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Jan Siefke/Cicero

China - Waldorfschule statt Kommandodrill

Pisa war gestern, auch in China. Eltern gründen dort Waldorfschulen. Sie wollen, dass ihre Kinder spielen statt exerzieren. Es ist auch eine Rebellion gegen die Gesellschaft – und die Partei

Autoreninfo

lebt seit 1999 in Peking. Als freier Korrespondent schreibt er regelmäßig für brand eins, die NZZ und die Frankfurter Rundschau.

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Acht Uhr morgens. Für andere chinesische Kinder beginnt der Schultag mit Flaggenappell und Nationalhymne. Lianlian fängt beim Kaninchenstall an. Mit geübten Griffen öffnet die Elfjährige das Türchen und setzt die beiden Mümmler liebevoll auf die Wiese. Ein paar Minuten spielt sie mit ihnen, dann fegt sie den Stallboden, legt ihn mit frischen Grasbüscheln aus, füllt die Wasserschale neu auf. Die Kaninchen hoppeln derweil bis zum Gartenzaun, wo Lianlians Mitschüler sie einfangen und wieder zum Stall bringen. Auf der Treppe des Hauses ist der Lehrer Huang erschienen und klatscht in die Hände. Erste Stunde: Tai-Chi-Unterricht. Die Nanshan-Schule in einem Dorf außerhalb Pekings ist eine der ersten chinesischen Waldorf-schulen. Die flachen, im Bauernhausstil errichteten Gebäude sind umgeben von einem Garten, in dem es neben den Kaninchenställen auch Spielgeräte, Tischtennisplatten, Fußballtore, einen künstlichen Wasserfall und einen Pavillon gibt. Eine Obstplantage gehört ebenfalls zur Schule. 80 Kinder lernen nach den Grundsätzen der Rudolf-Steiner-Pädagogik: ohne Noten oder Leistungsdruck, mit viel Zeit für Kunst und Musik und im ständigen Kontakt mit der Natur. Was in Deutschland und anderen westlichen Ländern seit fast 100 Jahren praktiziert wird, ist in China revolutionär, und das nicht nur im pädagogischen Sinne.

Denn die Eltern, die die Nanshan-Schule seit vier Jahren in Eigeninitiative aufbauen, entziehen ihre Kinder nicht nur dem staatlichen Schulsystem mit seinem hohen Konkurrenzdruck. Sie wenden sich auch gegen die Grundsätze der modernen chinesischen Gesellschaft: Parteipropaganda, Nationalismus, gleichgeschaltete Presse – das wollen sie ihren Kindern ersparen. „Das offizielle Bildungssystem macht Kinder kaputt“, sagt der Schulgründer Huang Mingyu. „Wir wollen, dass unsere Kinder zu glücklichen, kreativen, selbstständig denkenden Menschen heranwachsen.“ Zweite Stunde: Mathe. Der Raum der vierten Klasse ist grün gestrichen. An den Decken hängt ein Firmament leuchtender Kugellampen. An den Wänden hängen Kalligrafien, in der Ecke lehnen große Stöcke, Requisiten für das Klassentheater. Lianlian und ihre rund 20 Klassenkameraden berechnen Flächengrößen. Einige stehen mit Lehrer Huang an der Tafel und malen mit bunter Kreide geometrische Formen. Andere knien mit Maßbändern auf dem Boden und messen die Fliesen aus.

Die Waldorfschule entschleunigt
 

Wer die Aufgaben zu einfach findet, schreibt sie noch einmal in Englisch in sein Heft – oder geht in den Garten spielen. In herkömmlichen chinesischen Schulen würde man über solch fröhliches Durcheinander nur den Kopf schütteln. Dort herrschen Disziplin und Frontalunterricht. Das chinesische Bildungssystem ist die wohl größte Auslesemaschine der Welt. Schon in der Grundschule werden gute Schüler an bessere Schulen befördert und schlechte degradiert. Sitzplätze in der Klasse werden oft nach Leistung zugeteilt und Prüfungs-ergebnisse am Schwarzen Brett veröffentlicht. Damit die Kinder im Konkurrenzkampf bestehen können, organisieren ihre Eltern Nachhilfestunden bis tief in die Nacht.

Zielpunkt des chinesischen Schülerlebens ist die „Gaokao“, die dreitägige zentrale Hochschulaufnahmeprüfung am Ende der zwölften Klasse. Nur etwa 10 Prozent der 20 Millionen Kinder eines Jahrgangs bekommen einen Studienplatz an einer guten Universität. Der Erfolg scheint dem System recht zu geben. Als Schanghais Schüler 2010 erstmals am Pisa-Test teilnahmen, gingen sie als Gesamtsieger daraus hervor. Vor allem in Mathematik und Naturwissenschaften waren sie stark. Kurz nach den Pisa-Ergebnissen sorgte das Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother“, auf Deutsch unter dem Titel „Die Mutter des Erfolgs“ erschienen, für Furore. Darin schildert die chinesischstämmige US-Autorin Amy Chua die harten Methoden, mit denen sie ihre Töchter zur Verzweiflung, aber auch zum Erfolg trieb. Der als Memoiren getarnte Erziehungsratgeber spielt zwar nicht in der Volksrepublik, sondern im Umfeld der amerikanischen Eliteuniversität Yale. Doch Chua stellt sich ausdrücklich in die Tradition des chinesischen Bildungssystems und wirft westlichen Eltern vor, das Potenzial ihrer Kinder ungenutzt zu lassen.

 

Das Buch löste nicht zuletzt deshalb heftige Diskussionen aus, weil viele Rezensenten es vor dem Hintergrund westlicher Sorgen um die eigene wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit lasen. Damit aber begeistert sich das Ausland just in dem Moment für Chinas Bildungssystem, da die Chinesen selbst große Zweifel bekommen. Kann ein Schulsystem, das auf standardisiertes Wissen setzt, die innovativen Köpfe hervorbringen, die eine moderne Wissensgesellschaft braucht? Vierte Stunde: Englisch. Kenny Prenksamar begrüßt jedes Kind mit Handschlag. „Good morning, Miss Lotus“, empfängt er Lianlian. Prenksamar kommt von den Philippinen, lebt seit zehn Jahren in China und hat früher an einer renommierten Pekinger Mittelschule unterrichtet. „Da ging es vor allem darum, Lehrbücher durchzuarbeiten“, erzählt er. „Frei sprechen und kommunizieren konnten die Kinder nicht.“ An der Nanshan-Schule geht es interaktiver zu. Prenksamar stellt einen Wandschirm auf, hinter dem sich die Kinder abwechselnd verstecken und den Rest der Klasse raten lassen, was sie dort tun. „Is he jumping?“ „No, he is not.“ „Is he kissing?“ Die Klasse johlt. Zwei Monate lang steht Englisch auf dem Lehrplan, dann wird es gegen Japanisch ausgetauscht. So soll verhindert werden, dass die Kinder einer Sprache überdrüssig werden.

An der Nanshan-Schule lernen nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer. „Wir sind noch im Aufbau, und viele von uns haben früher in anderen Berufen gearbeitet“, erzählt Schulleiter Huang Mingyu. „Diese Waldorfschule ist für uns alle ein großes Abenteuer.“ Huang ist ein schmaler Mann mit leuchtenden Augen und der warmen Aura eines spirituellen Meisters. Bevor er Lehrer wurde, betrieb der 41-Jährige in Peking einen Verlag für Ratgeber und esoterische Schriften, ein großer Markt in einem Land, dessen turbokapitalistischer Veränderungsrausch viele Sinnfragen aufwirft. Zu seinen erfolgreichsten Titeln gehörten Erziehungshandbücher für junge Eltern. „So habe ich zum ersten Mal von Waldorfpädagogik erfahren“, sagt Huang. Er wünschte sich, dass seine Tochter Yitian einmal in so eine Schule gehen könne.

Der Schulleiter wollte, dass seine Tochter glücklich mit der Schule ist
 

Als Yitian 2005 ins Kindergartenalter kam, gründete Huang mit Freunden eine Waldorfgruppe. Sie mieteten eine Wohnung, malten die Wände bunt an, kauften Holzspielzeug und engagierten eine Erzieherin, der sie Waldorfliteratur zu lesen gaben. Die Kinder waren glücklich, und die Eltern waren es auch. Doch dann kam Yitian in die Schule, und der Elan, mit dem sie früher in den Kindergarten gegangen war, verschwand. „Sie war eine gute Schülerin, aber sie hatte keine Freude am Unterricht“, berichtet Huang. „Die Vorstellung, dass es nun zwölf Jahre so gehen sollte, war für mich unerträglich.“ Nach einem halben Jahr beschloss Huang, Pekings erste Waldorfschule zu eröffnen.

Gleichgesinnte fand er schnell, aber keine qualifizierten Lehrer. Deshalb entschied Huang, sein Verlagsgeschäft in die Hände seiner Frau zu geben und selbst zu unterrichten. Zur Unterstützung stellte er Lehrer für Musik, Kunst und Sprachen ein. Er nahm Kontakt mit Waldorfschulen in anderen Ländern auf und lud Pädagogen ein, die seinem Team das beibrachten, was sie nicht aus Büchern selbst lernen konnten. Huangs erste Klasse hatte elf Schüler. Zu Beginn des zweiten Jahres waren es bereits 20. Seitdem kommen jedes Jahr noch einmal so viele dazu, denn die Schule soll Klasse um Klasse nach oben wachsen. Finanziert wird der Unterricht über Schulgeld, Profit will Huang nicht machen. 35.000 Yuan, umgerechnet 4300 Euro, bezahlen die Eltern für ein Jahr, eine Gebühr, die sich nur die Mittelschicht leisten kann. Internationale Schulen, die für chinesische Eltern normalerweise die einzige Alternative zum staatlichen Schulsystem sind, kosten ein Vielfaches. Von Anfang an rekrutierte Huang für den Unterricht auch mehrere Kinder aus armen Teilen Chinas, die kostenlos am Unterricht teilnehmen. Eines dieser Kinder ist Lianlian, die mit Huang und seiner Tochter zusammenlebt. Sie stammt aus der Provinz Guizhou und gehört der Dong-Minorität an, zu deren Bräuchen es gehört, dass schon Kinder sich einen Baum aussuchen, aus dem einmal ihr Sarg gezimmert werden soll. Ihre Anwesenheit an der Nanshan-Schule sei keine Wohltätigkeit, sondern der Versuch, möglichst verschiedene Kinder an der Schule zu haben, erklärt Huang. Schließlich kämen die meisten Schüler aus Stadtfamilien und hätten mit der Natur viel weniger Erfahrung als Kinder vom Lande. „Von Lianlian lernen sie, wie man auf Bäume klettert oder mit Tieren umgeht“, sagt Huang. „Das ist für alle Seiten ungeheuer bereichernd.“

Mittagspause. Lianlian und ihre Mitschüler versammeln sich mit ihren Lehrern um große Tische und sprechen das Steiner’sche Tischgebet: „Das Brot vom Korn, das Korn vom Licht, das Licht aus Gottes Angesicht.“ Das Essen wird in großen Blechschüsseln serviert: Reis, Rührei mit Tomate, Spinat. Alle Zutaten kommen von einem nahe gelegenen Ökohof, auf dem die Kinder mithelfen. Nach dem Essen tragen sie ihre Schüsseln und Essstäbchen in die Spülküche und waschen sie mit Teepulver ab. Dann gehen sie in den Garten oder zum Lesen in die Bibliothek. Bis zum Beginn des Nachmittagsunterrichts gibt es eine Stunde Freizeit. Staatlich anerkannt ist die Nanshan-Schule nicht, und seine Kinder dorthin zu schicken, ist streng genommen ein Verstoß gegen die Schulpflicht. Doch die Behörden überprüfen nicht, ob Eltern ihre Kinder zum Unterricht schicken, und lassen Huang gewähren. „Wir versuchen nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt der Schulleiter. So verzichtet die Schule auf einen Internetauftritt. Trotzdem hat sich ihre Existenz herumgesprochen, und Huang bekommt Anfragen von Eltern aus dem ganzen Land, die ihre Kinder anmelden wollen. Aufnehmen kann er nur einen Bruchteil. „Das Interesse zeigt, wie viele Eltern das chinesische Schulsystem ablehnen“, sagt er. „Aber unser Ziel ist nicht, möglichst groß zu werden, sondern möglichst gut.“ Inzwischen ist die Nanshan-Schule auch nicht mehr die einzige in Peking. Zwei weitere Elterngruppen bauen eigene Schulen auf.

Im südwestchinesischen Chengdu existiert schon länger eine Waldorfschule, auch in anderen Städten gründen sich Initiativen. Sein Kind dorthin zu schicken, ist allerdings eine Entscheidung mit Folgen. Denn der Weg zurück ins staatliche Schulsystem ist nur schwer möglich, und ohne „Gaokao“ bleibt den Kindern der Zugang zu Chinas Universitäten versperrt. Es bleibt dann nur der Weg ins Ausland oder an eine teure Privathochschule. „Die Reichweite unserer Entscheidung war uns bewusst“, sagt Wei Chunyan, deren Sohn mit Lianlian in die vierte Klasse geht. „Aber was nützt einem Kind ein Studienplatz, wenn es seelisch kaputt ist?“ Außerdem wolle sie sich nicht dem gesellschaftlichen Druck unterwerfen, dass ein Studium der einzig mögliche Weg zum Glück sei. Wei war Psychologiedozentin an einer angesehenen Universität, bevor sie mit ihrem Sohn an den Rand von Peking zog, um ihn auf die Nanshan-Schule schicken zu können. Das Geld verdient ihr Mann, der jeden Tag die lange Fahrt in die Stadt macht. Für die Familie sei das keine einfache Situation, aber sie und ihr Mann hätten es nicht ertragen können, ihr Kind an einer staatlichen Schule zu wissen.

„Wir haben ja selbst das chinesische Bildungssystem durchgemacht“, erklärt sie. Dort gebe es keinen Respekt für die Kindheit, und statt eigene Interessen und Meinungen zu entwickeln, würden die Schüler zu Reproduktionsmaschinen erzogen. „Aber wie soll man durchs Leben gehen, wenn man nicht weiß, was man will und wer man ist?“ Andere Eltern haben auch politische Motive. „An den Schulen wird ein Bild von China und seiner Geschichte vermittelt, das nicht der Wahrheit entspricht“, sagt eine Mutter in Anspielung auf dunkle Kapitel wie die Kulturrevolution oder das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. „Ich möchte, dass meine Kinder ein korrektes Bild von ihrem Land bekommen.“ Zwei Uhr nachmittags. Blockflötenunterricht. Der Musikraum hat den Stil eines Rittersaals in einem Fantasyfilm: Wände aus grob behauenen Natursteinen, ein großer Kamin, ein Baum mitten im Raum.

Es gibt Widerstand gegen das staatliche Bildungssystem
 

Das Ambiente ist der Nachlass eines gescheiterten Landclubs, für den die Anlage gebaut wurde, bevor die Schule vor zwei Jahren hier einzog. Die Kinder spielen zusammen ein Volkslied, dann verteilt Lehrer Zhang Notenblätter, mit denen sie sich einzeln oder zu zweit in verschiedene Ecken des Raumes zurückziehen. „Hör mal“, sagt Zhang und spielt Lianlian die Mozart-Melodie vor, die er für sie ausgesucht hat. Er studierte am Pekinger Konservatorium und hätte Lehrer an einer guten staatlichen Schule werden können, wo er deutlich mehr verdienen würde. „Aber chinesische Kinder lernen ihre Instrumente meist nur, weil es an der Schule dafür Sonderpunkte gibt“, erklärt Zhang. „Hier machen wir Musik, weil es Freude macht.“ Noch ist die Nanshan-Schule in China ein Randphänomen. Doch wie explosiv die Idee ist, das traditionelle Bildungssystem infrage zu stellen, zeigte sich, als vergangenes Jahr in China das Buch „Das verzeihe ich euch nie!“ erschien. Das Werk des 22-jährigen Autors Zhong Daorans war eine schonungslose Abrechnung mit seiner Schulzeit. „In der Grundschule rauben sie uns die eigenen Wertevorstellungen, in der Mittelstufe das selbstständige Denken und in der Hochschule unsere Ideale und Träume“, schreibt Zhong. „Am Ende sieht es in unserem Hirn so leer aus wie in der Unterhose eines Eunuchen.“

Das Buch machte Furore. Chinesische Mittelschüler begannen zu demonstrieren und die Autorität ihrer Lehrer infrage zu stellen. Im Internet formierten sich Fanclubs. Als Jugendliche mit der Parole „Das verzeihe ich euch nie!“ die Schule schmissen, schritt das Erziehungsministerium ein und ließ das Buch auf die schwarze Liste setzen. Die Regierung wollte verhindern, dass eine Sinnkrise Chinas Jugend von der Aufgabe ablenkt, die ihr die Gesellschaft seit Jahrhunderten vorschreibt: fleißig zu lernen. Vier Uhr nachmittags. Die Kinder strömen auf den Sportplatz am Haupttor, wo ihre Eltern auf sie warten. Nicht alle wollen gleich nach Hause. Lianlian spielt mit einigen Kindern Hüpfseil. Der Musiklehrer Zhang kommt mit einem Fußball, stellt sich ins Tor, und im Nu bolzen sie fröhlich: Kinder, Eltern, Lehrer, alle zusammen. Wer weiß, was aus, den Kindern der Nanshan-Schule einmal wird. Aber hier und jetzt sind sie glücklich.

Bernhard Bartsch beobachtet seit Jahren das rigide chinesische Bildungssystem und war ebenso überrascht wie begeistert, dort Waldorfschulen zu entdecken.

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