Italienische Reise - Die Masken der Biberrepublik

Hauptstadt der Dekadenz: Venedig - eine Stadt als Bühne der Künste und des mondänen Lebens

 

In den Jahren um 1900 schrieb der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel drei Essays über italienische Städte: Rom, Florenz und Venedig. Die ersten beiden Essays waren Loblieder auf Formen der Schönheit, in denen tiefe Vergangenheitsschichten und höchste Vollendungen der Kunst, wie zufällig oder einander fremd die einzelnen Elemente ursprünglich auch sein mochten, sich zu einem organischen Ganzen zusammenschließen. Der letzte Essay, der über Venedig, erschien 1907 und war kein Loblied. Er war eine Warnung von der Art, wie sie wenige Jahre später der Held in Thomas Manns Novelle «Der Tod in Venedig» in den Wind schlagen sollte. Allerdings warnte Georg Simmel nicht vor der Cholera, sondern vor einer Stadt der Lüge, in der die «Ablösung des Scheins vom Sein» zur Vollkommenheit getrieben war, die Kunst zur reinen Künstlichkeit erstarrt, alle Schönheit nur Fassade, eine Oberfläche, hinter der alles Leben längst erstorben ist. Nicht nur über die Paläste, die ihr Inneres preziös verschleiern, und über die Brücken, die gar keine wahren Brücken sind, weil die Gassen nahezu absatzlos über sie hinweggleiten, herrscht die «lügenhafte Schönheit der Maske», sondern auch über die Menschen: «Alle Menschen in Venedig gehen wie über die Bühne: in ihrer Geschäftigkeit, mit der nichts geschaffen wird, oder mit ihrer leeren Träumerei tauchen sie fortwährend um eine Ecke he­rum auf und verschwinden sogleich hinter einer anderen und haben dabei immer etwas wie Schauspieler, die rechts und links von der Szene nichts sind.»

Alle Menschen. Wirklich alle? Georg Simmel moch­te wissen, dass in Venedig, das er hier beschrieb, als führe darin allein der ins Fin de Siècle versetzte Casa­nova sein Lebensdrama auf, die Handwerker und Kaufleute, die kleinen und großen Geschäftemacher nicht ausgestorben waren und dass auch die Hoteliers ihr Gewerbe wenig träumerisch betrieben. Aber es ging ihm ums Prinzip. Es scheint, als wollte er den potenziellen Gästen der Hoteliers ein Gegengift verabreichen – gegen ihre Sehnsucht, einmal über den Canal Grande hinweg, an den Palästen vorbei, bis zur Piazzetta zu gleiten: «Jedes innerlich wahre Kunstwerk, so phantastisch und subjektiv es sei, spricht irgendeine Art und Weise aus, auf die das Le­ben möglich ist. Fährt man aber den Canal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein.»

Zieht man von diesem Bonmot den verhaltenen Ingrimm ab, mit dem Simmel dem falschen Schein von Leben das Urteil spricht, so ist darin eine prägende Erfahrung ganzer Heerscharen von Venedig-Reisenden erfasst: die der Unwahrscheinlichkeit, dass die Augen sehen, was sie sehen. Eine Stadt, die etwas von einer Insel hat und nicht nur wie andere Hafenstädte an der Grenze zwischen Land und Meer liegt; eine Stadt, die so gebaut ist, dass sie diese Grenze durchlässig macht und infrage stellt.


Venedigs Rivalinnen: Brügge, Wien, Antwerpen

In Reinform macht diese Erfahrung, wer sich Venedig von der Lagune her, über das Wasser hinweg nähert, aus dem er die Silhouette der Stadt, das tausendfach gesehene Bild, plötzlich leibhaftig auftauchen sieht. Die Lagune, das nicht offene Meer, ist die Voraussetzung der Grenzverwischung, sie ist in der Mythologie Venedigs die stille, schützende Mutter der aus dem Wasser wachsenden Stadt. Die Lagune, die über Jahrhunderte hinweg durch Deiche und Regulierungskanäle zu sichern war, verbindet Venedig mit dem Meer wie mit dem Land, der terra ferma, deren Flüsse in sie münden: Und weil sie aus der Lagune aufzusteigen scheint, liegt die Vorstellung nahe, die pfahlgestützte Stadt könne auch in ihr versinken. Beide Bilder sind in der Mythologie Venedigs hinge­bungsvoll ausgemalt worden: das strahlende Auftauchen zum ewigen Fest der Sinne ebenso wie der Untergang eines südlichen Vineta.

Es gab um 1900 Rivalinnen um den Ruf als Hauptstadt der europäischen Dekadenz, auf deren Lust an Künstlichkeit und Zweideutigkeit Georg Simmel zielte, als er die Schönheit attackierte. Das belgische Brügge, die alte Handelspartnerin Venedigs, spielte mit dem Tod; und Wien, die Hauptstadt des Habsburgischen Reiches, dem Venedig zufiel, als es, von Napoleon erobert, seine Selbständigkeit verloren hatte, wurde Versuchsstation für den Weltuntergang. Aber gegenüber den Rivalinnen hatte Venedig die älteren Rechte. Schon als im 16. Jahrhundert die Niederlande zur Weltmacht aufstiegen, und vollends im 18. Jahrhundert war es zur Spezialistin des Niedergangs, des hinhaltenden Widerstands gegen die Geschichte geworden. Früh hatte es seinen Zenit als Handelsmetropole und Herrscherin über die Verkehrswege und Warenströme im Mittelmeerraum erreicht, früh hatte es die Erosion der Macht erfahren.

Als nach dem verheerenden Brand des Dogen­pa­las­tes im Jahre 1577 nahezu alle Innenräume neu ausgemalt werden mussten, war das allegorische Thema für die Dekoration des großen Senatssaals noch «Der Triumph Vene­digs». Aber schon einige Jahrzehnte zuvor hatte der vene­zianische Gesandte Marino Cavalli in seinem Bericht von einer Reise in die Niederlande lapidar formuliert: «Ich trage Trauer, denn ich sah Venedig von Antwerpen überflügelt.»

Mit der triumphalen Rückkehr Vasco da Gamas nach Lissabon im Jahre 1498 hatte der Aufstieg des atlan­tischen Raums auf Kosten des Mittelmeeres, des alten europäischen Zentrums des Welthandels, begonnen. Nicht, dass dies eine plötzliche Zäsur, ein schnell spürbarer Einbruch gewesen wäre. Das Mittelmeer blieb leben­dig, pulsierend, mochte gar von der atlantischen Erweiterung des Handels auch profitieren. Aber der Zug nach Westen ging nicht über Venedig, sondern begünstigte Genua, die alte Rivalin.

Venedig verdankte seinen Aufstieg zur Handels­metropole entscheidend dem östlichen Mittelmeer und dem Austausch mit dem Orient. Die Stadt hatte auch im 16. Jahrhundert noch ihre blühenden Geschäftszweige: Sie hatte moderne Seiden- und Wollmanufakturen, hatte ihre Glasmacher und war ein Zentrum des Buchdrucks; aber mit der Aufwertung des westlichen Mittelmeeres verlor Venedig seine alte Zentralstellung an Genua, das mehr und mehr von seinen spanisch-amerikanischen Verbindungen profitierte. Und zugleich sah sich Venedig in seinem angestammten Herrschaftsbereich, dem östlichen Mittelmeer, mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches konfrontiert. Seit dem Fall Konstantinopels musste es, auch dies nicht schlagartig, aber doch spürbar, zahlreiche Handelsrechte und Stützpunkte im östlichen Mittelmeer an die Osmanen abtreten. In der europäischen Politik des 18. Jahrhunderts mit ihren Erbfolgekriegen und wechselnden Koalitionen spielte die Republik Venedig allenfalls noch eine Nebenrolle.


Aufstieg zur ästhetischen Großmacht

Im Rückblick liegt hier der Schlüssel für die Allgegenwart Venedigs in den Künsten der Moderne. Die Stadt war die alteuropäische Avantgarde der Durchdringung von Nie­dergang und Kunstblüte. Venedig mochte seine ökonomische Zentralstellung einbüßen und an politischem Gewicht verlieren, aber sein ästhetisches Kapital wurde nicht angegriffen. Im Gegenteil. Früh wurden der politische und ökonomische Bedeutungsverlust Venedigs von seinem Aufstieg zur ästhetischen Großmacht überlagert. Wie es in seiner Physiognomie als Zwitterwesen die Grenze zwischen Land und Meer aufhob, so wurde Venedig, dessen Karneval früh die Reisenden anzog, zur Hauptstadt der Grenzverwischung zwischen Fest und Alltag, Maskerade und Geschäft, Ernst und Spiel. Aus dem mondänen Vergnügungsetablissement der alteuropäischen Aristokratie, der Gesandten und der Reisenden auf Grand Tour ging das Zentrum des Massentourismus der modernen Weltgesellschaft hervor.

Die alten Zeremonien und Regularien der Republik blieben im Wesentlichen erhalten, die feierliche Vermählung des Dogen mit dem Meer zählte zu den großen Attraktionen des Festkalenders, die berühmte Stabilität der inneren Ordnung und der außenpolitische Neutralitätskurs stützten einander auch bei der Annäherung an das politische Abseits; und ebenso verlässlich anwesend waren die berühmten Sbirren und Häscher der venezianischen Inquisition. Giacomo Casanova, der weit mehr war als ein Frauenheld, hat in seiner auf Französisch verfassten «Geschichte meines Lebens» und in seinem Bericht über seine Flucht aus den «Piombi», den Bleikammern, von beidem berichtet – vom Dahinvegetieren im Kerker ohne greifbares Tribunal, ohne formelle Anklage und ohne ein Verfahren; und von der europäischen Hauptstadt des Theaters und der Spielsäle, der Kurtisanen und aristokratischen Salons. Zur Mimikry mit dem galanten französischen Roman, die er in seinen Memoiren betrieb, gehörte, dass er den realen französischen Gesandten, den Schriftsteller und Politiker Abbé de Bernis, als seinen Gefährten in der frivolen Episo­de über die Liebesabenteuer mit den Nonnen von Mura­no auftreten ließ.

Kaum einmal schildert Casanova, der gebürtige Venezianer, die Fassaden der Paläste, in die er als Emporkömmling Eingang findet. Für die Stadtlandschaft hat er so wenig Augen wie für die Natur. Allzu sehr ist er Gesellschafts­wesen, Abenteurer, der auf der Hut sein muss, als Ausgangspunkt oder Opfer von Kabalen. Der Empfänglichkeit für die erotische Intrige steht die Wachsamkeit gegenüber der politischen Intrige an der Seite. Steht für die eine der französische Liebesroman als literarisches Modell bereit, so für die andere das Amalgam aus Kabale und Kolportage. Die Allgegenwart der Masken begünstigt in beiden Fällen das Auftreten von Figuren, die sich die Vorteile von Anonymität und Inkognito zunutze machen.


«Biberrepublik» und Geheimbund-Metropole

Venedig, das zudem nahezu lautlos gleitende Gondeln sowie einen labyrinthischen Stadtraum anzubieten hat, avanciert im 18. Jahrhundert zur literarischen Hauptstadt der Geheimbünde, Scharlatane und Verschwörungen. Mit dem ihm eigenen Gespür für die atmosphärischen Valeurs seiner Schauplätze hat Friedrich Schiller seine leider Fragment gebliebene Erzählung «Der Geisterseher» (1787–1789) in Venedig angesiedelt, das er nie besucht hat, mit dessen Geschichte und Topografie er aber durch seine historischen Studien vertraut war. Ein deutscher Reisender, der protestantische Prinz von O., gerät darin in eine jesuitische Verschwörung, in deren Mittelpunkt eine dem historischen Abenteurer Cagliostro nachgebildete Abenteurer-Figur steht. Schiller verlegt sein Komplott um eine Thronfolge, das mit Anspielungen auf den Sohn des regierenden württembergischen Fürsten durchsetzt ist, nicht etwa deshalb nach Venedig, weil es eine Stadt der Frömmigkeit wäre. Vielmehr stellt es für ihn den idealen Ort dar für das erzählerische Labyrinth aus Billetts und Gegenbilletts, anonymen Masken und dubiosen Kar­dinälen, Inquisition und Denunziation, Spielschulden und Kabale.

Katholische Pilger auf dem Weg nach Rom sind die markantesten Mitreisenden in der Schilderung, die Goethe in der «Italienischen Reise» von seiner Annäherung an Venedig Ende September 1786 gibt. Von Padua kommend, fuhr er die Brenta hinab, an den Villen vorbei, deren eine Schiller seinen Prinzen von Venedig aus besuchen lässt. In Goethes Portrait der «Biberrepublik» geht das Vertrauen in deren physische Stabilität ein. Auch ihm erscheint die Stadt als Labyrinth, aber es entbehrt aller klaustrophobischen Züge, zumal Goethe auch hier, seiner Gewohnheit folgend, auf einen Turm steigt – den Cam­panile von San Marco –, um sich rasch einen Überblick zu verschaffen. Er besucht Theateraufführungen, Gerichtsverhandlungen, genießt die Ausflüge zu Wasser, etwa zum Lido, macht sich auch in begrenztem Umfang Notizen zu Gebäuden – etwa dem Dogenpalast – und zu einzelnen Kunstwerken. Aber am Ende bleibt ihm die «wunderbare Inselstadt» doch Episode und Zwischenstation auf dem Weg nach Rom, nicht anders als den frommen Pilgern. Er strebt, anders als diese, dem antiken Rom entgegen, dem Rom Winckelmanns, der Statuen und des noch sichtbaren Altertums. Die Rom-Zentrierung der klassischen Italienreise mochte durch die Aufenthalte in Neapel und Sizilien gelockert sein, aber noch beherrschte sie den Grundriss des Ganzen.

Die Prachtgaleere ist verbrannt

Als Goethe sein Tagebuch der Italienreise schrieb, existierte die Republik Venedig noch. Als er in den ersten Monaten des Jahres 1814 für die Buchausgabe der «Italienischen Reise» die Abschnitte bis zur Ankunft in Rom redigierte, war die Republik untergegangen. Bei der Übernahme der Stadt durch die napoleonischen Truppen 1797 war der kostbar dekorierte Bucentoro verbrannt, das letzte, 1728 gebaute Pendant zum Begriff des Staatsschiffes, das Goethe noch gesehen und als «Prachtgaleere» beschrieben hatte.

Was Goethe aussparte, um seine Reise in der noch vorrevolutionären Welt belassen zu können, ist in wunderbarer Detailfülle und zugleich in einem großen epischen Bogen in Ippolito Nievos Roman «Bekenntnisse ei­nes Italieners» (1859–67) erschienen (siehe „Literaturen” 12/2005). Den achtzigjährigen Erzähler, der darin die Brücke schlägt von der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts in die Zeit des Risorgimento, hat ein junger, früh verstorbener Autor erfunden, der selbst nicht mehr erleb­te, wie Venedig nach 1866 von Österreich entlassen und in den jungen italienischen Nationalstaat eingegliedert wurde. In diesem Buch voller Romanzen und Anwälte, voller resignierter Philosophen, zynischer Kleriker und nie­derbrechender Institutionen ist der Untergang des alten Venedig mit so viel Verachtung und Trauer zugleich geschildert wie nirgends sonst. Venedig ist hier das Opfer seiner Eliten und geht an deren Unfähigkeit zu geistes­gegenwärtiger Politik zugrunde. Der Nachbar, mit dem es sich messen muss, ist nicht mehr Florenz oder Rom, sondern das Mailand der cisalpinischen Republik. Es ist vielleicht auch deshalb ein so umfangreiches Buch gewor­den, weil diesem lichten Roman voller Witz und weltli­cher Leidenschaft, ohne dass sein Verfasser es ahnen konnte, eine besondere Aufgabe in die Wiege gelegt war: Er sollte ganzen Bibliotheken die Waage halten, in denen allein die Lust am Untergang, an Ruinen, am Zerbröckeln und Versinken in fiebriger Atmosphäre regierte.


Ein Hotel, als Kulisse erbaut

Als Lord Byron und sein Dichterfreund Shelley 1818 mit den Pferden, die der Lord auf den Lido hatte bringen lassen, über die noch leeren Sandbänke galoppierten, war der Aufstieg Venedigs zur ästhetischen Großmacht schon sehr weit fortgeschritten. In Byrons autobiografisch gefärbtem Versepos «Childe Harold’s Pilgrimage» gab es noch den Weg von Venedig nach Rom – aber Venedig war keine Station mehr und Rom nicht das unangefochtene Zentrum. Fortan bildeten in einer Ellipse mit zwei Brennpunkten Rom und Venedig die Pole einer Spannung, in der klassisch-antiker und romantisch-moderner Geist eine widersprüchliche Einheit bildeten. In Byrons poetischem Universum ist das untergegangene Venedig ästhetisch so produktiv wie bei Goethe der klassische Boden Roms.
 

Nach Byrons und Shelleys Ausritten über den Lido dauerte es nur noch eine Generation, bis hier die ersten Badeanstalten errichtet wurden. Venedig wuchs als spezifisch moderne Attraktion das mondäne Strandleben zu, um 1900 rückte es auf der Landkarte der Literatur an die Seite von Marcel Prousts Balbec. Über die Tausendundeine-Nacht-Brücke waren die beiden Orte verbunden, nur hatte Venedig, nach dem sich Prousts Marcel sehnt, dem Bad in der Normandie voraus, dass es zwei Attraktionen ineinanderfließen lassen und den Reiz einer Seereise mit dem eines Freiluftmuseums verknüpfen konnte. Im Jahr 1907, als Georg Simmels Essay erschien, wurde das monu­mentale, im maurisch-orientalischen Stil errichtete Hotel Excelsior eröffnet, gegen das Rainer Maria Rilke wütete, als eines jener Häuser, die «aussehen, als ob sie dreißig Häuser verschluckt hätten». Das «Grandhotel des Bains», das Thomas Mann zum Hintergrund von «Der Tod in Venedig» machte, schloss Rilke in seinen Unmut ein. Es gab schon die Anfänge des Kinos, als die Novelle 1912 in Samuel Fischers Zeitschrift «Neue Rundschau» erschien. Das schon als Kulisse erbaute Hotel musste nur noch zwei Generationen warten, bis es zur Filmkulisse wurde.

Warum jeder Venedig-Film wie ein Remake wirkt

Die Heimat der Verführer hatte schon viele Künste verführt, ehe auch der Film ihr erlag. Die Malerei, das Theater und die Literatur hatten den Kinobildern seit Jahrhunderten vorgearbeitet. Es war nicht das Kameraauge, das den Dunst und Nebel über der Lagune und das Licht Venedigs entdeckte, es waren nicht die Aufnahmeleiter, denen es seine Kanäle, Brücken und Plätze zuerst als Location anbot. Spätestens in den Veduten Canalettos ist Venedig zur Kulisse erstarrt, schon in den Memoiren Ca­sanovas war sein Charme als Bühne der Abenteuer und des Maskenspiels voll entfaltet. Jeder Venedig-Film hat etwas von einem Remake der älteren Künste. Und schon im 18. Jahrhundert führte die Reise nach Venedig nicht anders als die nach Rom in eine aus Reiseberichten und durch die älteren Bildmedien, vor allem den Kupferstich, vertraute Welt.

Gleich am Tag nach der Ankunft hält Goethe fest: «Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will, ich sage nur wie es mir entgegen kömmt.» Sein eigener Vater hatte eine italienische Reise drucken lassen, und kaum sieht der Sohn, aus der Brenta in die Lagune einfahrend, die erste Gondel, entsinnt er sich eines der Reise-Andenken Johann Caspar Goethes: «Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell, er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen lang entbehrten freundlichen Jugendeindruck.»

Die Gondeln waren, wie sich nicht nur bei Goethe, sondern auch bei Casanova zeigt, im 18. Jahrhundert noch nicht an die feste Kette der Todesassoziation gelegt. Der Sarg war nur eines der Bilder, die sie heraufriefen, die schaukelnde Wiege lag ebenso nahe, und ein rasches, wendiges Fortbewegungsmittel waren sie ohnehin. Genealogische Ketten, wenn auch nicht immer zwischen leiblichen Vätern und Söhnen, verbinden die Reiseberichte durch die Generationen, ob es um die Gondeln geht oder den Lido, die Friedhofsinseln oder den Dogenpalast, die Katzen oder die Tauben. Wer in Wolfgang Koeppens Nachlass stöbert und dort in den Fragmenten seines ungeschriebenen Buches über Venedig blättert, wird nicht nur Ezra Pound und Richard Wagner begegnen, sondern vor allem und immer wieder Goethe.

Mehrfach spielt Koeppen auf eine in der Tat charak­teristische Passage an, die aus dem Canal Grande in die Lagune hinausführt: «Nachdem ich müde geworden, setzte ich mich in die Gondel, die engen Gassen verlassend, und fuhr, mir das entgegengesetzte Schauspiel zu bereiten, den nördlichen Teil des großen Canals durch, um die Insel der heiligen Clara, in den Lagunen, den Canal der Giudecca herein, bis gegen den Markusplatz, und war nun auf einmal ein Mitherr des Adriatischen Meeres, wie jeder Venetianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines Vaters in Ehren, der nichts besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen. Wird mir’s nicht auch so gehen? Alles was mich umgibt, ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks. Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr Handel geschwächt, ihre Macht gesunken ist, so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Dasein hat.»


Die Farbenpracht von San Marco

Es war nicht irgendein ästhetisches Prinzip, dem der Aufstieg Venedigs zur Metropole der Künste folgte. Es war das Prinzip der Unterminierung des Klassizismus, der Herausforderung der festen Formen, der Stabilität der Dinge, der Verlässlichkeit der Welt. Goethe freilich suchte in Venedig nach den Spuren Andrea Palladios, des Anwalts der Antike und des Vitruv in der modernen Welt. Die Architektur des Dogenpalastes, das Byzantinische und Gotische, nahm er eher distanziert wahr. Über San Marco heißt es im Tagebuch an Frau von Stein: «Die Markus Kirche muß in einem Kupfer von dir gesehen werden, die Bauart ist jeden Unsinns werth, der jemals drinnen gelehrt oder getrieben worden seyn mag.»

Im 19. Jahrhundert aber wurde das Byzantinisch-Maurische an der Architektur Venedigs mit geradezu
mi­k­roskopischer Präzision ins Auge gefasst. John Ruskin opferte in seinen «Stones of Venice» (1851–53) den Panora­­mablick, der über die Stadtlandschaft und das Wasser gleitet, zugunsten der Nahsicht auf Häuserecken, Ornamente und die Konstruktionsdetails von Dachfirs­ten, Türen, Fenstern. So wird, Schritt für Schritt und in ständigem Lob des alten Handwerks, Venedig zur Kronzeugin gegen die Alleinherrrschaft der Antike und der Renaissance. Und wenn man liest, wie Ruskin Glasmalereien, Mosaike, Jaspis und Alabaster, Porphyr und Gold beschreibt, so wird schnell klar, wem seine Prosa huldigt: der Farbe – «wenn sich der Leser nichts aus Farbe macht, so muß ich ihm das Recht bestreiten, sich irgend ein Urteil über San Marco zu bilden».

Das proklamierte Eigenrecht der Farbe gegen­über der Zeichnung, die im Klassizismus stets den Vorrang gehabt hatte, war ein Leitmotiv, wenn «das Moderne» in der Malerei eingefordert wurde. Schon in der Renaissance hatte die venezianische Malerei das Kolorit gegenüber der Zeichnung aufgewertet, im Venedig des 18. Jahrhunderts, der Welt Casanovas, war Francesco Guardi ein Vorläufer der Pariser Maler des modernen Lebens um Manet. Die Maler und Kunstkritiker des Impressionismus schätzten die venezianische Malerei, von William Turner bis Whistler und Monet wurden die Venedig-Bilder immer ungreifbarer, immer chimärischer. In Venedig schien das Verschwimmen der Konturen im Bildraum, wie kalkuliert es auch betrieben wurde, nur die Lichtspiele über den Kanä­len und der Lagune zu wiederholen. Und wann immer man ein modernes Buch über Venedig aufschlägt: nie ist es weit vom Aufschwung und Fest der Farben zum Lob der Musik, der süßen Stimmen, der Oper.
 

Marcel Proust und «O sole mio»

Ein Vorläufer des Abbé Bernis in der französischen Gesandtschaft in Venedig, der Gesandtschaftssekretär Jean- Jacques Rousseau, hatte 1743/44 in Venedig die Chöre der Waisenhäuser gehört und die Hingabe dieser Stimmen polemisch mit dem Vergnügungsfuror der zeitgenössischen Opernbesucher konfrontiert. Damit hatte der Kritiker der Masken, des Theaters und der Frivolität die Musik um ihrer selbst willen isolieren wollen. Er war damit auf dem Weg zum modernen Konzert, in dem das Publi­kum konzentriert und schweigend zuhört, statt im Zuschauerraum Konversation zu betreiben.

Das ist aber nur die eine Seite der Allgegenwart der zu sich selbst kommenden Musik in der Mythologie Venedigs, die Seite, die auf Richard Wagner zuläuft, der hier gestorben und begraben ist. Die andere Seite wird, und das liest man nicht ohne Ironie, in Marcel Prousts großem Roman greifbar, wo der Held nach Venedig reist und als eine seiner prägenden Erfahrungen die Bekanntschaft mit dem Schlager «O sole mio» mit nach Hause nimmt. Es ist kein altes Volkslied, sondern ein komponierter Schlager, und er kriecht nicht zufällig als endlos sich windender Ohrwurm durch das Innere Marcels: Auch die frühe Grammofonaufnahme mit Enrico Caruso, die den Schlager populär machte, ließ sich endlos wiederholen.

In diesem Auseinanderklaffen zwischen zu sich selbst findender und sich im Kitsch verlierender Musik deutet sich eine Spannung an, die alle Künste in der Moderne ergriffen hat, und es ist vielleicht kein Zufall, dass sie in Venedig so tief verwurzelt, so greifbar ist. Denn nur das alte Venedig, das zuallererst Handelsmetropole war, zeigte der atlantischen neuen Welt den Rücken. Das moderne Venedig, das seinerseits tiefe Wurzeln in der Vergangenheit hat, unterhält äußerst enge Beziehungen zum Westen und zur ästhetischen Avantgarde. Es hat nicht nur deren amerikanische Repräsentanten, allen voran Ezra Pound, aufgenommen, es hat zugleich eine seiner alten Traditionen, die Pastiche-Architektur (und sich selbst als Replik dazu) nach Las Vegas exportiert. Es hat seine festen Auftritte in allen Diskussionen über die «Postmoderne», es hat längst seine Kulissen in die industrielle Welt hineingestellt. Und es hat überdies, anknüpfend an die alten Intrigen und Bürokratien, einen jener Kommissare, die neuerdings in den Kriminalromanen als Ermittler und zugleich als Frem­denführer durch ihre Stadt oder Region fungieren. Er heißt Brunetti und ist von der Amerikanerin Donna Leon erfunden worden. All das gibt es nur, weil Venedig hinter allen Masken immer noch die Biberrepublik ist.

 

Lothar Müller lehrt am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität, arbeitet als Literaturkritiker der «Süddeutschen Zeitung» und lebt in Berlin. Er veröffentlichte «Casanovas Venedig. Ein Reiselesebuch».

Bücher über Venedig

Giacomo Casanova
Mein Leben
Aus dem Italienischen von Heinz von Sauter.
Ullstein TB, Berlin 2004. 656 S., 10,50 €

J. W. Goethe
Tagebuch der Italienischen Reise 1786. Notizen und Briefe aus Italien. Mit Skizzen und Zeichnungen des Autors
Hg. und erläutert von Christoph Michel.
Insel TB, Frankfurt a. M. 2004. 401 S., 10 €

Friedrich Schiller
Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O.
Reclam TB, Ditzingen 1996. 242 S., 5 €

Ippolito Nievo
Bekenntnisse eines Italieners. Roman
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Mit einem Nachwort von Klaus Harpprecht.
Manesse, Zürich 2005. 2 Bände, insgesamt 1476 S., 53,80 €

Thomas Mann
Der Tod in Venedig. Novelle
Fischer TB, Frankfurt a. M. 1992. 140 S., 6,95 €

John Ruskin
Stones of Venice
Penguin, London 2001. 272 S., 6,50 €

 

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