Der Janusköpfige
Tariq Ramadan präsentiert sich gern als weltoffen, gebildet und smart. Den jungen Muslimen in Europas Vorstädten gilt er als Idol, für viele Intellektuelle ist er der Vorzeige-Muslim. Doch tatsächlich predigt er einen rückwärtsgewandten Islam
Ist von der Integration der Muslime in Europa die Rede, fällt der Name Tariq Ramadan. Während britische Intellektuelle wie Timothy Garton Ash den charismatischen Mann für die wichtigste Stimme der europäischen Muslime halten, bezeichnet ihn Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner als „intellektuellen Lumpen“. An dem Islamwissenschaftler aus Genf scheiden sich Europas Geister.
Selbstbewusst und redegewandt vertritt Ramadan seine Auffassung vom Islam. „Es gibt keine islamische Theologie“, hat er wiederholt verkündet. Die islamische Philosophie habe nur der Bestätigung der göttlichen Offenbarung gedient: „Und wenn ein Denker aus seinen bloß eigenen Kräften zur Wahrheit gelangen wollte, begegnete ihm in Al-Ghazali ein entschiedener Gegner, der dieses Unterfangen als ‚Krankheit‘ betrachten würde.“ Die Vernunft hat keinen Platz in Ramadans Denken, es gibt nur den Verstand, mit dessen Hilfe die Zeichen Gottes, die auf ihn als allmächtigen Schöpfer hinweisen, wahrgenommen werden.
Folgt man Ramadans Argumentation, dann wurde der Mensch als Gläubiger erschaffen, und das freie Denken dient lediglich dazu, den Glauben in uns zu entdecken. Es bedeutet, niemals Gott zu definieren, wie in der jüdisch-christlichen Kultur geschehen. Das habe nur zu Zweifel geführt, zum Glaubensverlust und zur Säkularisierung. Der materialistische dekadente Westen erlebe eine Sinnkrise, dagegen stehe die islamische Welt fest in ihrem Glauben und in einer perfekten Harmonie mit dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Das kommt bei jungen Muslimen in Europas Vorstädten gut an. Endlich präsentiert sich ein Vorzeigemuslim selbstbewusst und eloquent.
Was Ramadan in seinen wortgewaltigen Ansprachen unterschlägt, ist die zentrale Leistung der islamischen Aufklärung im 19. Jahrhundert. Die sogenannte Nahda propagierte die Wiederbelebung der Vernunft und die Anknüpfung an die seit Jahrhunderten verschwundene islamische Theologie. Man wollte die klassische islamische Doktrin überwinden und zu den Grundlagen der Religion, zu Koran und Sunna zurückkehren, um sie im Lichte der Moderne neu zu interpretieren. Dieser Lehre sehen sich Liberalreformer verpflichtet, die keinen Widerspruch zwischen Säkularisierung und Islam sehen.
Tariq Ramadan gehört nicht zu dieser aufgeklärten Schule. Im Gegenteil. Er verunglimpft sie als fünfte Kolonne des Westens, die er – ganz dem Rationalismus und der historisch-kritischen Methode verpflichtet – bekämpft. Er sieht sich selbst als Erbe der Salaf und weicht nicht von der klassischen Doktrin ab. Als selbst ernannter Salafireformer steht er in der Tradition der Muslimbruderschaft – das Urbild aller militanten Islamistengruppen, die sein Großvater, der Ägypter Hassan al-Banna, 1928 begründete. Mit einer plumpen Manipulation der modernen islamischen Kulturgeschichte versuchte Ramadan in seiner Doktorarbeit seinen Großvater in die Tradition der Nahda einzureihen. Entgegen der in Ost und West herrschenden Auffassung erklärt er die Salafiten und nicht die Liberalreformer als zu Erben der islamischen Aufklärung. Seine Promotion wurde zunächst als ideologisch und tendenziös abgelehnt. Doch wie so häufig fand Ramadan Befürworter, die ihm schließlich den Doktortitel verliehen. Er ist stets auf wohlmeinende Menschen gestoßen, die glauben, er verkörpere den europäischen Islam und erfülle eine wichtige Funktion bei der Integration junger Muslime.
Wie sehr Ramadan spaltet, zeigt ein Beispiel: Während die USA ihn wegen seiner Nähe zu terroristischen Zirkeln ein Einreisevisum verweigern, hat die britische Regierung ihn als Berater zur Bekämpfung des Terrorismus engagiert. Zur Verwirrung trägt auch Ramadans interkulturelle Kompetenz bei, die er geschickt einsetzt. Durch eine semantische Verschiebung lässt er das Kopftuch als Symbol der Emanzipation der Frau erscheinen, den Einsatz für die Scharia als Kampf gegen Materialismus und Kapitalismus, den Islamismus als antiimperialistische Befreiungsbewegung und seine Angriffe gegen Saudi-Arabien als Modernisierung des Islam.
Tariq Ramadan, der 1962 in der Schweiz geboren wurde, wuchs in einem islamistisch beherrschten Elternhaus auf. Als Muslimbruder in Ägypten verfolgt, floh sein Vater nach Genf und gründete dort das Islamische Zentrum, das zur Pilgerstätte für Islamisten wurde. Mit achtzehn begann Tariq Ramadan selbst zu unterrichten. Er engagierte sich neben Linken, Humanisten und Christen in den Gewerkschaften und für die Dritte Welt. Gleichzeitig beschäftigte ihn seine islamische Identität infolge der iranischen Revolution von 1979 immer mehr. 1989 beschloss er, öffentlich Politik als bekennender Muslim zu betreiben. Das kam zunächst nicht gut an. Ramadan beklagt: „Meine Aussagen hatten sich nicht geändert, meine pädagogische, soziale und politische Kritik war dieselbe geblieben, was aber in einem bekannten Bezugsfeld anerkannt und respektiert war, wurde kritisiert und abgelehnt, sobald man es mit der Etikette ‚muslimisch‘ versah.“ Besser kann man die semantische Verschiebung nicht beschreiben.
Was Ramadan, genau wie die Muslimbrüder, hier vollzieht, ist die Islamisierung der Modern. Beide betrachten sich als Salafireformer und erklären alles, was den Prinzipien des Islam nicht widerspricht, als islamisch. Für die Salafireformer ist alles erlaubt, was im Islam nicht ausdrücklich verboten ist. Für die wahabitischen Salafiten ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Beiden gemein ist, dass sie den Boden der klassischen Doktrin nicht verlassen und sich daher schwerlich mit der autonomen Vernunft, geschweige denn mit den Menschenrechten, versöhnen können. Genauso wenig wie Tariq Ramadan.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.