „Parteien der Nationalen Front unter Führung der SED“ erstunken und erlogen waren. Also, im Buntland Germany nichts Neues.
MIT freundlichen Grüßen aus der Erfurter Republik

Was hat Ihr Kommentar mit dem Thema des Artikels, der Flutkatastrophe,
zu tun? Richtig: Nichts! Einfach einen "raushauen"...
Mit freundlichen Grüßen aus der Bundesrepublik Deutschland.
(Eine "Erfurter Republik" ist mir unbekannt).

John Berger | So., 9. Oktober 2022 - 17:54

Diese Parteien, die nicht nur die Staatsanwaltschaften gekapert haben, sondern auch das Bundesverfassungsgericht, sind die wahren Feinde der Demokratie. Was für ehrlose und unfähige Leute.

Wolfgang Tröbner | Mo., 10. Oktober 2022 - 09:08

Antwort auf von John Berger

ist nichts hinzuzufügen. Man kann es nur wiederholen: Die beiden Regierungsparteien in Rheinland/Pfalz sind die "wahren Feinde der Demokratie. Was für ehrlose und unfähige Leute"

Maja Schneider | So., 9. Oktober 2022 - 19:23

Fassungslos liest man den Inhalt dieses informativen und detaillierten Beitrags und stellt für sich fest, dass das Vertrauen in die Politik und ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Bürgern zu Recht bei vielen Menschen völlig verloren gegangen ist und auch nicht so schnell wiederkommen wird, was sich allerdings mit Sicherheit nicht nur auf die hier geschilderten ungeheuerlichen Vorgänge bezieht.

Fritz Elvers | So., 9. Oktober 2022 - 21:45

landete ein gerade noch gerettetes Ehepaar an, resulute Ehefrau und dementer Ehemann. Ihr Sohn, ein Arzt am Klinikum, hatte alles organisiert. Sie waren jetzt gut aufgehoben, aber standen noch einigermaßen unter Schock.

Es gab vor und in der Flutnacht keinerlei Warnungen, keine Polizei-Lautsprecher, keine Freiwilligen, die von Haus zu Haus gingen.

Ihr Sohn musste sich zu ihnen durchschlagen, als sie bemerkten, dass das Haus schon im Wasser stand.

Es war so unfaßbar, das von den Geretteten erzählt zu bekommen. Es war alles für den Katastrophenschutz vorhanden, auch Bundeswehr war nicht weit. Nur die Entscheidungsträger wollten anscheinend nicht gestört werden.

Gisela Hachenberg | Mo., 10. Oktober 2022 - 00:11

Lieber Herr Paul, wie immer ein toller, gut recherchierter Artikel. Ich wette, dass Lewentz auch nach der Sitzung am 12. Oktober im Amt sein wird! Bei so viel Unterstützung durch Untergebene, die alles tun, um einen Rücktritt ihres Dienstherren zu verhindern, wird es nicht anders laufen, leider! Da glühen doch jetzt schon die Drähte und Leitungen heiß. Da kommen die „Durchsagen“ direkt von oben, wer was zu sagen hat. Politik ist ein dreckiges Geschäft! Die heutigen Politiker, egal welcher Couleur, widern mich nur noch an. Und „Landesmutter“ Malu Dreyer mit ihrem falschen Lächeln ist für mich eine der Schlimmsten und Falschesten. Bin gespannt, was am 12. Oktober entschieden wird. Ich glaube, bei dieser Konstellation, nicht an Gerechtigkeit. Ich würde es den geschädigten Menschen im Ahrtal wünschen, dass endlich die Wahrheit siegt!!!

Albert Schultheis | Mo., 10. Oktober 2022 - 00:17

Im Gegenteil, sie erhöhen das Vertrauen, sie spornen diese Politik sogar noch an, mit ihrem "Weiter so!" und "Mehr noch vom Selben!" - Siehe NRW-Wahl. Man könnte verzweifeln angesichts der unergründlichen Weisheit der deutschen Wähler - zu ihren Gunsten kann man eigentlich nur sagen, dass das Lager der Nichtmehrwähler immer größer wird. Nur ist das natürlich gar keine Lösung. Fazit: Das Land und das Volk liegt in den Händen von Halunken, die von immer weniger Menschen für die Guten gehalten werden. Aber weil Kritik und Widerspruch von diesen erfolgreich als "Nazi" etikettiert wurden, bleibt den feigen Unzufriedenen nur das Exil - das innere oder das äußere! Beides ist gleichermaßen desaströs für unser Land.

Hans Jürgen Wienroth | Mo., 10. Oktober 2022 - 07:51

Danke für diesen ausführlichen Bericht. Ich wünsche mir hier eine Fortsetzung über das Versagen dieser Landesregierung bei der Beseitigung der Schäden. Mehrfach wurde berichtet, dass die „bereitgestellten“ Gelder bei den Geschädigten noch nicht angekommen seine, Soforthilfen von Handwerkern für ihre Kollegen im Ahrtal als „EINNAHMNEN“ versteuert werden sollten etc.
Da setzt sich nach meinem Eindruck das große Versagen fort. Aus meiner Sicht eine Grundlage, diese „verantwortungsvolle“ Politik auch auf Bundesebene als Muster zu nehmen, sollte der Winter kälter sein als von der Bundesregierung eingeplant.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 10. Oktober 2022 - 08:45

Warum wurden die Videos auf einer externen Festplatte gefunden? Solche Übertragungen aus dem Heli werden seit Jahren zumindest in Hessen, direkt dorthin übertragen, wo sie benötigt werden und dort auf dienstlichen Rechnern gespeichert. Mindestens in die einsatzführende Befehlsstelle der Polizei, wenn erforderlich und gewünscht direkt ins immer besetzte Lagezentrum im jeweiligen Innenministerium. Dort sitz ein Beamter höherer Dienst, der sofort und gleich den Staatssekretär oder den Minister selbst erreichen kann. Die Angst einer Fehlentscheidung im LZ im IM bringt viele dortige Lagebeamte schnell dazu, den "Chef" anzurufen. Ich denke mal, das ist auch geschehen, Nur wenn der schon bei den ersten Wetterwarnungen keine Bock hat, dann will der nachts seine Ruhe und delegiert alles zurück. Eines muss klar sein. Fällt Lewentz, was ich absolut hoffe, fällt auch Maly Dreyer und das weiß sie. Deshalb auch der "mutige" Schritt, jetzt offensiv medial gg. Lewentz zu berichten. Danke Herr Paul.

Urban Will | Mo., 10. Oktober 2022 - 11:07

ein neues.
Wenn man seit Jahren in verantwortungsvoller Position beschäftigt ist und ließt, was da in RP so alles abging und noch abgeht, dann kann einem schon mal der Hut hochgehen.

Da hockt die Landeschefin, die diese ganze schäbige Arie zu verantworten hat, auch medial an zentraler Stelle und genießt eine Allmacht, die sich nur in Bananenrepubliken oder Diktaturen wieder findet.
Und genau so lief das da ab.
Himmelschreiende Inkompetenz, ggs. Schuldzuschiebungen und als Sahnehäubchen ganz oben: das Reinehalten des eigenen weißen Westchens.
Man ließ Menschen entweder bewusst fahrlässig oder aus Inkompetenz sterben. Beides gleich widerlich.
Pfui Teufel.
Mal schauen, wie weit sich die Staatsanwaltschaft auch noch lenken lässt.

Schuld- oder Schamgefühle sucht man schon länger vergebens in der deutschen Politik, aber das hier setzt allem die Krone auf. Anstatt zu kaschieren sollten diese Versager um die „liebe Frau Dreyer“ auf Knien an der Ahr entlang rutschen und um Vergebung bitten

Konstantin von Buttlar | Mo., 10. Oktober 2022 - 17:41

Wieder mal ein toller Bericht von Herrn Paul.
Jeder normale Mensch würde sich "zu Tode" schämen und die Verantwortung für sein offenkundiges Versagen übernehmen.
Nicht so unsere V O L K S V E R T R E T E R,
egal welcher politschen Coleur.
Ich hoffe, das diese Menschen am Ende doch
die ganze Härte des Gesetzes trifft.