- „Afghanistan bietet keinen Heimatboden für den IS“
Nistet sich der „Islamische Staat“ nun auch in Afghanistan ein? Ex-Präsident Hamid Karsai verneint das. Zwar habe sich in seinem Land die Sicherheitslage verschlechtert, doch zugleich sei es demokratischer geworden. In Bochum sprach er mit Altbundespräsident Christian Wulff
Es sagt sich leicht, dass jene Flüchtlinge zurückkehren sollten, deren Land nicht mehr bedroht ist. Aber wer vermag das wirklich zu beurteilen? In Afghanistan schwankt selbst der langjährige Präsident Hamid Karsai zwischen Vorsicht und Entspannung.
Tausende minderjährige Afghanen sind inzwischen nach Deutschland gekommen. Aus ihrer Heimat zieht die Bundeswehr ab – was Karsai richtig findet. Zugleich bittet er Deutschland darum, sich vorerst noch um die gestrandeten Jugendlichen zu kümmern – bis Afghanistan so weit sei, ihnen „ein Leben zu geben in Sicherheit“.
Sein Land leide unter dem Terrorismus, „der gehört zum täglichen Leben“, klagt der Gründungspräsident. Daneben gebe es aber „enorme Veränderungen und Verbesserungen“ und eine lebendige afghanische Gesellschaft. Das machte er vor etlichen Exil-Afghanen deutlich, die ihm begeistert zuhörten. Karsai war zu Gast in Bochum-Wattenscheid. „Herausforderung Zukunft“ heißt ein Dialog-Projekt, das Elder Statesmen zusammenbringt.
Erstmals IS-Aschläge in Afghanistan
Karsais Dialogpartner war ein anderer vormaliger Präsident: Christian Wulff. Er hatte Karsai 2011 als erster Bundespräsident seit 44 Jahren besucht und den Afghanen den Truppenabzug angekündigt. „Wir lassen Afghanistan nicht im Stich“, hatte Wulff damals versprochen.
Heute warnt er vor einem verzerrten Afghanistan-Bild in Deutschland und sprach in Bochum recht eindringlich: „Wir müssen uns hüten, dass wir mehr darüber wissen, wie Afghanen sterben, als darüber, wie sie leben.“ Afghanistan sei „mehr als Krieg und Terror“.
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit dem begonnenen Abzug ausländischer Soldaten allerdings sichtlich verschlechtert. Immer häufiger werden Angriffe auf afghanische Militärs oder Polizisten gemeldet – meist in Gebieten, in denen die Isaf ihre militärische Hoheit abgegeben hat. Die düstere Bilanz des Jahres 2014 sind über 10.000 getötete und verletzte Zivilisten, fast ein Viertel mehr als ein Jahr zuvor. Und die höchste Zahl seit fünf Jahren.
Lange Zeit galt Afghanistan als strategische Ostgrenze zum „Islamischen Staat“. Nun aber haben sich erstmals Terroristen des IS zu Selbstmordanschlägen bekannt.
Mittlerweile „eine Demokratie“, sagt Karsai
Droht Afghanistan nun abermals ein Schreckensstaat zu werden, ein „islamisches Kalifat“, das die einstige Taliban-Herrschaft als vergleichsweise friedlich erscheinen ließe?
Karsai schließt das rundweg aus: „Afghanistan wird niemals ein Land sein, das der IS führen könnte“, sagte Karsai dem ZDF. Der IS wurzele in den Golfstaaten, argumentiert Karsai. „Afghanistan bietet keinen Heimatboden für den IS. Deshalb bin ich sicher, dass es dem IS nicht gelingen wird, Einfluss in Afghanistan zu haben.“
Doch das hätte man auch über den Saudi Osama bin Laden vermuten können. Seinetwegen begann der längste Krieg, den die USA jemals gemeinsam mit den Europäern führten. Keinen Monat nach dem Einsturz des World Trade Centers begannen die Amerikaner, afghanische Felsformationen zu bombardieren, von denen die Welt nie zuvor gehört hatte.
Heute sei Afghanistan trotz aller Probleme ein anderes Land, sagt Karsai, und zwar „eine Demokratie“, in der die große Mehrheit islamischen Extremismus ablehne. Was stimmt: Er selbst ist der erste lebende Beweis eines vergleichsweise hochdemokratischen Machtwechsels in der fast hundertjährigen Geschichte des Staates Afghanistan. Dort herrscht inzwischen tatsächlich Pressefreiheit – auch wenn die Mehrheit der 30 Millionen Einwohner noch nicht lesen können. Doch es gibt inzwischen elf Millionen Schulkinder, von denen 40 Prozent Mädchen sind. Zum Ende des Talibanregimes duften bloß 900.000 Jungen zur Schule gehen.
Karsai sagt, das seien Erfolge des Westens wie seiner Landsleute. Sie wollten die neue Freiheit. „Das alles zeigt, dass wir keine extremistische Gesellschaft sind.“ Sein Volk lehne – obgleich streng muslimisch – religiösen Radikalismus ab.
Korruptionsvorwürfe an die USA
Extremistengefahren habe der Westen woanders unterschätzt. „Die internationale Gemeinschaft hätte sich mehr auf die Wurzeln des Terrorismus konzentrieren sollen, seine Geldgeber und seine Ausbildungsgebiete anstatt auf afghanische Dörfer und afghanische Häuser zu zielen.“
Solche Kritik an dem Einsatz hat Karsai in den USA in Ungnade fallen lassen. Dort ist man erleichtert, nun mit seinem Nachfolger, dem einstigen Weltbankmanager Ghani, einen zugänglicheren Partner zu haben. Karsai warfen den Amerikanern zum Schluss vor, korrupt zu sein.
Korruption sei zweifellos ein Problem in Afghanistan, gibt der Ex-Präsident zu. Er selbst sei aber „ein sehr sauberer“ Staatsmann: „Ich lebe von dem Geld, das die Regierung mir gibt. Ich besitze keinen Grund und Boden in Afghanistan und auch sonst nirgends auf der Welt. Ich habe auch keine Konten außer eines in Deutschland. Das ist 20 Jahre alt und darauf liegen rund 10.000 Dollar seit damals.“
Karsai lebt in Kabuls Zentrum – obwohl auf keinen Präsidenten mehr Attentate geplant worden sein sollen als auf ihn. Altbundespräsident Wulff versprach, seinen Ex-Kollegen Karsai baldmöglichst wieder – diesmal privat – in dessen Heimat besuchen zu wollen.
Unwahrscheinlicher ist, dass die in Deutschland lebenden Flüchtlinge in ihr von Karsai gelobtes Land zurückkehren wollen – jedenfalls gewiss nicht mehr als Minderjährige.
Fotos: picture alliance
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