Portrait - Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind

W. G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biografische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann

Zwei Ereignisse in den frühen 1980er Jahren dürften dazu beigetragen haben, dass W. G. Sebald – zu jener Zeit Dozent für Literaturwissenschaft an der University of East Anglia in Norwich – zu der einzigartigen literarischen Form fand, die ihn als Schriftsteller fortan auszeichnen sollte. Während eines Besuchs bei seinen Eltern in Sonthofen im Allgäu fiel ihm ein Foto-Album in die Hände, das sein Vater – damals Wehrmachtssoldat im so genannten Polen-Feldzug – 1939 zur ersten Kriegsweihnacht als Geschenk für die Mutter angelegt hatte.

Die Fotos waren säuberlich eingeklebt und beschriftet und zeigten verschiedene Kriegsszenen, da­run­ter ganze Dörfer, die bis auf die Grundmauern zerstört waren und deren Kamine noch rauchten; zu sehen war ferner, hinter Stacheldraht, eine junge Zigeunerin, die lächelnd ihr Kind an sich drückte. Dieses Album erwies sich nicht nur deshalb als beunruhigend, weil Sebald dadurch mit der militärischen Vergangenheit seines Vaters konfrontiert und gezwungen wurde, sich mit der Frage nach dessen Aktivitäten im Krieg auseinander zu setzen («Ich weiß immer noch nicht genau, was er getan hat und was nicht»); die Bilder demonstrierten überdies die schwindelerregende Kluft zwischen Sebalds privaten Familien-Erinnerungen und der deutschen Vernichtungsgeschichte.

Ungefähr zur gleichen Zeit, Anfang Januar 1984, erhielt Sebald einen Telefonanruf von seiner Mutter. Sie teilte ihm mit, dass sein geliebter Volksschullehrer Selbstmord begangen habe: Der Mann hatte sich ganz in der Nähe von Sonthofen vor einem herankommenden Zug auf die Schienen gelegt. Der Lehrer hieß Armin Müller – in seinem Erzählungsband «Die Ausgewanderten» gab Sebald ihm acht Jahre später den fiktiven Namen «Paul Bereyter».

Wie Sebalds Recherchen ergaben, hatte Armin Müller jüdische Vorfahren. Deshalb war es ihm während der NS-Zeit untersagt, deutsche Kinder zu unterrichten. Diese Entdeckung ließ in Sebald den alten Groll gegen seine Eltern sowie gegen die anderen Sonthofener wieder aufleben, die seinerzeit von den Schikanen gegen den Lehrer Müller gewusst, dies den Kindern aber verschwiegen hatten. Dieses Vertuschungsmanöver erschien ihm als typische Reaktion der Adenauer-Zeit auf den Nationalsozialismus – auch in seiner eigenen Familie.


Leiden am Vater: Stendhal, Kafka, Sebald

Diese beiden Ereignisse bildeten eine Art Kristallisations­punkt für Sebalds erste literarische Prosatexte, für «Schwin­del. Gefühle» (1990) und «Die Ausgewanderten» (1992). In «Schwindel. Gefühle» definiert sich Sebald als einen Schriftsteller in offenem Konflikt mit seinem Vater. Das Buch beginnt mit zwei biografischen Vignetten zu Stendhal und zu Kafka – beides Autoren, die für ihr schwieriges Verhältnis zum Vater berühmt sind. In diese Kapitel ist die Geschichte von Sebalds Rückkehr in sein Herkunftsdorf «W.» (Wertach) hineinverwoben, unter dem von Monteverdi geborgten Titel «Il Ritorno in Patria», der an Odysseus erinnert, der nach Jahrzehnten der Wanderung ins Land seines Vaters heimkehrt. Und wie ein anderer prototypischer Wanderer, «K.» in Kafkas «Schloss»-Roman, steht Sebalds Ich-Erzähler auf der Brücke «kurz vor den ersten Häusern» des Dorfes und schaut «in die nun alles umgebende Finsternis hinein».

Er erinnert sich an das «Zigeunerlager», das in den Nachkriegsjahren während der Sommermonate neben der Brücke existierte. Jedes Mal, wenn sie auf dem Weg zum Schwimmbad an dem Lager vorbeimussten, nahm ihn die Mutter auf den Arm, während die Zigeuner von ihrer Arbeit nur kurz aufschauten und dann den Blick wieder senkten, «als grauste es ihnen».

Der Schlüssel zu diesen vorwurfsvollen, Schuldgefühle hervorrufenden Blicken folgt wenige Sätze später, wenn der Erzähler auf das Familienalbum zu sprechen kommt und das Foto von der Zigeunermutter mit Kind beschreibt, das sein Vater als Weihnachtsgeschenk vom Polen-Feldzug mitgebracht hatte. Die Schuld des Vaters als Soldat der Wehrmacht geht solcherart auf den Sohn über. Die Taten des Vaters im Krieg werden im Folgenden vom Erzähler weder kommentiert noch kritisiert; aber deutlich wird, dass das Zerwürfnis zwischen den Genera­tionen schon lange bestehen muss: «Gut dreißig Jahre war ich nicht mehr in W. gewesen.»

Bader Köpf und der Kopf des Täufers

Beim Engelwirt trägt sich Sebalds Erzähler auf dem Meldezettel als «Auslandskorrespondent» aus England ein. Man weist ihm im ersten Stockwerk ein Zimmer an, das genau dort liegt, wo die Familie früher, als er ein Kind war, zur Miete wohnte. Er erinnert sich an die Möbel, die die Eltern während der Nazi-Zeit angeschafft hatten, «als es nach zwei, drei Jahren zügiger Aufwärtsentwicklung als zweifelsfrei gelten durfte, daß der Vater, der (…) nun im Begriff stand, zum Schirrmeister befördert zu werden, im neuen Reich nicht nur einer gesicherten Zukunft entgegensehen konnte, sondern sogar in einem gewissen Sinne etwas darstellte».

Als reiche diese schneidende Bemerkung nicht schon aus, beschreibt der Erzähler einige Seiten später die wenigen Bücher, die sein Vater besaß – «wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein einem Reisevertreter abgekauft hatte». Trotz des wegwerfenden Tons wird die Angst spürbar, die er als Kind vor seinem Soldatenvater empfand und die er auf einen lokalen Barbier, den «Bader Köpf», projizierte: «Vor nichts fürchtete ich mich mehr, als wenn der Köpf, bei dem ich mir, seit der Vater wieder zu Haus war, jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, mir mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Nacken ausrasierte. Derart tief hat diese Furcht in mich sich eingegraben, daß mir viele Jahre später, als ich zum erstenmal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes auf einer silbernen Platte hereinträgt, sogleich der Köpf in Erinnerung gekommen ist.»


Was Familienfotos alles verraten

Gewiss: «W.» ist nicht gleich Wertach, und «der Vater» ist nicht identisch mit Georg Sebald senior. Der Autor von «Schwindel. Gefühle» war ein geschulter Literaturkritiker; der Unterschied zwischen einer literarischen Figur und der historischen Realität war ihm bewusst. Ähnlich wie Franz Kafka, sein Vorbild in dieser Hinsicht, ließ sich auch Sebald so stark auf die Welt der Literatur ein, dass diese schließlich sein privates «Leben» gänzlich verschlang, von dem sie doch vorgeblich abhängig war. Er übersetzte nicht seine Biografie in Literatur; vielmehr rief er sich, beginnend mit seiner Familiengeschichte, dieses Leben als eine Form von Literatur ins Gedächtnis zurück.

Zu dieser Familiengeschichte gehören Fotografien, etwa ein Bild aus dem Jahr 1949. Die Familie Sebald macht einen Sonntagsspaziergang durch Wertach. Der Vater ist elegant gekämmt und gekleidet; er ist 38 Jahre alt, sieht aber jünger aus. Die Familie hat er um sich gruppiert. Selbstsicher schaut er in die Kamera, lehnt sich leicht zu seiner Frau und seiner Tochter hinüber, die beide pflichtschuldig ihre Rolle spielen. Nur der kleine Sohn, Winfried Georg, spielt nicht mit. Er trägt Lederhosen und Kniestrümpfe. Eine Hand liegt unsicher auf Vaters Knie, aber der sich versteifende Körper des Fünfjährigen rebelliert gegen die inszenierte Familieneintracht, gegen den Mann, den er noch immer nicht als Vater akzeptiert.

Denn die Vaterstelle war bereits besetzt. Sie wurde ausgefüllt von Winfrieds Großvater mütterlicherseits, in dessen Haus in Wertach er im Mai 1944 geboren wurde, als der Vater eingerückt war. Ein Foto aus dem Jahr 1948 zeigt ihn als Vierjährigen in denselben Lederhosen und mit demselben gestreiften Hemd. Großvater und Enkel gehen Hand in Hand – wie Freunde, Gefährten. Vierzig Jahre lang ist der Großvater der Dorfgendarm gewesen, jetzt ist er in Rente, immer noch eine bekannte und geachtete Persönlichkeit im Dorf; für den Enkelsohn ist er Freund, Lehrer und Vater in einer Person. Er habe seinen Großvater «über alles geliebt», wird Sebald ein halbes Jahrhundert später notieren.

Im Haus der Großeltern Josef und Theresia Egelhofer ist Winfried Georg aufgewachsen, fern vom Kampfgeschehen im übrigen Europa. Um dem Luftkrieg der Alliierten zu entgehen, hatte seine Mutter Rosi im August 1943 aus Bamberg Zuflucht im Haus ihrer Eltern gesucht. «Männdle» war der Kosename des Großvaters für seinen spindelbeinigen kleinen Enkel. «Wennst so weitermachst», pflegte er ihn zu necken, «kannst dich gleich hinter einem Besenstiel umziehen.» Er nahm den Kleinen überallhin mit, vor allem auf ausgedehnte Wanderungen im Umland von Wertach.

Generationen-Tribunal im Hause Sebald

Dieses Familien-Idyll wurde im Januar 1947 jäh unterbrochen, als Sebalds Vater aus einem französischen Kriegsgefangenenlager zurückkehrte. Es war ein Fremder, der da in Kempten im Allgäu aus dem Zug stieg. Er wog nur noch 47 Kilo und sprach Deutsch mit ungewohntem Akzent. Vom ersten Augenblick an wurde er von seinem Sohn brüsk zurückgewiesen. Noch jahrelang sollte der Junge seinen Großvater als seinen eigentlichen Vater betrachten. «Es war nicht mein Vater, der mich erzogen hat», sagte Sebald im Jahre 2001 zu einem englischen Journalisten. «Mein Vater kehrte erst 1947/48 aus dem Krieg zurück; in der Nachbarstadt fand er Arbeit; in den darauffolgenden drei Jahren kam er nur an den Wochen­enden nach Hause. Ich habe also die ersten fünf, sechs Lebensjahre unter der Obhut meines Großvaters verbracht, der 1872 im ‹tiefen Süden› geboren wurde.»

Wie viele Deutsche seiner Generation geriet auch Sebald Mitte der sechziger Jahre unter den Einfluss der Studenten-Unruhen und stritt vehement mit seinen Eltern. Er warf ihnen vor, Hitler passiv unterstützt und sich in den fünfziger Jahren, als der Sohn heranwuchs, an der «Verschwörung des Schweigens» beteiligt zu haben. Und wie bei vielen deutschen Familien sind auch bei den Sebalds die Ursachen des Zerwürfnisses viel früher zu suchen: im Trauma vom spätheimkehrenden Vater. Diese Spätheimkehrer kamen als Fremde aus Krieg und Kriegsgefangenschaft zurück – sie waren unwillkommen und nicht geheuer und fanden sich im Zivilleben oft schlecht zurecht.

In den meisten Fällen ließ sich die Entfremdung rasch überwinden. Sebald hingegen kam über dieses Dilemma der zwei Väter nie hinweg. Das Erste, was er 1966 als Student in England tat, war, seine Taufnamen abzulegen – den allzu teutonischen «Winfried» und den «Georg», den er mit seinem Vater gemein hatte. Stattdessen begann er sich «Max» zu nennen, zum großen Missfallen seiner Eltern. Seine dreißigjährige Emigration und seine akademische Karriere in England waren großteils der Ablehnung der kulturlosen Provinzherkunft seines Vaters geschuldet. Dieses Milieu war in den Augen des Sohnes schuld an der Unfähigkeit des Vaters, der NS-Ideologie zu widerstehen. Am deutlichsten aber spiegelt sich Sebalds Dilemma in seinem literarischen Werk – dieses geht einerseits aus von einer mehr oder weniger offenen Zurückweisung des Vaters und andererseits von einem verschleierten Gedenkkult für den geliebten Großvater.


Soldat zwischen Wehrmacht und Bundeswehr

Wer aber waren diese beiden Männer? Man weiß nicht viel über sie, abgesehen von dem, was Sebald selbst in seinen Büchern und Interviews über sie sagt. Einige zusätzliche Fakten sind hilfreich, will man die Rolle verstehen, die die beiden in Werken wie «Schwindel. Gefühle», «Die Ausgewanderten» oder «Austerlitz» (2001) spielen.

Georg Sebald wurde 1911 in Eisenstein geboren, im Bayrischen Wald nahe der tschechischen Grenze, in einer katholischen Unterschichtfamilie. Sein Vater war Bahnarbeiter, hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und engagierte sich in der Gewerkschaftspolitik. Der junge Sebald lernte die Schlosserei. Weil er aber gegen Ende der Weima­rer Republik keine Arbeit finden konnte, wurde er Berufs­soldat und trat wenige Jahre vor Hitlers Machtergreifung in das so genannte «Hunderttausendmannheer» ein, das Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag gestattet war. Als Wehrmachtsoffizier stieg er bis zum Rang eines Hauptmanns auf.

Während eines Skilagers mit seiner Kompanie traf er in Wertach Rosi Egelhofer. Dort heirateten die beiden auch, im November 1936. Im Sommer 1939 wurde Georg Sebald für den Polen-Feldzug mobilisiert. Im Folgenden kämpfte er in vielen Schlachten in Osteuropa, auch in Stalingrad. Wegen einer Knochenhautentzündung wurde er nach Deutschland zurück- und schließlich nach Frankreich umverlegt, wo er bis zum Kriegsende im Einsatz war. Als er im April 1945 die Grenze nach Basel zu überschrei­ten versuchte, wurde er festgenommen und in einem Kriegs­gefangenenlager in Haut Plateau de Larzac interniert. Dort blieb er bis zum Januar 1947.

Laut dem «Fragebogen», den er nach dem Krieg für die Alliierten auszufüllen hatte – und sehr im Gegensatz zu dem Eindruck, den die späteren Berichte seines Sohnes erwecken –, ist Georg Sebald kein Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen. Kurze Zeit arbeitete er in Wertach als Schlosser, ehe es ihm gelang, im benachbarten Sonthofen, wo er bereits vor dem Krieg stationiert gewesen war, bei der Polizei unterzukommen. (Sonthofen war übrigens seit dem Ersten Weltkrieg ein bedeutender militärischer Stützpunkt; im Erziehungssystem des «Dritten Reichs» spielte der Ort eine Rolle – als so genannte «Ordensburg», als Eliteschule für den NS-Führungsnachwuchs.) Als Mitte der fünfziger Jahre die Bundeswehr neu entstand, nahm Georg Sebald seine militärische Karriere wieder auf und brachte es bis zum Oberstleutnant, ehe er 1971 mit sechzig Jahren in den Ruhestand trat. Bis zu seinem Tod im Jahr 1999 führte er mit seiner Frau ein ruhiges Leben in Sonthofen. Er engagierte sich in der Lokal­politik für die SPD (was für einen Bundeswehr-Offizier in einer bayrischen Kleinstadt alles andere als selbstverständ­lich war) und verfolgte mit beträchtlichem Stolz die akade­mische und literarische Karriere seines Sohnes.
 

Der Großvater als Lehrer

W. G. Sebalds Großvater Josef Egelhofer wurde 1872 in Roth an der Roth nahe Tübingen geboren, in einer Kleinbauernfamilie. Egelhofer wuchs in Memmingen auf, ein Stück nördlich von Wertach. Er besuchte nur die Volksschule; danach machte er eine Schmiedelehre. Aber kurz nach der Jahrhundertwende fand er Arbeit als Dorfgendarm in Wertach und blieb auf diesem Posten bis zu seiner Pensionierung. Im Jahr 1905 heiratete er Theresia Harzenetter. Das Paar hatte vier Kinder, die alle in Wertach auf die Welt kamen, einschließlich Rosi, der Jüngsten, der späteren Mutter W. G. Sebalds. Die wirtschaftliche Not der zwanziger Jahre zwang drei der vier Kinder zu emigrieren. (Rosi wäre ihren Geschwistern gerne in die Vereinigten Staaten gefolgt, muss­te aber als letztes Kind bei den Eltern bleiben.)

Josef Egelhofer hatte zwar lange Dienstzeiten, aber die Arbeit war relativ einfach. Er patrouillierte zu Fuß durch sein Revier und prüfte die Papiere der zahlreichen Landstreicher, die durchs Dorf kamen. An Samstagabenden bezog er Posten im Dorfwirtshaus, um die betrunkenen Bauern von ihren Schlägereien abzuhalten.

Trotz seiner eingeschränkten formalen Schulbildung war Egelhofer ein neugieriger und humorvoller Typ; besonders interessierte er sich für die Welt der Natur. Er führte einen Bauern-Alma­nach, in dem er den Wechsel der Jahreszeiten und die Mondphasen festhielt, aber auch Geburtstage und andere wichtige Ereignisse in der Gemeinde. Mit seinem langen Uniformmantel und seinem großen Schnauzbart war er eine ansehnliche Gestalt, und gemein­sam mit dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Lehrer gehörte er zur Dorf-Prominenz: Man kannte und grüßte ihn.

Auch nach der Pensionierung hielt er seine Gewohnheit aufrecht, jeden Tag drei, vier Stunden lang durch die Gegend zu wandern; im Dorfwirtshaus kehrte er für ein Bier oder ein Kartenspiel ein; zum Abendbrot war er wieder daheim. Seine Enkelin, W. G. Sebalds ältere Schwester, erinnert sich an ihn als einen milden Mann und begabten Pädagogen; er brachte ihrem Bruder die Namen von Pflanzen und Blumen bei, machte ihn mit den unterschiedlichsten Dorfbewohnern bekannt und lehrte ihn die Wetter­vorhersage aus der Beobachtung atmosphärischer Veränderungen. Gemeinsam sammelten Großvater und Enkel Heilkräuter, die er sorgfältig beschriftet in kleinen Gläsern in der Küche aufbewahrte. Der Großvater brachte dem kleinen Sebald auch das Lesen bei, indem er dieselben Geschichten so oft wiederholte, bis der Enkel sie in- und auswendig konnte.


Ein Herzfehler als Familien-Erbteil

Georg Sebald und Josef Egelhofer waren ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, auch in ihrer physischen Erscheinung. W. G. Sebalds Vater war stämmig und untersetzt und hatte ein rundes Gesicht. Der Großvater war groß gewachsen und knochig. Bedeutsamer noch war die Art und Weise, wie Sebald, als er älter wurde, die Unterschiede zwischen beiden verfeinerte und zuspitzte. Ähnlich wie Franz Kafka zwischen den koscheren Fleischern und aggressiven Händlern auf der Vaterseite und den Rabbinern und Landärzten mütterlicherseits unterschied, zog auch Sebald eine scharfe Grenze zwischen der soldatischen Linie väterlicherseits und der friedfertigen Familientradition mit ihren Emigranten auf der Egelhofer-Seite.

Sebalds Großvater väterlicherseits hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft. Egelhofer hingegen hatte nie als Soldat gedient: Wegen eines Koronar-Defekts war er vom Kriegsdienst freigestellt. Sebald hatte diesen Herzfehler geerbt und war deshalb in den sechziger Jahren vom Wehrdienst befreit. Vermutlich war auch ein Herzinfarkt, den Sebald während einer Autofahrt in Norfolk erlitt, die Ursache für den tödlichen Verkehrsunfall im Dezember 2001.


Vertreibungsgeschichte der Moderne

Als er bereits einige Jahre in England gelebt hatte, begann sich Sebald mit den Zusammenhängen zwischen seiner eigenen Emigration und der Egelhofer’schen Familientradition der Auswanderung in die USA zu beschäftigen. Durch die militärische Karriere seines Vaters war er ja einerseits der deutschen Aggression als seinem Erbteil verhaftet; nun begann er sich andererseits über die mütterliche Linie an die vertriebenen Opfer der Geschichte imaginativ anzuschließen. In der «Ambros Adelwarth»-Erzählung in «Die Ausgewanderten» macht er beispielsweise aus seinem (fiktiven) Großonkel den Butler und lebenslangen Gefährten eines reichen amerikanischen Juden, der in geistiger Umnachtung stirbt, heimgesucht von grässlichen Visionen von den Schlächtereien des Ers­ten Weltkriegs, die ihrerseits wiederum an die Nazi-Gräuel erinnern.

Gerade diese Verbindung hat Sebalds deutsche Leser oft verstört. Der Autor wurde beschuldigt, er maße sich an, sich mit den jüdischen NS-Opfern zu identifizieren – so, als gehöre er selbst zu den ins Exil Getriebenen. Der Einwand trifft nicht zu, denn Sebald hat den Unterschied zwischen den Verfolgungen und Exilierungen während der Nazi-Zeit und seiner eigenen freiwilligen Emigration in der Nachkriegszeit nie aus den Augen verloren. Sein ganzes Werk ist vielmehr diesem historischen Unterschied gewidmet – es zollt der Erinnerung daran beredt Tribut.

Zugleich freilich suchte Sebald für sich selbst nach Anknüpfungspunkten und Kontinuitäten. Seinem Prosaband über vier alternde Männer im «Exil» gab er bewusst den so vieldeutigen wie antiquierten Titel «Die Ausgewanderten», denn darin ließ sich auch die Emigrationsgeschichte seiner eigenen Familie mit unterbringen. Die Judenvertreibungen im «Dritten Reich» sind nur ein, wiewohl der zentrale Teil im breiten Spektrum der modernen Vertreibungsgeschichte. Diese reicht zurück bis zur Französischen Revolution (mit einer deutlichen Anspielung auf Goethes «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten») und umfasst auch die Emigration jüdischer und deutscher Wirtschaftsflüchtlinge aus Mitteleuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sebalds semi-autobiogra­fisches literarisches Œuvre ruht demnach auf den Fundamenten einer doppelten Identität: Als Sohn eines Wehrmachtsoffiziers legt Sebald Zeugnis ab für die Opfer deutscher Gewaltherrschaft; aber als Angehöriger der nicht-militärischen Emigrantenfamilie seines Großvaters kann er sich mit diesen Opfern existenziell identifizieren.
 

Ein Moment der Erleuchtung in Breendonk

Auch wenn man Sebalds Werk als semi-autobiografisch charakterisiert, gibt es doch zahlreiche Beispiele dafür, wie er «autobiografische» Details strategisch einsetzt, um, vor allem in der Konfliktgeschichte mit seinem Vater, diesem gegenüber polemisch und politisch zu punkten. Ein Beispiel aus «Austerlitz», seinem letzten Buch, macht dies anschaulich.

Im Sommer 1967 besucht der Ich-Erzähler die Festung Breendonk in Flandern, in der die SS während des Krieges Mitglieder des belgischen Widerstands folterte. Dem Erzähler schießen schreckliche Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf. Zum ersten Mal erkennt er, dass er einen persönlichen Bezug zu diesen historischen Gräueltaten hat, wurden diese doch begangen von «Familienvätern und guten Söhnen aus Vilsbiburg und aus Fuhlsbüttel, aus dem Schwarzwald und aus dem Münsterland, wie sie hier nach getanem Dienst beim Kartenspiel beieinander saßen oder Briefe schrieben an ihre Lieben daheim, denn unter ihnen hatte ich ja gelebt bis in mein zwanzigstes Jahr».

Als er tiefer in die Kasematten der Festung Breendonk eindringt, erlebt der Erzähler einen Proust’schen Augenblick von «wiedergefundener Zeit», allerdings in besonderer deutscher Verkleidung. Plötzlich steigt in ihm – «aus der Untiefe» – eine verschüttete Kindheitserinnerung aus «W.» auf: das Bild des Dorf-Metzgers in seinem Gummischurz, «wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch»: «Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind.»

Die Erinnerung an den Dorf-Metzger – der sehr wohl einer von jenen «guten Söhnen und Familienvätern» gewesen sein könnte, die an Orten wie Breendonk in der SS dienten – führt den Erzähler direkt zur Erinnerung an seinen eigenen Vater: «Aber ich weiß noch, daß mir damals ein ekelhafter Schmierseifengeruch in die Nase stieg, daß dieser Geruch sich, an einer irren Stelle in meinem Kopf, mit dem mir immer zuwider gewesenen und vom Vater mit Vorliebe gebrauchten Wort ‹Wurzelbürste› verband.»


Robert Walser als Spiegelung des Großvaters

In der Figur des «bösen» soldatischen Vaters verschmelzen die häuslichen Kindheitserinnerungen des Autors mit den schlimmsten Verbrechen der deutschen Geschichte; in direktem Gegensatz dazu steht die sanfte und friedfertige Gestalt von Sebalds Großvater. Wir sehen ihn beispielsweise, wie er sich im Kapitel «Il Ritorno in Patria» des Enkels annimmt und ihn in feuchte Tücher wickelt, als dieser von einem lebensbedrohenden Fieber befallen wird.

In «Logis in einem Landhaus», Sebalds letztem und sehr persönlichem Essayband, lässt sich seine Neigung, das Leben in Literatur kippen zu lassen, gut studieren. Der Autor beschreibt da­rin seinen Großvater als eine Art literarischen «Wegweiser», als jenen Menschen, der ihm in Sprache und Empfindsamkeit die Türe zu den Regionalschriftstellern des 19. Jahrhunderts aus dem «tiefen Süden» öffnete – zu Johann Peter Hebel, Gottfried Keller und Adalbert Stifter. Und in seinem Essay über Robert Walser, den promeneur solitaire, meditiert er eingehend über die Ähnlichkeiten zwischen seinem Großvater und dem Schweizer Erzähler, was Aussehen, Kleidung und Alltagsgewohnheiten angeht. Beide sind im Jahr 1956 gestorben – Egelhofer nach einem letzten April-Schneefall, Walser während eines Abendspaziergangs am 25. Dezember. «Vielleicht sehe ich darum den Großvater heute, wenn ich zurückdenke an seinen von mir nie verwundenen Tod, immer auf dem Hörnerschlitten liegen, auf dem man den Leichnam Walsers, nachdem er im Schnee gefunden und fotografiert worden war, zurückführte in die Anstalt.»

Womöglich noch aussagekräftiger als diese ausdrücklichen Huldigungen sind die indirekten Erzählmethoden, die Sebald anwandte, um die Beziehung zu seinem Großvater in sein Werk eingehen zu lassen. Überall findet man Fragmente und Bruchstücke aus Egelhofers Biografie. So leidet beispielsweise der Lehrer Paul Bereyter in «Die Ausgewanderten» als alter Mann an einem Herzfehler.

Einen eindrucksvollen, wiewohl geschickt camouflierten Auftritt hat der Großvater in «Dr. Henry Selwyn», der Eingangserzählung der «Ausgewanderten». Darin beschreibt der Protagonist, wie er sich einst als junger Medizinstudent plötzlich stark, aber nicht erotisch zu einem älteren Schweizer Bergführer namens Johannes Naegeli hingezogen gefühlt habe. Überallhin sei er mit Naegeli gewandert, berichtet Selwyn dem Erzähler, «und er habe sich nie in seinem Leben, weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes». Auch Selwyn hat zwei Väter – sein leiblicher Vater ist ein litauischer Jude, sein «adoptierter» Vater eben jener Schweizer Bergführer. Naegelis Todessturz in eine Gletscherspalte treibt Selwyn in eine tiefe Depression.

Es fiele schwer, in diesem Portrait des alten Bergführers nicht eine Hommage zum Gedenken an Sebalds eigenen ersten Wandergefährten und Naturführer zu erkennen, an Josef Egelhofer. Man wird sogar behaupten können, dass Sebald seine Beziehung zu seinem Großvater in die narrative Struktur von «Austerlitz» und «Die Ausgewanderten» selbst eingeschrieben hat. In beiden Prosa­büchern schließt sich ein junger Erzähler an einen älteren, erfahrenen Mann an, dessen Lebensgeschichte eine besondere Bedeutung für ihn hat. Dr. Henry Selwyn, Paul Bereyter, der Maler Max Aurach, Jacques Austerlitz – in all diesen literarischen Figuren finden wir das gleiche zurückhaltende, lebenskluge, sanftmütige und ein wenig altmodische Wesen, das Sebald an seinem Großvater liebte.    (Übersetzung aus dem Amerikanischen: die Redaktion)

 

Mark M. Anderson ist Professor für Deutsche Literatur an der Columbia University in New York City.

 

Bücher von und über W. G. Sebald

Winfried Georg Sebald
Nach der Natur. Ein Elementargedicht
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2004. 100 S., 6,90 €
Schwindel. Gefühle
Fischer TB, Frankfurt a. M. 1994. 298 S., 9,90 €
Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2006. 368 S., 9,95 €
Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt
Fischer TB., Frankfurt a. M. 1997. 349 S., 9,90 €
Austerlitz
Hanser, München 2001. 424 S., 23,50 € (als Fischer TB 9,90 €)
Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2003. 192 S., 9,90 €
Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch
Hanser, München 1999. 168 S., 17,90 € (als Fischer TB 9,90 €)
Campo Santo
Hanser, München 2003. 272 S., 19,90 € (als Fischer TB 9,95 €)
Unerzählt. 33 Texte und 33 Radierungen
Hanser, München 2003. 80 S., 24,90 €

Heinz Ludwig Arnold (Hg.)
W. G. Sebald
Edition Text+Kritik, Göttingen 2003. 119 S., 14 €

Marcel Atze, Franz Loquai
Sebald. Lektüren
Edition Isele, Eggingen 2005. 440 S., 22 €

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